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Verhaftungswelle gegen Journalisten

Warum nicht alles, was gut anfängt auch so endet

Feature

Neben dem Rekordwinter kennt die Türkei momentan nur ein Thema: Die massive Verhaftungswelle gegen Journalisten und Akademiker. Führt Premier Erdogan das Land zurück in dunkle alte Zeiten?

Anfang Januar wurde der frühere türkische Generalstabschef Ilker Başbuğ verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, eine terroristische Organisation geleitet und den Sturz der Regierung Erdogan geplant zu haben.

 

Begonnen hatten die Verhaftungen, als 2007 zahlreiche Beweise zum Terrornetzwerk »Ergenekon« ans Licht kamen. Über dessen Existenz hatte man bisher nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. Seitdem kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Bislang wurden mehr als hunderte Angehörige von Militär und Geheimdienst, aber auch Journalisten, Juristen, Intellektuelle und Professoren verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen durch Terroranschläge und Attentate eine Destabilisierung der Türkei geplant zu haben.

 

Auch wenn die Ermittlungen im In- und Ausland zunächst als richtungweisend begrüßt wurden – inzwischen sind viele Türken der Meinung, diese würden zu weit gehen. Ein Beispiel für die immer willkürlicher anmutenden Verhaftungen ist der Fall Nedim Şener. Der Journalist hatte zur Ermordung des armenischen Intellektuellen Hrant Dink geforscht und der Polizei vorgeworfen, von den Plänen des Täters bereits im Vorfeld Kenntnis gehabt zu haben. Schon fast kafkaesk daher der Vorwurf, er selbst sei ein Mitglied Ergenekons.

 

Gemeinsam mit ihm wurde Ahmet Şik verhaftet, auch er Journalist. Şik hatte zur religiösen Gülen-Gemeinschaft geforscht und behauptet, diese hätte die Polizei unterwandert. Sein Buch hält einen traurigen Rekord: es wurde noch vor der Veröffentlichung verboten.

 

Und plötzlich Terrorist

 

Seit ihrer Verhaftung im Frühjahr sitzen Şik und Şener in Haft. Erst am 22. November wurde das Verfahren eröffnet – und kurz darauf vertagt. Verfahren wegen Unterstützung terroristischer Gruppen finden vor Sondergerichten und mit besonderen Regelungen statt: so erhält der Anwalt keine Akteneinsicht und kann daher auch nicht für eine Entlassung aus der Untersuchungshaft argumentieren.

 

Möglich macht solche Verhaftungen das Anti-Terrorgesetz, das 2006 durch eine gemeinsame Initiative der AKP-Regierung mit dem Militär entstand. Die weite Auslegung des Terrorbegriffs macht das Gesetz problematisch: Selbst wer nicht Mitglied einer terroristischen Organisation ist kann juristisch belangt werden. Das kann im konkreten Fall bedeuten, dass Journalisten für ihre Berichterstattung über eine terroristische Organisation oder ein Interview mit deren Mitgliedern mit bis zu drei Jahren Haft belegt werden können. 

 

Der Journalistenverband übt harte Kritik an der Einschüchterung der Journalisten durch die Anti-Terror-Gesetze und ihre rigide Auslegung durch die Justiz. Die Türkei ist traurige Spitze wenn es um vermeintliche Terroristen geht: kein Land verhaftet mehr Verdächtige. Orhan Erinç, der Vorsitzende des türkischen Journalistenverbandes bemerkt dazu ironisch: »Man kann sagen, dass wir in der Türkei regelrecht Terroristen produzieren.« Er fragt aber auch, welche Bedeutung der Begriff im türkischen Kontext überhaupt noch habe, wenn jeder es ohne viel Zutun zum Terroristen schaffen könne.

 

Die Türkei ist 2011 in Bezug auf Pressefreiheit im Ranking der »Reporter ohne Grenzen« um 11 Plätze abgerutscht und landete somit auf Platz 148 von 178. Wer auf seinen Job angewiesen sei, etwa weil er eine Familie zu versorgen habe, so ein Vertreter des Journalistenverbandes, flüchte sich in Selbstzensur. Nur die ganz Idealistischen machen weiter. Mittlerweile allerdings sitzt ein großer Teil der kritischen Journalisten der Türkei bereits im Gefängnis.

 

Gut gebrüllt, Löwe

 

Dabei sind genaue Zahlen kaum zu recherchieren: Der türkische Menschenrechtsverein IHD spricht von 71, die OSZE hingegen von 57 Inhaftierten. 2.000 Gerichtsverfahren sind anhängig und 4.000 Ermittlungsverfahren beschäftigen Polizei und Staatsanwaltschaft, so Amnesty International. Von Regierungsseite gibt es allerdings keine Kritik, vielmehr scheint Premierminister Erdogan Angriff für die beste Verteidigungsstrategie zu halten. »Die Türkei ist Opfer einer Kampagne von Polizistenmördern, Kinderschändern und Putschisten, die sich selbst Journalisten nennen«, so Erdogan in seiner Rede zum 25-jährigen Jubiläum der Zeitung Zaman. Gut gebrüllt, Löwe.

 

Durch sein Verhalten verspielt Erdogan jedoch eine historische Chance der Türkei. Der Regierungsantritt der türkischen AKP Partei 2002 erschien vielen Kommentatoren als Zäsur in der politischen Geschichte des Landes. Das Versprechen, mit der autoritären Kultur des Landes zu brechen, Minderheiten eine Stimme zu geben und eine EU-Annäherung voranzutreiben, brachte ihr auch die Unterstützung vieler europäischer Regierungen und liberaler Kräfte in der Türkei ein.

 

Inzwischen sind fast zehn Jahre vergangen. Vieles hat sich verändert, allerdings nicht nur zum Besseren. Zwar hat sich die Zivilgesellschaft deutlich belebt, kurdisches Fernsehen und Sprachunterricht wurden eingeführt und die Gräueltaten des informellen Geheimdienstes JITEM werden langsam aufgedeckt. Gerade in den letzen zwei Jahren beschnitt die AKP, unter anderem durch eine Verfassungsreform 2010, die Macht des türkischen Militärs massiv – ein Schritt, der von der EU schon lange gefordert wurde. Dies war auch ein Auftakt für die Auseinandersetzung mit einem der dunkelsten Kapitel der Türkei, dem Putsch von 1980.

 

Inzwischen aber halten es viele für treffender, folgende Rechnung aufzumachen: Je länger die AKP an der Macht ist, umso autoritärer gebärdet sie sich. Das frühe Engagement für Pluralismus und Meinungsfreiheit, das die Partei vielen als echte Alternative erscheinen ließ, hat sich abgenutzt. Premierminister Erdogan reagiert mehr und mehr gereizt auf Kritik an seiner Person – Karikaturisten wurden verklagt, sieben Journalisten die Akkreditierung für das Ministerpräsidentenamt entzogen.

 

Prominente Beispiele einer sich formierenden Zivilgesellschaft, unbequem und kritisch

 

Zorn gegen kritische Stimmen trifft aber nicht nur Journalisten, sondern auch Wissenschaftler oder andere Personen des öffentlichen Lebens. Das belegt eine weitere Verhaftungswelle im Oktober letzten Jahres. Über 50 Personen wurden festgesetzt, der prominenteste von ihnen  Ragip Zarakolu. Er ist Verleger des Verlags »Belge«, Herausgeber zahlreicher Bücher über Minderheiten, Menschenrechtsaktivist und Vorsitzender des Komitees für Meinungsfreiheit im türkischen Schriftstellerverband.

 

Emma Sinclair von Human Rights Watch nennt es absurd, einen bekennenden Pazifisten wie Zarakolu mit terroristischen Vereinigungen in Zusammenhang zu bringen. Zarakolu selbst sagte einige Wochen vor seiner Verhaftung auf die Frage von Journalisten, ob er sich denn nicht fürchte, eines Tages auch festgesetzt zu werden: »Ich habe nie daran gedacht, aufzugeben. Denn ich liebe meinen Beruf, ich liebe es, Bücher zu publizieren, die noch nie veröffentlicht worden sind. Meine Leidenschaft ist es, Tabus zu brechen, mich mit Gedanken und Themen zu befassen, die auszusprechen anderen Angst macht.«

 

Seine Verhaftung mag Zarakolu nicht ganz überraschend getroffen haben – bereits Anfang des Monats war sein Sohn Deniz verhaftet worden, der Student agierte als Geschäftsführer des Belge-Verlags. Auch hier ist die Anklage unklar, möglich gemacht durch das Anti-Terror-Gesetz, dass dem Anwalt der Verteidigung bis zur Verhandlung keine Akteneinsicht gewährt. Möglich ist, dass man ihm eine Mitgliedschaft in der KCK (»Koma Civakên Kurdistan«) zur Last legt. Der genaue Umfang und Ziele der Organisation sind unklar, sie soll sich aber als eine inoffizielle, quasi parallelstaatliche Gemeinschaft unter der Führung des PKK-Chefs Öcalan verstehen.

 

Zarakolus Sohn machte in den Augen der Ermittler möglicherweise verdächtig, dass er vor einiger Zeit einen Vortrag an der Akademie der legalen, pro-kurdischen Partei BDP gehalten hatte. Genauso erging es Büşra Ersanlı, Professorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Marmara-Universität, die als Vertreterin der BDP in einem Gremium über die neue türkische Verfassung diskutierte. Worauf die Anklage letztendlich beruht, wird sich zeigen, ganz sicher sind die Verhafteten aber eines: Prominente Beispiele einer sich formierenden Zivilgesellschaft, unbequem und kritisch.

 

In der Forschergemeinde formiert sich Widerstand

 

Der brachiale Umgang mit kritischen Stimmen ist aber keine Erfindung der AKP, sondern in gewisser Weise system-immanent. In der Geschichte des Landes bestehen bis heute »schwarze Löcher«, wie etwa der Völkermord an den Armeniern, über die besser nicht öffentlich diskutiert wird. Kritische Wissenschaft können sich nur die teuren Privatunis wie Sabanci, Koç oder Bilgi erlauben. Wenn in der akademischen Landschaft Tabus angestoßen werden, dann immer hier.

 

Unvergessen der Student Deniz Özgün, der mit einem Pornofilm als Abschlussarbeit nach eigenen Angaben »die akademische Freiheit austesten« wollte. Der künstlerische Wert der Arbeit soll eher mau gewesen sein, dennoch ist schwer nachzuvollziehen, warum nach dem Öffentlichwerden allen drei betreuenden Dozenten fristlos gekündigt wurde. Böse Stimmen munkeln, das amerikanische Unternehmen, das die Bilgi – einst mit dem Vorsatz gegründet, die liberalste Universität im Land zu werden – vor einigen Jahren übernommen hatte, habe es sich mit der islamisch-konservativen Regierung nicht verderben wollte.

 

Nach den jüngsten Verhaftungswellen aber verlassen die Wissenschaftler ihren Elfenbeinturm und formieren den Widerstand. Unter dem Namen »Academic Liberty and Freedom of Research« hat sich zunächst in Frankreich, dann auch in England, der Schweiz, der Türkei und den USA eine Initiative gebildet, die auf die zunehmende Beschneidung wissenschaftlicher Freiheit aufmerksam macht. Seit Anfang des Jahres besteht auch eine deutsche Gruppe.

 

»In der Türkei gibt es in den letzten Jahren die Tendenz, Menschen allein auf Grund von politischen Aussagen, Artikeln oder sonstigen legalen Aktivitäten unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation anzuklagen und zu inhaftieren. Davon sind zunehmend auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betroffen. Wir halten es daher für wichtig, dass Wissenschaftler auf internationaler Ebene Solidarität mit ihren betroffenen Kolleginnen und Kollegen in der Türkei üben«, so Erdem Evren, Wissenschaftler am Zentrum Moderner Orient in Berlin und einer der Initiatoren der deutschen Gruppe. Durch die starke Präsenz türkischer Wissenschaftler in der internationalen Initiative hat diese schon einen kleinen Sieg errungen: Die Aussage Erdoğans, Kritik an den Zuständen sei westlich und würde aus dem Unverständnis für die Situation im Land herrühren, zu widerlegen.

Von: 
Charlotte Joppien

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