Verschwörungstheorie oder Wahrheit? Revolution versus Wohlstandswahrung. Weiße Kartoffel und Orient Beauty werfen einen abschließenden Blick auf die aktuellen Ereignisse und erklären, warum sie nicht in die Politik gehen wollen.
»Orient Beauty« – Rana Siblini stammt aus Beirut und ist Sprachwissenschaftlerin und Lehrerin von Beruf. 2010 kam sie nach Deutschland. In Münster schreibt sie an ihrer Doktorarbeit über Nostalgie in der mittelalterlichen arabischen Dichtung. »Weiße Kartoffel« – Stanislaw Strasburger ist polnischer Schriftsteller und freiberuflicher Kulturmanager. Er beschäftigt sich immer wieder mit dem facettenreichen Thema Multikulturalität. Seit mehreren Jahren pendelt er zwischen Köln, Beirut und seiner Heimatstadt Warschau. Orient Beauty und Weiße Kartoffel sprechen miteinander Deutsch. Doch manchmal, wenn es hakt ... Hi, kifak, ça va?
Orient Beauty: Weißt du, dass Münster zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden ist? Nichtsdestotrotz gab es hier vor drei Monaten eine Demo der »Occupy-Bewegung«. Aber wieso sollte man in einer Stadt mit einer so hohen Lebensqualität überhaupt protestieren? Vielleicht aus reiner Konformität, die man als Solidarität mit dem Rest der Welt verkauft? Oder gar aus Ärger darüber, dass diesmal die großen Veränderungen in der arabischen Welt passieren und nicht hier. Und trotzdem will man daran unbedingt teilhaben.
Weiße Kartoffel: Münster ist in der Tat eine ruhige Stadt, deren Einwohner vorrangig damit beschäftigt zu sein scheinen, wie sie ihren hohen Wohlstand sichern können. Aber einige Historiker behaupten, dass Revolutionen gerade nicht während einer Depression ausbrechen, sondern vielmehr in einer Phase relativen Wohlstands. Eine etwas gewagte These, aber die klassischen Beispiele der Französischen und der Russischen Revolution scheinen dies zu bestätigen. Verspürst du in Münster eine revolutionäre Stimmung? Mit einer Demo ist es doch noch nicht getan.
Orient Beauty: Stimmt, die Deutschen machen den Eindruck, als wäre der Verlust des hohen Lebenskomforts ihr größtes Problem. Sie haben sich wohl gedacht, es wird nur immer besser und besser werden.
Weiße Kartoffel: Die Veränderungen in den Ländern Mittel- und Osteuropas Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hatten eine klare Zielrichtung. Die politischen Eliten konnten ihre Mitbürger davon überzeugen, dass es sich lohne, einige Jahre die unbequemen, aber notwendigen Reformen über sich ergehen zu lassen, damit man anschließend gerüstet sei, sich dem exklusiven Wohlstandsclub EU anzuschließen. Die konkreten Hilfen, die der Club uns gegenüber bisher geleistet hat und immer noch leistet, sind übrigens enorm.
Orient Beauty: Das ist es, den Revolutionen in den arabischen Ländern fehlt eine solche Aussicht. Unser eigener Wohlstandsclub, die reichen Ölländer der Arabischen Halbinsel, ist nicht ganz so zuvorkommend. Auch die reiche EU hilft uns nicht gerade übermäßig. Vor allem aber haben die revoltierenden Menschen keine Zukunftsperspektive, schon gar nicht für die Zeit der schmerzlichen Reformen.
Weiße Kartoffel: Ich weiß, und ehrlich gesagt, schäme ich mich für die Politik meiner beiden Länder, Deutschlands und Polens. Viele Menschen im Libanon, aber auch in den revoltierenden Ländern, wie zum Beispiel in Syrien, befürchten, dass die EU und die arabischen Ölländer weniger darauf bedacht sind, die spontanen gesellschaftlichen Bewegungen zu unterstützen, als vielmehr versuchen, ihren Einflussbereich auszuweiten, auch wenn sie hoch und heilig beteuern, es ginge ihnen nur um das Schicksal der Menschen.
Orient Beauty: Egal ob es sich um eine Verschwörung handelt oder ob es doch Ereignisse sind, die auf authentische gesellschaftliche Bedürfnisse zurückgehen, Tatsache ist, dass die Reaktion der Machthaber tausende Opfer und großes Leid gefordert haben. Das alleine schon ist Grund genug für eine Revolution, nicht wahr?
Weiße Kartoffel: Und ob! Aber auf uns hört ja niemand, wenn wir über Politik sprechen. Also haben wir in unseren Gesprächen versucht, uns den Menschen zu nähern, unabhängig davon, ob sie sich hier oder dort gesellschaftlich engagieren oder ganz einfach versuchen in unseren komplizierten Zeiten ein normales Leben zu führen.
Orient Beauty: Ach, hör auf zu predigen, Weiße Kartoffel! Wir sind ja am Ende unserer Gespräche angelangt. Es sei denn, wir fangen jetzt mit einer ganz anderen Geschichte an ...
Die Reihe wird parallel auf Polnisch, Arabisch und Deutsch veröffentlicht.
Gefördert durch das Land NRW. Unterstützt durch das Buchinstitut aus Polen und das Goethe-Institut Libanon.