Vor den Wahlen zur libyschen Nationalversammlung ringen Muslimbrüder, säkulare Parteien, unabhängige Kandidaten und der Nationale Übergangsrat um die Zukunft des Landes. Werden islamistische Kräfte diese entscheidend prägen?
In ganz Libyen wurden in den vergangenen Wochen Plakate gedruckt und Transparente aufgehängt. Manche Stellwand, die noch immer die Märtyrer der Revolution beklagte, wurde mit den Gesichtern der landesweit fast 4000 Kandidaten überklebt. Libyen ist im Wahlfieber und mehr als 2,7 Millionen Menschen haben sich bislang für die Stimmabgabe registrieren lassen – ein beeindruckender Wert bei insgesamt 3,5 Millionen Wahlberechtigten.
Überschattet werden die Vorbereitungen jedoch von einem juristischen Kampf um die 200 Sitze der verfassungsgebenden Versammlung. Um die befürchtete Dominanz durch die der libyschen Muslimbruderschaft nahestehende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei zu verhindern, ließ die Wahlkommission 120 Mandate für unabh
ängige Kandidaten reservieren. Nach dem starken Abschneiden der Muslimbrüder bei den Regionalwahlen in Benghazi Mitte Mai hatte sich ein erdrutschartiger Sieg bereits abgezeichnet. Dass nun mehr als die Hälfte der Sitze an unabhängige Kandidaten gehen, wird den Einfluss regional verwurzelter Politiker vergrößern, argumentiert Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz. »In der Tat gibt es in Libyen große Diskussionen über die Verwendung der Erdölreserven und das politische Gewicht in der Hauptstadt Tripolis. Der Osten des Landes befürchtet, aus den Wahlen als der große Verlierer hervor zu gehen«, so Meyer gegenüber zenith.
Tatsächlich entfallen auf den tripolitanischen Landesteil fast 60 Prozent der 200 Posten, die Kyrenaika erhält lediglich 60 Plätze. »Insbesondere salafistische Kandidaten konnten in den vergangenen Monaten ihre Anhängerschaft vergrößern. Sie könnten nun als unabhängige Politiker in die Versammlung einziehen.«
Bewährungsprobe für den Nationalen Übergangsrat
Dass Libyen trotz anhaltender, teils bewaffneter Konflikte im ganzen Land in der Lage sei, Wahlen durchzuführen, sei lobenswert. »Nur neun Monate nach einem Bürgerkrieg und in einem Staat, dessen Zivilgesellschaft von der Diktatur völlig zerstört wurde, ist ein solcher Schritt eine beachtliche Leistung«, merkt Meyer an. Trotzdem müsse man damit rechnen, dass es nach Boykottaufrufen und Zerstörungen von Wahllokalen insbesondere im Osten des Landes am Wahltag zu Unregelmäßigkeiten oder Störungen kommen könne.
»Zwar haben sich in Umfragen rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung für den Erhalt eines zentralistischen Staates ausgesprochen, in Benghazi ist dieser Anteil aber deutlich niedriger.« Besonders für den regierenden Übergangsrat (NTC) ist der Urnengang eine Bewährungsprobe. In den vergangenen Monaten stand er wegen intransparenter Entscheidungen oder angeblicher Nähe einzelner Funktionäre zum früheren Gaddafi-Regime in der Kritik. Sollten sich die Wahlen zu einem Fiasko entwickeln, worauf aktuell wenig hindeutet, ist es auch ein Versagen des NTC.
Dieses Wochenende entscheidet, ob Libyen einer neuen Verfassung und der Wahl demokratischer Institutionen einen deutlichen Schritt näher kommt.