Revolutionen sind etwas Positives, lehren ägyptische Schulbücher. Wenn sie denn Ordnung stiften und sich den »richtigen« Zielen verschreiben.
Erst verschwand die Glorifizierung von Mubarak, dann kamen die Revolutionen. Auch wenn das ägyptische Bildungsministerium die Schulbücher jährlich für das neue Schuljahr überarbeiten lässt, dauerte es eine Weile, bis die Ereignisse des Jahres 2011 in die Schulbücher gelangten.
Vor 2011 war in den Geschichtsbüchern mindestens ein Teilkapitel dem Präsidenten Hosni Mubarak und seiner Führung der Luftwaffe im Oktoberkrieg 1973 gewidmet. Seit dem Schuljahr 2013/14 ist dieser Abschnitt nicht mehr zu finden. Ein Jahr später wurden die Geschichtsbücher der 12. Klasse um ein Kapitel zur »Revolution vom 25. Januar 2011 und der Revolution des 30. Juni 2013« erweitert. Insgesamt 15 Seiten stellten »beide Revolutionen« und ihren Kontext dar.
Das Schulbuch für das Fach »Tarbiyya Wataniyya«, das sich am besten mit Nationalkunde übersetzen ließe, behandelt in der Ausgabe für das Schuljahr 2015/16 ebenfalls »die beiden Revolutionen«. Der Einband zeigt Bilder mit dem Tahrir-Platz voller Demonstranten, Demonstrierende mit ägyptischen Fahnen und die Waage der Justitia in den Farben der ägyptischen Flagge. Neun Seiten widmet das Buch dem Kapitel »Revolution als politische Partizipation«, das zunächst den Begriff Revolution definiert und sich ausführlich mit »Werten der Revolution« sowie Zielen, Ursachen und Folgen »der zwei Revolutionen« befasst.
Dass die Debatten um die politische Einordnung der Ereignisse von 2011 und 2013 damit nicht abgeschlossen waren, zeigte sich zwei Jahre später. In den Schulbüchern für 2017/18 wurden die jeweiligen Abschnitte in beiden Fächern signifikant gekürzt. Im Nationalkundebuch umfasst das Kapitel »Revolution als politische Partizipation« nun zwei anstelle von neun Seiten. Das Geschichtsbuch kürzt die Revolutionen von 15 auf 3 Seiten.
Schulbücher sind institutionalisierte und kanonisch verdichtete Quellen, die als Massenmedien die nächste Generation erreichen und prägen sollen. Ob und wie die verbreiteten Narrative der Vergangenheit von Lehrenden und Lernenden aufgegriffen und als wahr akzeptiert werden, lässt sich kaum nachvollziehen. Aber allein die Veränderung der Darstellung der Geschehnisse und wie sie ihren Weg in die staatlich autorisierten Bildungsmedien gefunden haben, ist bemerkenswert.
Und dann geht es um die Ereignisse der Revolution und die Rolle der Muslimbrüder und anderer islamistischer Bewegungen dabei.
So wählt das Geschichtsbuch 2014/15 die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umstände nach dem Krieg vom 6. Oktober 1973 als Einstieg und stellt dann drei Gründe für die Revolution vom 25. Januar 2011 vor: erstens, die Verfälschung der Wahlergebnisse im November 2010 zugunsten der regierenden Nationaldemokratischen Partei. Zweitens: Der ehemalige Präsident wollte seinem Sohn die Präsidentschaft Ägyptens vererben, und drittens: Der Ausnahmezustand wurde immer wieder verlängert.
Und dann geht es um die Ereignisse der Revolution und die Rolle der Muslimbrüder und anderer islamistischer Bewegungen dabei. Betont wird, wie sie die Revolution für ihre eigene Agenda ausgenutzt hätten. Die Regierungszeit der Muslimbrüder sei durch Scheitern und Autokratie gekennzeichnet gewesen, die »zweite Revolution« vom 30. Juni 2013 sei als Widerstand der Ägypter gegen die Muslimbrüder zu verstehen. Besonders hervorgehoben wird dabei die Rolle des späteren Präsidenten Abdel-Fattah Al-Sisi und des Militärs, Ägypten vor den Muslimbrüdern zu retten und das Land »auf den richtigen Weg zur Demokratie und Wohlstand« zu führen.
Das Schulbuch für Nationalkunde in der Version von 2015/16 erklärt über drei Seiten die Werte von Revolutionen. Dabei wird immer wieder betont, was Revolution nicht bedeute: Chaos, Verantwortungslosigkeit, Anarchie, sie bedeute »nicht, dass alles erlaubt ist oder der Einzelne ohne Respekt vor Religion oder Moral tut, was er will«. Werteverfall, Korruption, Untätigkeit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit – all dies könne nicht unter Revolution verstanden werden.
In diesem Zusammenhang erklärt das Schulbuch, Kreativität müsse durch eine Institution gesteuert werden, »die definiert, was Kreativität ist, denn alles, was von Religion, Gesetz oder Traditionen abweicht, wie unanständige Lieder oder unzüchtige Filme, die Lust wecken, könne nicht als Kreativität zählen«. Revolutionen hätten nicht das Ziel, einen radikalen Wandel zum Schlechten herbeizuführen, Chaos zu verbreiten, Bürger mit Waffen und Gewalt einzuschüchtern, Drogen zu verbreiten und die Jugend fehlzuleiten.
Mit dem Verweis auf Drogenkonsum, Plünderungen oder den Einfluss einer »westlichen Agenda« greift das Schulbuch klischeehaft in den ägyptischen Nachrichten geäußerte Vorwürfe gegenüber den Demonstranten vom Tahrir auf.
Der Text wertet Revolutionen also als grundsätzlich positive, die Gesellschaft, ihre Moral, Wirtschaft und Produktivität stabilisierende, notwendige Kraft und ordnet sie als legitime Form der politischen Partizipation ein. Die friedlichen Proteste hätten dem Land Bewunderung in der ganzen Welt verschafft. Gleichzeitig definiert das Schulbuch jedoch viele Aspekte, mit denen der Aufstand 2011 in den ägyptischen Medien in Verbindung gebracht wurde, als nicht revolutionär und lehnt sie ab.
»Vielmehr soll die Revolution einen radikalen Wandel zum Besseren bewirken, Sicherheit für die Bürger gewährleisten, die Jugend vor Fehlleitung schützen und die Korruption in all ihren Bedeutungen und Formen beseitigen.« Gerade mit dem Verweis auf Drogenkonsum, Plünderungen oder den Einfluss einer »westlichen Agenda« greift das Schulbuch klischeehaft in den ägyptischen Nachrichten geäußerte Vorwürfe gegenüber den Demonstranten vom Tahrir auf.
Zur Revolution vom 25. Januar 2011 führte laut Nationalkundebuch 2015/16 neben der im Geschichtsbuch erwähnten Fälschung der Parlamentswahlen 2010 und dem dauerhaften Ausnahmezustand die Einschränkung der Meinungsfreiheit sowie der wirtschaftliche und gesellschaftliche Verfall: inklusive Niedergang des Bildungssystems, Preiserhöhungen, Zunahme von Armut und Jugendarbeitslosigkeit, Polarisierung der Gesellschaft und Verbreitung von Korruption in Verwaltung und Politik. Außerdem werden die technologische Entwicklung und die »Informationsrevolution« als Kontext der Aufstände betont.
Die Ereignisse vom Sommer 2013 könnten schließlich als Beispiel »für eine der größten Revolutionen der Welt« gelten: »Nachdem Millionen gegen die Herrschaft der Muslimbrüder auf die Straße gegangen sind, die daran gescheitert waren, den Staat zu regieren, erhörte das Militär die Aufrufe der Ägypter und die Bitte des Volk um Unterstützung und übernahm patriotische Verantwortung.«
Allen Versionen, den ausführlichen und den gekürzten, ist gemein, dass sie den Begriff »Arabischer Frühling« nicht benutzen.
Gründe für die Revolution 2013 sind laut Schulbuch das Scheitern der Regierung, Sicherheit zu gewährleisten und das Chaos zu kontrollieren, sowie der Missbrauch staatlicher Ressourcen und eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten mehr Macht verschafft.
Seit dem Schuljahr 2017/18 fasst der erheblich gekürzte Abschnitt im Nationalkundebuch auf zwei Seiten unterschiedliche politische Ereignisse unter der Überschrift »Ägyptische Revolutionen« zusammen: Volksaufstände gegen die britische Kolonialmacht von 1919, den Militärputsch der Freien Offiziere 1952 gegen König Faruk, den Sturz von Hosni Mubarak im Nachgang der Massendemonstrationen auf dem Tahrir-Platz 2011 sowie den Sturz von Muhammad Mursi nach Demonstrationen am 30. Juni 2013.
Die Ereignisse unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Rolle der ägyptischen Bevölkerung und die politischen Folgen. Die letzten drei sind durch einen politischen Umsturz geprägt, ob sie alle Revolutionen darstellten, hängt wohl von der Definition ab.
Allen Versionen, den ausführlichen und den gekürzten, ist gemein, dass sie den Begriff »Arabischer Frühling« nicht benutzen. Auch der arabische Kontext, also Volksaufstände, politische Umstürze oder Demonstrationen in anderen arabischen Ländern, werden nicht erwähnt. In den Schulbüchern ist durchgehend von den »zwei ägyptischen Revolutionen « (2011 und 2013) die Rede. Auch die Gründe, die zu den Demonstrationen führten, beschränken sich auf den nationalen Kontext. Die bedeutende Rolle des Militärs für das Gelingen der Revolutionen heben alle – auch die aktuellsten Schulbücher für 2020 – hervor.
Prof. Dr. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet die Abteilung »Wissen im Umbruch« am Georg-Eckert-Institut, dem Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Ahmad Shehata promoviert an der Universität Leipzig zu ägyptischen und deutschen Schulbüchern.