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Artenschutz in der Türkei

Die Geisternetzjäger

Reportage
Artenschutz in der Türkei
Mit militärischer Präzision werden die Korallen-Stöcke im selben Abstand in Reihen aufgeklebt und mit Nummern versehen, weil man ihre Entwicklungen so leichter verfolgt. Foto: Ateş Evirgen

Kulturstätten und Refugien für Flora und Fauna müssen Istanbuls Stadtwachstum weichen. Alteingesessene und Aktivisten wollen sich mit der Verödung nicht abfinden und bauen die Riffe an den Ufern des Marmara-Meeres wieder auf.

»Wie die jetzt da drüben absahnen«: Teppichhändler Necati hat mir das Prinzip verraten – damals, vor seinem traditionsreichen Geschäft auf der Basar-Straße von Büyükada, das er mittlerweile an einen Schnellimbiss verpachtet. »Du klapperst mit dem Auto die Vororte ab, suchst dir die billigsten Parzellen aus und wartest ab. An dem Tag, wenn du die Moschee vor lauter Hochhäusern nicht mehr siehst, verkaufst du und bist reich!«

 

Mit den Gebetshäusern kommen die Spekulanten, und Necati schimpft: Auch auf Büyükada, schräg hinter seinem ehemaligen Teppichhandel, baut die Großstadtverwaltung eine Moschee. Gegenüber, in drei bis fünf Seemeilen Entfernung, schwappt die unendliche Stadt unaufhaltsam über ihre Grenzen. In Bostancı, Maltepe und Kartal – ehemals idyllische Küstendörfer – sind die Quadratmeterpreise jahrelang proportional zu den Etagen in den Himmel geschossen.

 

Nicht von ungefähr haben sich 2013 die Gezi-Unruhen am Fällen von Bäumen entzündet: Auf dem Festland greift der Goldregen aus Draht und Zement längst auf die Naturschutzgebiete über – im Westen auf den Belgrad-Wald, im Osten auf das Polonezköy – und verewigt sich an der Schwarzmeerküste in einer dritten Brücke, in einem dritten Flughafen mit drastischen Rodungen.

 

Auf den Adalar, dem beschaulichen, vom Motorverkehr verschonten Archipel vor dem asiatischen Festland, wähnte man sich vor Veränderungen bis vor kurzem sicher. Im März 2007 wurde über Gemeinde-Bürgermeister Coşkun Özden der »Adalar Koruma Amaçlı Imar Planı« vorgelegt – ein Entwurf, um die letzte grüne Lunge der Metropole zu schützen. Seine einstimmige Ablehnung am 30. November 2017 begründete das 8. Istanbuler Gericht mit dem Bevölkerungswachstum und dem Mangel an freien Flächen.

 

Henry Bulwer hinterließ orientalisierte Gebäude, ein Schlösschen im altenglischen Stil vor dem Schiffsanleger und einen Versorgungstrakt mit Küche, Brunnen, Wasserspeichern und osmanischem Hamam. Seine legendären Orgien gehörten bis 1865 zum Stadtgespräch der Société.

 

Damit wurde der bisher geltende Sonderstatus (birinci derece sit statüsü, von franz. »site: – Gelände«) um ein bis zwei Grade herabgestuft. Insbesondere dem Nizam-Viertel, Standort der bedeutendsten historischen Villen am Westufer Büyükadas, droht, bei Verfünffachung der Einwohnerzahlen, die Umwandlung in einen »Erholungs- und Vergnügungspark«, so die Architektenkammer. Die Entscheidung ruft vielen den Bauboom der 1970er Jahre ins Gedächtnis. Sie war zu erwarten, schließlich ist Recep Tayyıp Erdoğan dem Urteilsspruch mit einem prestigeträchtigen Projekt zuvorgekommen, das er auf Grund politischer Ressentiments zur Chefsache erklärt hat.

 

Zusammengefasst unter der Bezeichnung »hayırsız – nutzlos« – Zwillinge im Süden hinter der dem Bosporus am nächsten gelegenen Insel Kınalı –, schlummerten die beiden Landflecken Yassı und Sivriada lange unberührt vor sich hin. Yassı heißt auf Türkisch »flach«, sivri »spitz«; beide Namen abgeleitet aus dem Griechischen Πλάτη/Pláti und Οξειά/Oxiá. Allenfalls Fischer quartierten sich hier während des sommerlichen Fangverbots mit mobilen Lachsfarmen ein.

 

Artenschutz in der Türkei
Die Überreste des Bulwer-Schlosses auf der Insel Yassıada: Bis 2015 konnte jeder, der ein Boot besaß, dieses wilde, von Kakteen, Feigenbäumen und Mittagsblumen überwucherte Freilichtmuseum auf eigenes Risiko begehen.Foto: Stefan Pohlit

 

Bis 2015 konnte jeder, der ein Boot besaß, dieses wilde, von Kakteen, Feigenbäumen und Mittagsblumen überwucherte Freilichtmuseum auf eigenes Risiko begehen. Den Byzantinern dienten die Inseln als Verbannungsorte für prominente Gefangene. Auf dem sanften Hügel der »Flachen« stiftete im 9. Jahrhundert Patriarch Ignatios I. ein Kloster und eine »Kirche der Gottgebärerin«, deren Ruinen noch 1821 der anglikanische Priester Robert Walsh beschrieb.

 

1857 verkaufte der Sultan Yassıada an den Diplomaten Henry Bulwer – Bruder jenes Edward Bulwer-Lytton, auf dessen Roman »Rienzi« Richard Wagner die gleichnamige Oper komponiert hat. Henry, ein moderner Prospero, hinterließ mehrere orientalisierte Gebäude, ein Schlösschen im altenglischen Stil vor dem Schiffsanleger und einen Versorgungstrakt mit Küche, Brunnen, Wasserspeichern und osmanischem Hamam. Seine legendären Orgien gehörten bis 1865 zum Stadtgespräch der Société.

 

In einer Sporthalle auf Yassıada wurde 1960 Adnan Menderes zum Tod durch den Strang verurteilt – ein Trauma für den heute amtierenden Präsidenten, der davon als Kind aus den Nachrichten erfahren hatte.

 

Die Marine kam 1947, reduzierte den Palast auf das Haupthaus und übertünchte die Mauern. Von da an bis 1995 war Yassıada an die Dampfschiffslinien angeschlossen, zuletzt als Campus der Fakultät für Wasserwirtschaft der Universität Istanbul. In einer Sporthalle wurde hier 1960 Adnan Menderes zum Tod durch den Strang verurteilt – ein Trauma für den heute amtierenden Präsidenten, der davon als Kind aus den Nachrichten erfahren hatte.

 

Menderes, Sieger der ersten freien Wahlen, hatte den Gebetsruf vom türkischen »Tanrı uludur« auf das arabische »Allah-ü ekber« zurückgestellt, die Gesellschaft re-islamisiert und für die internationale Marktanbindung geöffnet, aber auch die Pogromnacht vom September 1955 gegen die christliche Bevölkerung mitverursacht.

 

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Die Überreste der Sporthalle auf Yassıada, in der Adnan Menderes 1960 zum Tod durch den Strang verurteilt wurde.Foto: Stefan Pohlit

 

Aus Angst vor einem ähnlichen Schicksal wie jenes seines Vorbilds, verfügte Erdoğan am 7. November 2013 eine symbolische Umtaufe von »Yassı« in »Demokratie- und Freiheitsinsel«. Bereits 2011 war im Innern des Sportsalons ein Graffiti mit einer Aufschrift zu lesen, die diesen Vorstoß anonym vorwegnahm – eine Ironie, nicht nur in Anbetracht der fortschreitenden Gleichschaltung, weil Yassıada seit dem Einsatz der Baukräne nicht mehr dem Volk, sondern mit Kongresszentren, Hotels und Hunderten von Parkplätzen den AKP-Parteikadern gehört – und in der Mitte wächst eine Moschee.

 

Zugegeben, mit ihren Betonruinen aus den 1950er Jahren galt Yassıada als Schandfleck des ersten Militärputschs, an den sich auch auf Büyükada viele Einheimische hautnah erinnern, etwa Schreibwarenhändler Affan, Sohn eines Ortsvorsitzenden der »Demokrat Partisi«, oder der prominente Schriftsteller Gündüz Vassaf, dessen Vater für Menderes’ Partei im Parlament saß.

 

2015 wurde auf der asiatischen Stadthälfte der Fluss Kurbağlıdere (»Froschbach«) ausgehoben – eine Kloake, deren Gestank Schiffsreisenden bei der Einfahrt in die Mole von Kadıköy vertraut war. Die Abwässer wurden gemeinsam mit dem Schutt von der Insel-Baustelle im Meer entsorgt, das seit jenem Sommer nicht mehr nach Salz schmeckt.

 

Hingegen geisterten unmittelbar nach den ersten Spatenstichen im Juli 2015 Luftbilder durch die sozialen Medien und belegten das Ausmaß der Zerstörung: die Erdscholle gleichsam bis auf das Fleisch abgeschält, alle Pflanzen, die Brutstätten der Kormorane und die meisten Gebäude verschwunden – am auffälligsten die zwei hässlichen Klötze, deren Silhouetten das Bild der Insel von der Stadt aus geprägt hatten.

 

Zur selben Zeit wurde auf der asiatischen Stadthälfte der Fluss Kurbağlıdere (»Froschbach«) ausgehoben – eine Kloake, deren Gestank Schiffsreisenden bei der Einfahrt in die Mole von Kadıköy vertraut war. Die Abwässer wurden gemeinsam [zusammen] mit dem Schutt von der Insel-Baustelle im Meer entsorgt, das seit jenem Sommer nicht mehr nach Salz schmeckt.

 

Zweifellos widmet die Regierung das für Yassıada anberaumte Museum ausschließlich der jüngeren, türkischen Geschichte. Ähnlich wie die gut erhaltene Klosterkirche auf der weiter östlich gelegenen Zwerginsel Neandros standen die architektonischen Schätze auf Yassıada nicht unter Denkmalschutz. Einzig die Sporthalle blieb intakt; von Bulwers Schöpfungen könnten immerhin ein Turm und der Anbau mit Menderes’ Zelle überdauern.

 

Der Rest befestigt heute als Geröll eine neue Uferlinie oder liegt auf dem Meeresgrund – bedauerlich aus historischer Sicht, eine Katastrophe zumal aus biologischer, denn unter Wasser, dicht an der Bosporus-Dardanellen-Strömung, beherbergen Yassı und Sivriada seltene gelbe Korallen. Um diese zu retten, entstand 2016 die Initiative »ADAMER«.

 

Serço Ekşiyan betrachtet es als Privileg, die Vielfalt der 1970er Jahre noch erlebt zu haben, als hinter jedem Felsen noch ein Drachenkopf, ein Krake oder ein Schweinshai hauste.

 

Serço Ekşiyan ist ein Aktivist ohne viel Palavra. Ein Kellner in einem der Fischlokale will ihn dabei beobachtet haben, wie er einen zum Verzehr ausgestellten Hummer bezahlt und in hohem Bogen zurück ins Meer geschleudert hat. »Verlassene Dörfer«, sagt Serço. »So sieht’s da unten aus.« – Der Taucher betrachtet es als Privileg, die Vielfalt der 1970er Jahre noch erlebt zu haben, als hinter jedem Felsen noch ein Drachenkopf, ein Krake oder ein Schweinshai hauste; als – dem Historiker Akylas Millas (Jahrgang 1938) zufolge – in einer Höhle auf Sivriada noch eine Robbe schlief.

 

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Seinen ersten Tauchgang unternahm Serço Ekşiyan (l.) 1973, damals noch als Sportjäger mit der Harpune. Irgendwann habe er sich gedacht, dass er statt von fünf Fischen auch von zwei satt würde und die Seite gewechselt. Foto: Ateş Evirgen

 

Die Fischerei sei vor der Monopolwirtschaft fairer gewesen, habe Erfahrung und Ausdauer verlangt. Heute werden die pelagialen Schwärme per Sonar geortet und mit den Ringwaden der Ozean-Fischerei restlos abgeschöpft. Sobald im September das Fangverbot ausläuft, überschwemmt der Fang die Märkte, um bald, bei immer unerschwinglicheren Preisen, zu versiegen. Viele Arten sterben aus, manche mögen sich periodisch erholen, während Serço die Entwicklungen zu allen Jahreszeiten dokumentiert.

 

Geboren 1954 in eine armenisch-griechische Familie, lernte Serço Büyükada in seiner Kindheit lieben. Als Sohn wohlhabender Eltern konnte er es sich erlauben, ab einem gewissen Alter einfach dort zu bleiben. Seinen ersten Tauchgang unternahm er 1973, damals noch als Sportjäger mit der Harpune. Irgendwann habe er sich gedacht, dass er statt von fünf Fischen auch von zwei satt würde und die Seite gewechselt.

 

Bis 1983 sei es wegen der bürokratischen Hürden beim Zoll schwer gewesen, an eine Ausrüstung zu gelangen. Wenn jemand mit Beziehungen oder ausländischem Pass etwas mitbrachte, habe man untereinander getauscht und ausgeliehen, später aus zweiter und dritter Hand gekauft. Für das Auffüllen eines Sauerstofftanks brauchte Serço einen ganzen Tag, fuhr mit dem »Vapur« von der Insel nach Sirkeci, von dort aus mit der »Tramvay« nach Topkapı, mit dem Bus weiter nach Sağmacılar und dieselbe Route zurück.

 

Seinen eigenen Kompressor erhielt er von einem Freund als Geschenk; vorher war der Apparat bei der amerikanischen, dann bei der türkischen Luftwaffe in Betrieb, um schließlich in Eskişehir bei einem Altwarenhändler zu landen. Serço hat ihn für seine Zwecke umgestaltet und damit lange seine Kollegen mitbedient. Auch beim Gehäuse seiner Unterwasserkamera handelt es sich um ein Unikat. Mit ihm kann er den Meeresboden vom Motorboot aus über einen Bildschirm betrachten.

 

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Diese »Geisternetze« haben sich beim Auswurf verhakt und wurden von den Fischern bedenkenlos versenkt. In 40 Metern Tiefe fallen diese Teppiche auf Krebse, Fische, Tümmler und Korallen. So verwandelt sich das Flachbecken in eine Wüste.Foto: Serço Ekşiyan

 

Obschon Autodidakt, kennt niemand die Gewässer Istanbuls besser als Serço. 2013 tauchte er für den Regisseur Göksel Gülensoy in den Katakomben der Hagia Sophia – ein Filmprojekt, das Dan Brown in seinem Roman »Inferno« erwähnt hat. Vor der Küste Kınalıadas entlarvte Serço eine volkstümliche Theorie, dass zwischen Sultanahmet und den Klöstern geheime Tunnel existieren, als urbanen Mythos. 2015 erforschte er für die Kommune von Maltepe die verlorene zehnte Insel, Vordonisi, die im Jahr 1010 bei einem Erdbeben unterging. Im Juni 2018 war er als einziger Vertreter der Türkei am »World Oceans Day« auf Santorini beteiligt, in Zusammenarbeit mit Organisationen wie »Healthy Seas« und »Cousteau Divers«.

 

Für gewöhnlich jagt er nach »Geisternetzen«, die sich beim Auswurf verhakt haben und von den Fischern bedenkenlos versenkt werden. In vierzig Metern Tiefe fallen diese Teppiche auf Krebse, Fische, Tümmler und verschiedene Korallenarten wie die Paramuricea clavata und die Gerardia savaglia. So verwandelt sich das Flachbecken, das die Inseln vor dem Çınarcık-Graben zusammenhält, in eine Wüste. Die Bezeichnung »Geisterfischen« rührt von der Tatsache, dass diese Ungetüme auch ohne menschlichen Einfluss weiter als Todesfallen fungieren. Manche von ihnen messen an die 2.000 Quadratmeter; dem UN-Umweltprogramm (UNEP) zufolge landen jährlich 640.000 Tonnen Fischereimaterial in den Weltmeeren.

 

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Die »Geisternetze«, die vom Meeresboden entfernt werden, finden noch eine Anschlussverwendung: Die Bauern in Erzincan spannen sie über ihre Beete, um Krähen fernzuhalten.Foto: Ateş Evirgen

 

Hat er ein neues Netz aufgespürt, ist Serço auf freiwillige Helfer angewiesen, etwa den Kommunalpolitiker Ercan Akpolat oder den Unterwasserfotografen Ateş Evirgen, beide ausgezeichnete Taucher. Zur Bergung wird der Fund an leere Kanister gehängt; diese werden mit Atemluft gefüllt, bis das Paket an die Oberfläche schwebt – langsam, damit es auf dem Weg, falls es sich verfängt, nicht aufreißt. Die sichergestellten Netze wurden früher an örtliche Fischer abgegeben. Heute reisen sie nach Erzincan in Anatolien, wo sie die Bauern über ihre Beete spannen, um die Ernte vor Krähen abzuschirmen.

 

Vergleichbar einer Organ-Transplantation, musste während der Verlegung garantiert werden, dass alle Umweltbedingungen konstant blieben. In 32 Metern Tiefe, wo das ganze Jahr über eine Temperatur von 14 Grad herrscht, gleicht der Salzgehalt dem des Mittelmeers.

 

»ADAMER« ist ein Akronym aus ada (»Insel«) und mercanlar (»Korallen«). Der Plan, die gelben Korallen (Eunicella cavolini) zu evakuieren, ist einem Vorfall zu verdanken, von dem die Meeresbiologin Nur Eda Topçu über ihre Kollegen in Spanien erfuhr. Dort hatte der Zoll einen Touristen beim Versuch gestellt, eine Box mit Korallen über die Grenze zu schmuggeln.

 

Die dortigen Meeresbiologen versuchten im Anschluss, die beschlagnahmten Nesseltiere erneut auszusetzen; ein Viertel davon überlebte das Experiment. Topçu, eine Korallenexpertin der Universität Istanbul, erarbeitete ein Exposee. An ihrer Fakultät gewann sie für ihr Anliegen Noyan Yılmaz, der sich auf den Krill der Nordmeere spezialisiert, auf der Insel Heybeli Volkan Narcı, Direktor des Sportclubs Adalar Denizle Yaşam ve Spor Kulübü.

 

Für die Kolonie auf Yassıada kam jede Hilfe zu spät. Dagegen soll auch auf Sivriada gebaut werden. Vor deren Klippen entstand schon 2015, als die Istanbul-Biennale auf Vorschlag Orhan Pamuks auf die Adalar zog, das »Abyssal Plain«, eine Untersee-Konstruktion des Künstlers Pierre Huyghe.

 

Von Sivriada wollte man die Korallen ins 13 Kilometer entfernte Neandros verpflanzen, jene kleine, unbewohnte Insel südlich von Büyükada. Dem Antrag auf Aussetzung der Bauarbeiten stimmte 2016 das Ministerium für Nahrung, Landwirtschaft und Tierzucht im Eilverfahren zu. Ab Anfang September 2017 durfte eine vier- bis sechsköpfige Mannschaft einen Monat lang die Riffe abgrasen.

 

Täglich wurde zweimal zwölf Minuten lang getaucht. Vergleichbar einer Organ-Transplantation, musste während der Verlegung garantiert werden, dass alle Umweltbedingungen konstant blieben. In 32 Metern Tiefe, wo das ganze Jahr über eine Temperatur von 14 Grad herrscht, gleicht der Salzgehalt dem des Mittelmeers.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass infolge des reichen Planktons kaum Sonnenlicht durch das Marmara-Wasser dringt. Die Korallen wurden wie Blumen in zwölf Zentimeter Länge abgetrennt und an Ort und Stelle in Kühlbehältern verschlossen. Nach dem Auftauchen folgte die eineinhalbstündige Überfahrt nach Neandros, wo sich das Unternehmen in umgekehrter Reihenfolge wiederholte. Zur Befestigung rührte ein separates Team vom Boot aus einen speziellen Mörtel an, der beim Aufdrücken innerhalb einer Minute zu einer weißen, kalkartigen Substanz verhärtet.

 

Steinkorallen wachsen im Jahr um höchstens acht Millimeter, indem sich die einzelnen Polypen teilen, beziehungsweise ihren Kelch auf dem bestehenden Gehäuse erneuern. Nach 60 Tauchgängen hat man an die 100 Korallen gerettet.

 

»Es klingt langweilig«, kommentiert Serço die Methode: Mit militärischer Präzision wurden die Stöcke im selben Abstand in Reihen aufgeklebt und mit Nummern versehen, weil man ihre Entwicklungen so leichter verfolgt. In einer natürlich aufklaffenden Lücke integrierte man sie zwischen ihren Artgenossen – ein Vorteil, weil sich damit der Genpool der bisher isolierten Kolonien dauerhaft vermischt und möglicherweise eine widerstandsfähigere Art erzeugt.

 

Primär als Kameramann engagiert, war Serço anfangs skeptisch. Am Ende hat er die monatlichen Kontrollbesuche allein durchgezogen – mit dem erstaunlichen Befund, dass »ADAMER« eine Erfolgsrate von 95 Prozent verbucht. Steinkorallen wachsen im Jahr um höchstens acht Millimeter, indem sich die einzelnen Polypen teilen, beziehungsweise ihren Kelch auf dem bestehenden Gehäuse erneuern. Nach 60 Tauchgängen hat man an die 100 Korallen gerettet.

 

Nichtsdestotrotz warten noch doppelt so viele Exemplare auf Sivriada auf die Abholung. Bisher wurde ADAMER finanziell vom WWF und privaten Sponsoren wie der Beratungsgesellschaft Mazars unterstützt. Um das Projekt fortzuführen, fehlt das Geld. Zwar verzichteten die Hilfskräfte für ihren Einsatz auf Vergütung, Kosten für den Transport zwischen dem Heimathafen Heybeliada und den Korallen-Revieren sowie für Verpflegung fielen dennoch an. Immerhin kostet ein Liter Diesel sechseinhalb Lira.

 

Das Absterben der Biodiversität im Marmara-Meer ist noch lange nicht aufgehalten, daran wird auch das verdiente Lob aller großen Zeitungen – Hürriyet, Milliyet, Cumhuriyet neben vielen anderen – und Fernsehstationen wie CNN Türk nichts ändern. In ihrer Fotoausstellung im Marine-Museum von Beşiktaş forderten die Meeresbiologen, dass dieser überschaubare See ausgewiesene Schutzzonen erhält. Wer weiß, ob er sich vom menschlichen Raubbau erholt.

Von: 
Stefan Pohlit

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