Der Tod des Filmemachers Shady Habash lässt Autor Wael Eskandar an einen Freund gleichen Vornamens denken – und an den Umgang der Ägypter mit Unrecht und Verlust.
Ich kannte Shady Habash nicht. Das heißt, ich kannte ihn nicht persönlich. Er war nicht mein Freund. Er war wahrscheinlich jemand, von dem ich wohl nie erfahren hätte. Vielleicht hätten sich unsere Wege gekreuzt, wenn ich weiter mit Shady Abu Zeid an Satire-Sendungen gearbeitet hätte. Doch dann wurde Shady Abu Zeid verhaftet – wahrscheinlich wegen eines Witzes. Auch Shady Habash wurde in Gewahrsam genommen – wegen eines Musikvideos, bei dem er Regie geführt hatte. Ich selbst war weder an dem Scherz des einen Shady, noch an dem Video des anderen Shady direkt beteiligt. Ich wurde nicht verhaftet. Und dennoch hörte ich auf, an solchen Projekten zu arbeiten.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn ich aus Angst einen Rückzieher gemacht hätte. Ehrlich gesagt, wäre es ein besserer Grund gewesen. Es hätte mehr Sinn gemacht. Ich warf die Brocken aus Verzweiflung hin. Shady Abu Zeid hatte mir beigebracht, die Macht des Humors zu nutzen, um ernsthafte Probleme anzusprechen. Daran hatten wir noch kurz vor seiner Verhaftung gearbeitet. Kein politisches Projekt. Es war ein Lied, das wir geschrieben hatten, um eine bestimmte Kontroverse zu illustrieren. So gefiel ihm seine Arbeit. Sie war provokativ und bedeutsam, nicht so vorhersehbar und repetitiv, nicht nur für den Applaus geschaffen.
Shady Abu Zeid ist Blogger und Satiriker. Mit seinen Videos wurde er im ganzen Land bekannt. Er interviewte Menschen auf der Straße, stellte ihnen seltsame Fragen und bekam lustige Antworten. Am 25. Januar 2016 veröffentlichte er ein Video, in dem er Luftballons aus aufgeblasenen Kondomen an die Sicherheitskräfte verteilte. Der Streich ging, zur Bestürzung des Innenministeriums, viral. Zwei Jahre später klopfte es früh morgens an Shadys Tür. Er wurde festgenommen, ohne Anklage.
Erst im Mai 2018, als Shady Abu Zeid verhaftet wurde, hörte ich das erste Mal von einem anderen Shady: Shady Habash. Zunächst war ich verwirrt: zwei Sahdys im Tora-Gefängnis in Kairo? Tatsächlich handelte es sich um unterschiedliche Shadys, in verschiedenen Zellenblöcken. Trotzdem blieb es schwierig für uns, sie auseinanderzuhalten, denn sie hatten gemeinsame Freunde. Wenn sie uns Nachrichten übermittelten, konnten wir nie sicher sein, welche Nachricht von welchem Shady stammte.
Kunst ist kein Luxus, sie ist vielmehr wesentlich im Kampf gegen die Hässlichkeit der Ungerechtigkeit.
Shady Habash starb im Gefängnis. Vor seinem Tod hatten seine Zellengenossen noch um medizinische Hilfe für ihn gefleht. Doch der Wärter öffnete die Zellentür nicht. Das ist keine Ausnahme, das ist Politik. Es ist schwer für mich, Worte zu finden, die beschreiben können, was dort geschehen ist. Die offizielle Beschreibung als »vorsätzliche Fahrlässigkeit gegenüber menschlichem Leben« reicht einfach nicht aus.
Tatsächlich erscheint die Vorstellung, dass die Wärter die Zelle öffnen, um zu helfen, irgendwie lächerlich. Sie haben sich sowieso nie um sein Leben gekümmert. Der einzige Grund, warum sie ihn wegen des Musikvideos nicht direkt ermordeten, war wohl, dass es unbequem geworden wäre. Sie haben sich nie darum gekümmert, dass er ein kreativer junger Mann war. Ohne Vorladung vor Richter oder Jury nahmen sie ihm die Freiheit. Shady Habash wurde verhaftet, weil jemand verärgert war, nicht weil er etwa gegen ein Gesetz verstoßen hatte. Weder verhörte man ihn, noch stellte man ihn vor Gericht. Die Untersuchungshaft war das Urteil. Es lautete: Tod durch Untersuchungshaft.
Es hat etwas besonders Herzzerreißendes, wenn die Kreativsten unter uns ihrer Freiheit beraubt werden. Ihre Verhaftungen sind nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern stellen einen direkten Angriff auf die Kreativität dar, ja auf die Kunst selbst. Es ist ein direkter Angriff auf das, was uns am Leben hält. Kunst ist kein Luxus, sie ist vielmehr wesentlich im Kampf gegen die Hässlichkeit der Ungerechtigkeit – Kunst und Ungerechtigkeit stehen sich diametral gegenüber.
Aus diesem Grund tat es immer weh, zufällig auf Nachrichten über Shady Habash zu stoßen, während ich etwas über meinen Freund Shady Abu Zeid herausfinden wollte. Diese beiden jungen Menschen sind für das Regime ganz andere Ziele. Sie sind keine politischen Aktivisten wie Mahienour el-Massry oder Alaa Abd El Fattah oder die vielen anderen, die sich mit ihren politischen Überzeugungen dem Autoritarismus des Regimes entgegenstellen. Sie sind einfach Künstler. Als würde das alles nicht zählen, schmoren heute all diese Menschen gemeinsam in Ägyptens Gefängnissen.
So gehen wir heute mit Tragödien um. Wir wissen, dass wir ihnen nicht ausweichen können. Und wenn sie uns dann einholen, beten wir, dass sie nicht unsere Nächsten treffen.
Shady Abu Zeid verbrachte mehr als zwei Jahre im Gefängnis. Man wollte ihn und seine Familie quälen. Denn für Februar 2020 war eigentlich seine Freilassung angeordnet worden. Doch nur wenige Augenblicke, bevor er seine Freiheit zurückerlangt hätte, erfand man neue Vorwürfe. Die Anklage lautete: Versuchter Regimesturz. Heute sitzt er immer noch im Gefängnis.
Die Nachricht über Shady Habashs Tod am 2. Mai 2020 hat mich erschüttert. Es war ein Gefühl des völligen Verlusts, der völligen Hilflosigkeit. Aber wenn ich ehrlich bin, war ich dankbar, dass wir uns nie zuvor begegnet waren. Ich war dankbar, dass er nicht jemand war, der mir nahestand.
Ich war dankbar, dass es nicht der Shady war, den ich kannte. Auch wenn es Shadys Angehörigen gefühllos erscheinen mag, war ich dankbar, dass es nicht »mein« Shady war. Vielleicht hätten auch sie sich gewünscht, dass der tote Shady nicht »ihr« Shady wäre. So gehen wir heute mit Tragödien um. Wir wissen, dass wir ihnen nicht ausweichen können. Und wenn sie uns dann einholen, beten wir, dass sie nicht unsere Nächsten treffen.
Der Tod von Shady Habash ähnelt dem von Khaled Said. Sowohl Shady als auch Khaled waren junge Männer, die ihr Leben noch vor sich hatten. Beide Opfer des ägyptischen Sicherheitsapparates. Die Ermordung von Khaled Said im Juni 2010 durch die Polizei in Alexandria sollte mittels einer riesigen staatlichen Vertuschungsaktion vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Stattdessen entwickelte sie sich zum wichtigen Faktor im Vorfeld der Revolution von 2011. »Wir alle sind Khaled Said«. Mit dieser Parole erklärten die Menschen auf der Straße ihre Solidarität.
Wir alle sind Shady Habash – das Gegenteil von Khaled Said.
Heute sind wir alle Shady Habash. Das ist nicht als politische Selbstdarstellung gemeint. Auch wir haben den Wandel damals selbst mitgemacht. Wir haben alle gemeinsam beschlossen, dass der Mord des Staates an Khaled Said nicht ungestraft bleiben darf. Doch wir können nicht mehr Khaled Said sein. Khaleds Tod hat eine Nation wachgerüttelt, die protestiert, gehandelt und versucht hat, die Ungerechtigkeit zu beenden. Wir haben damals freiwillig beschlossen, Khaled Said zu sein, und es gab viele. Sie standen auf, um für die vielen Khaled Saids zu kämpfen, die gestorben sind.
Wir können nicht länger Khaled Said sein. Das ist vorbei. Heute sind wir alle Shady Habash. Das bedeutet, dass niemand in unserem Namen protestieren wird. Wir werden uns in Schweigen und Trauer davonmachen. Die Zensur bedeutet, dass die Nachricht über unseren Tod ungelesen bleibt. Unsere gedämpften Stimmen machen es uns unmöglich, das Regime anzuklagen, das uns ermordet hat. Diese Anklage würde bedeuten, unsere Familien und Freunde zum gleichen Schicksal zu verurteilen. Wir alle sind Shady Habash – das Gegenteil von Khaled Said.
Nach der Ermordung von Khaled Said übten andere Länder noch Druck aus, obwohl sie doch eigentlich eng mit dem Mubarak-Regime verbandelt waren. Heute verhallt unser Sterben bei der internationalen Gemeinschaft ungehört. Tatsächlich befördern die kolonialistischen Mächte unsere Verwandlung – Mächte, deren Münder voller Plattitüden und Versprechungen von Demokratie sind, während ihre schmutzigen Hände dem Regime die Waffen hinterherschmeißen.
Diese Zeit ist geprägt von unserer Hilflosigkeit. Es gibt niemanden, bei dem wir Lobbyarbeit machen können, einfach niemanden, dem wir die Hand reichen können. Wenn jemand verhaftet wird, bleiben uns zwei Möglichkeiten. Entweder starten wir eine öffentliche Kampagne, um auf unsere Notlage aufmerksam zu machen, oder wir schweigen. Beides funktioniert nicht. Mediale Kampagnen sind kein wirksames Mittel mehr. Der Westen, der früher noch auf Menschenrechtsverletzungen reagierte, ist zum Komplizen des Regimes und seiner Verbrechen geworden und wird keinen Finger rühren, um bloß nicht eigene Interessen zu gefährden. Außerdem rufen Medienkampagnen die ägyptischen Behörden auf den Plan und lässt sie noch ruchloser agieren. So kann jeder Versuch, den Menschen hinter Gittern zu helfen, sie am Ende verletzen.
Während die Welt gegen die Corona-Pandemie kämpft, verenden wir jämmerlich in der Pandemie der systemischen Ungerechtigkeit.
Die Alternative besteht darin, zu schweigen und an den Türen des Regimes klopfen, um die Angelegenheit zu klären. Insbesondere, weil es ja oft gar keinen legitimen Grund für eine Verhaftung gibt. Ein solches Vorgehen verärgert das Regime zwar nicht, aber da es keinen Druck gibt, muss es sich keinen Zentimeter bewegen. »Sperrt sie ein und werft den Schlüssel weg« – so lässt sich diese Haltung zusammenfassen. Schließlich würde Frankreich nicht im Traum daran denken, seine florierenden Waffengeschäfte zu gefährden. Denn Ägypten war ja zwischen 2013 und 2017 größter Abnehmer.
Dann der Mord an dem italienischen Doktoranden Giulio Regeni, der beweist, dass Italien sich nicht mal wirklich um das Leben seiner eigenen Bürger schert. Geschweige denn das Leben der Ägypter. Und dann ist da Deutschland: Im Bemühen, Flüchtlinge fernzuhalten und den Bau des Siemens-Gaskraftwerks zu realisieren, laufen die U-Boote aus den Thyssen-Krupp-Werften in Kiel in Richtung Mittelmeer aus – für die ägyptische Marine. Die gleichen Geschichten könnte man auch für Kanada, Griechenland, die Niederlanden, Spanien, Großbritannien und die USA erzählen.
Die Opfer des ägyptischen Regimes haben keine echten Verbündeten, ganz im Gegensatz zu den Tätern. Damit müssen wir leben. Wir sind zu unbedeutend für die große Weltpolitik.
Es ist ein unerbittlicher Kampf, immer weiterzumachen und irgendwo noch einen Sinn darin zu finden. Es ist ein Kampf, diese Gedanken immer und immer wieder neu zu Papier zu bringen. Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem inneren Widerstand, mich andauernd vergeblich zu wiederholen und der tatsächlichen Notwendigkeit, diese unerträglichen Verhältnisse offen anzuklagen. Während die Welt gegen die Corona-Pandemie kämpft, verenden wir jämmerlich in der Pandemie der systemischen Ungerechtigkeit.
Erinnern und Überleben, zwei gegensätzliche Aufgaben, die mit der Zeit immer schwieriger in Ägypten werden.
Wie können wir weitermachen? Wie werden wir widerstandsfähiger? Welche Bedeutung hat Widerstandsfähigkeit für uns überhaupt? Vielleicht bedeutet es einzustecken, Schlag für Schlag. Das Gewicht dieser Schmerzen wächst, die Last dieser Tragödien, die ich miterlebe, ist mein ständiger Begleiter. Von Tag zu Tag fühle ich mich hilfloser und kämpfe damit, die Wut in mir zu behalten, anstatt dem Gefühl der völligen Niederlage und Verzweiflung nachzugeben.
Ich möchte diese Wut nicht verlieren und auch nicht die Erinnerung an die Ungerechtigkeiten. Denn dann verliere ich meine Menschlichkeit. Je mehr ich meine Grenzen erfahre, desto klarer wird mir, dass ich schwächer werde. Ich vermisse die Tage, an denen ich naiv glaubte, dass ich etwas bewirken könnte. Denn dieser Glaube spornte mich zum Handeln an, auch wenn es letztendlich vergeblich war.
Während die Zeit unerbittlich voranschreitet, verliere ich mich in meiner wachsenden Bedeutungslosigkeit. Es scheint, als sollte ich mich von dem, was ich gesehen habe, befreien. Doch umso klarer wird die Dringlichkeit daran festzuhalten. Was ist denn sonst noch zum Festhalten geblieben außer meiner Integrität? Es wäre verheerend, so hilflos zu sein, um dann auch noch meine Integrität aufzugeben. Ich muss mich überzeugen, an Wut und Wahrheit festzuhalten, auch wenn ich nichts mehr ändern kann.
Zeuge von Ungerechtigkeit zu sein, ist ein verfluchtes Privileg. Es bedeutet: wissen, ohne die Möglichkeit, sinnvoll zu handeln. Ohne Dinge verändern zu können. Meine einzige Tat ist das Erinnern. Das ist nicht so einfach, wie es zunächst klingt. Denn ich darf nicht zusammenbrechen – ich muss überleben. Erinnern und Überleben, zwei gegensätzliche Aufgaben, die mit der Zeit immer schwieriger werden.
Wael Eskandar wurde 1980 geboren und verbrachte seine Kindheit zwischen Ägypten und den Golfstaaten. Schon vor dem Arabischen Frühling war er politisch aktiv und gründete 2006 seinen Blog »Notes from the Underground«. Als freier Journalist schrieb Wael Eskander unter anderem für Al-Ahram, Daily News Egypt, Jadaliyya und Mada Masr.