Sie waren Putzfrauen oder Fabrikarbeiterinnen – und bildeten das Rückgrat türkischer Familien in Deutschland. Im Ruhestand erschließen sich einige von ihnen neue Freiheiten – doch Verbitterung über fehlende Anerkennung ihrer Lebensleistung bleibt.
Der Tisch von Tülay und Hatice* ist üppig mit süßem Gebäck, Kuchen und schwarzem türkischen Tee gedeckt. Regelmäßig treffen sich die beiden Rentnerinnen, unterhalten sich, singen türkische Lieder und helfen sich gegenseitig. Ihre Ehemänner, mit denen sie vor fast einem halben Jahrhundert nach Deutschland gekommen waren, sind mittlerweile verstorben.
Bevor Tülay Hasdemir 1977 mit 24 Jahren nach Deutschland kam, hatte sie bereits fünf Jahre als Lehrerin in der Türkei gearbeitet. Ihr Mann Hassan arbeitete damals bei Blohm+Voss als Schweißer, genauso wie sein Vater, der bereits elf Jahre zuvor als Arbeitsmigrant nach Deutschland gekommen war. In einem Sommerurlaub in der türkischen Heimat wurde Hassan dann Tülay vorgestellt, kurze Zeit später waren sie verheiratet.
»Ich kannte ihn gar nicht und hatte meine Freiheiten in der Türkei sehr genossen.« Das änderte sich, als sie mit ihrem Ehemann zu ihren Schwiegereltern ins Hamburger Karolinenviertel zog. »In einem so schönen Land wie Deutschland war ich eingesperrt in etwas, das ich ein modernes Gefängnis nennen kann«, sagt sie und hält ihre Hand an ihre Kehle. »Es hat mir die Luft abgeschnürt.« Kalter Schweiß laufe über ihren Rücken, wenn sie an diese Zeit zurückdenke. Bevor sie weiterspricht, bittet sie ihre Freundin Hatice zu übernehmen.
Hatice kann den Schmerz ihrer Freundin nachempfinden. Auch sie kam im Zuge einer Familienzusammenführung nach Deutschland. Sie hatte zuvor in der türkischen Küstenstadt Izmir einige Jahre in einer Fabrik gearbeitet, als sie jenem Mann vorgestellt wurde, der ihr Ehemann werden sollte. Weder mit der Heirat noch mit dem Umzug nach Deutschland war sie einverstanden. In Izmir hatte sie einen lebhaften Alltag und ein großes soziales Umfeld.
In Deutschland kannte Hatice niemanden und wohnte später zu fünft in einer winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Toilette war in einem Holzverschlag untergebracht, ihre Kinder hatten keine eigenen Zimmer und ihr Mann wollte sich nicht um eine größere Wohnung kümmern.
Erst 19 Jahre später besorgte Hatice selbst eine größere Wohnung, ohne ihrem Ehemann etwas zu erzählen. »Wir hatten Geld, aber lebten in dieser Wohnung Das war das Schlimmste.« Sie schluckt kurz, wendet ihr Gesicht ab und versucht noch, die Trauer zu kaschieren, als Tülay sie tröstend in den Arm nimmt. Sie versucht noch zu ergänzen: »…. und ich wollte für meine Kinder ...«, schafft es aber nicht weiter, als ihr die Tränen in die Augen schießen.
Tülay will nicht nachtragend sein. Aber es fällt ihr schwer, wenn sie daran denkt, was aus ihrem Leben hätte werden können, was sie geopfert hat. »Ich wollte hier als Lehrerin arbeiten. Ich hätte auch ohne Geld zu verdienen gearbeitet. Ganz egal. Das wäre für mich kein Problem gewesen. Ich hätte wirklich gern gearbeitet«, erzählt Tülay, wobei ihre Trauer in Wut umschlägt, denn zur Untätigkeit verdammt gewesen zu sein, war für sie besonders schwer.
Tülay und Hatice haben viele solche Geschichten, die zeigen, wie schwer es für die beiden Frauen war, in Deutschland anzukommen. Immer, so wird klar, stand die Rückkehr in die Türkei im Raum. Schließlich waren sie doch nur gekommen, um ein wenig Geld zu verdienen. An den Deutschen haben ihre Probleme nicht gelegen, glauben beide.
Die Frauen können sich nur an nette Nachbarn und Nachbarinnen erinnern, an rücksichtsvolle und hilfsbereite Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen. Einmal, so erzählt Hatice, habe ihr ein fremder Mann völlig unvermittelt im Supermarkt Schokolade geschenkt und sie gebeten, nicht in die Türkei zurückzukehren. Aber ohne Berufsausbildung oder Sprachkenntnisse und ohne soziales Umfeld in Deutschland, fern von der Familie in der Türkei, blieben die Gedanken an die Heimat stets präsent.
Als 1983 das Rückkehrhilfegesetz Freiwilligen für eine dauerhafte Rückkehr in ihre Herkunftsländer bis zu 15.000 D-Mark in Aussicht stellte, überlegten sie erneut. Für Tülay und Hassan war das eigentlich die Gelegenheit, die sie wahrnehmen wollten. Doch die Hamburger Werft wollte einen ihrer besten Schweißer nicht ziehen lassen. Blohm+Voss weigerte sich daher, seinen Vertrag aufzulösen, womit die Familie keinen Anspruch auf das Rückkehrgeld hatte. Und so blieben sie.
»Wir haben einen wichtigen Beitrag zur deutschen Wirtschaft geleistet, schließlich war früher alles zerstört«, sagt Hatice. »Binnen kurzer Zeit haben wir mit der Kraft der Türken, ihrer Arbeit, ihrem Einsatz Deutschland wiederaufgebaut«, fährt Tülay fort. »Sie kamen von der Arbeit und gingen gleich wieder zur Arbeit«, nickt Hatice. »Das wurde nie gewürdigt«, schüttelt Tülay enttäuscht ihren Kopf. »Die Deutschen heben dich auf ihre Hände und nachdem man sich jahrzehntelang für sie aufgeopfert hat, lassen sie dich fallen«, sagte ihr verstorbener Ehemann stets, erinnert sich Hatice.
»Der Einsatz der Frauen hinter den Kulissen hat den Laden zusammengehalten«
Der Beitrag der türkischen Arbeitsmigranten zum deutschen Wirtschaftsaufschwung in den vergangenen 60 Jahren wäre ohne die türkischen Frauen nicht möglich gewesen, davon sind beide überzeugt. »Der Einsatz der Frauen hinter den Kulissen hat den Laden zusammengehalten«, fasst Tülay zusammen. Dafür haben sie ihre Lebensträume geopfert, worüber aber heute niemand mehr spricht.
Hätten sie in der Türkei einen anderen Lebensstil gehabt? Beide nicken energisch. »Ja, in der Türkei geht man raus, hier bleiben alle drin.« Nicht nur fehlende Sprachkenntnisse verhinderten das Sprechen über ihre Leidensgeschichte. In Deutschland hatten tausende türkische Frauen kein soziales Umfeld, welches einen Austausch ermöglicht hätte, und Familienangehörigen in der Türkei konnten sie aus Scham nichts davon erzählen.
Ihre Ehemänner und Kinder hingegen nahmen eher am gesellschaftlichen Leben teil, fanden Freunde und Freundinnen und konnten sich irgendwie auch mitteilen. Die Hausfrauen aber lebten isoliert und abgetrennt vom Rest der Gesellschaft zu Hause. Mit der Doppelbelastung von Kindern und Haushalt war eine Arbeit außerhalb der Wohnung kaum möglich.
Erst als die Kinder alt genug waren, nahmen einige Arbeitsmigrantinnen zusätzlich zum Haushalt Aushilfsjobs in Fabriken an oder arbeiteten als Putzkraft. Zeit zum Spracherwerb blieb den meisten nicht, ohnehin standen dafür auch keine Angebote zur Verfügung. »Damals haben die Männer nicht im Haushalt geholfen. Gott sei Dank sind die jüngeren Männer heute anders und unterstützen, aber damals war das nicht so«, erzählt Hatice lachend und rechtfertigt so ihr gebrochenes Deutsch.
Erst seit ihre Ehemänner gestorben sind, konnten sich Tülay und Hatice aus ihrer Isolation befreien, haben sich Hobbys und ein soziales Umfeld gesucht und viele Freundinnen und Leidensgenossinnen gefunden. Heute singen sie im Chor, treffen sich zum Teeklatsch und verreisen gemeinsam. Wenn sie sich dann ihre Geschichten erzählen, stellen sie fest, dass sie alle Ähnliches erlebt haben und wie das Sprechen darüber hilft.
Inzwischen führen Tülay und Hatice ein gutes Leben. Lachend erzählen sie, dass sie nun viel Zeit in ihren Ferienwohnungen am Strand in der Türkei verbringen. Aber was hält sie dann eigentlich noch hier? »Unsere Kinder leben hier.« Wenn die beiden lebensfrohen und gesprächigen Rentnerinnen von ihren Plänen erzählen, lächeln sie. Doch die Zerrissenheit bleibt. Hatice fasst es so zusammen: »Wenn ich hier in Deutschland bin, will ich zurück. Wenn ich in der Türkei bin aber auch.«
* Namen von der Redaktion geändert