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Fußballer Mohamed Salah und der Personenkult in Ägypten

Der Mann, der Sisi alt aussehen lässt

Portrait
Der Mann, der Sisi alt aussehen lässt

Auf Mohamed Salah vereinen sich die Träume und Erwartungen eines ganzen Landes. Was Ägyptens Ausnahmestürmer mit seiner Popularität erreichen und verändern kann – und was nicht.

Normalerweise teilt Mohamed »Mo« Salah auf seinem Twitter-Account Eindrücke vom Mannschaftstraining, Begegnungen mit Fans sowie Highlights seiner Auftritte für den FC Liverpool. Am 29. April 2018 sahen die knapp 5,7 Millionen Twitter-Follower des 25-jährigen Fußballers hingegen eine kurze, kryptische Nachricht auf Arabisch: »Es ist schade, dass die Art des Umgangs eine Beleidigung war. Ich hoffe, dass die Sache auf zivilisiertere Art und Weise geregelt werden kann«.

 

Auf den ersten Blick ein unverfänglicher Post, der nicht einmal verrät, worum es eigentlich geht. Für Aufklärung sorgte aber Salahs Agent und Spielerberater Ramy Abbas. Sponsor Telecom Egypt (TE) hatte den Mannschaftsflieger für die WM in Russland mit dem Konterfei ihres Superstars beklebt – ohne um Erlaubnis zu fragen. Die Bildrechte lagen aber beim TE-Konkurrenten Vodafone.

 

Alles nur ein profaner Lizenzstreit oder ein Zeichen des Widerstands des populärsten Fußballers Ägyptens? Immerhin stand bei dem Rechtsstreit mit der TE-Tochter WE auf der Gegenseite ein Konglomerat, das nicht nur den Mobilfunkmarkt in Ägypten dominiert, sondern auch eng mit Geheimdienst und Sicherheitskräften verbandelt ist. Jenem Apparat, der die Kommunikation kontrolliert und nicht zuletzt die beispiellose Verhaftungswelle zehntausender Ägypter in den vergangenen Jahren vorangetrieben hat und als Stütze des Sisi-Regimes gilt.

 

Wie hält es Ägyptens wohl bester Fußballer aller Zeiten mit dem Sisi-Regime?

 

Dieses Machtbewusstsein trat wohl auch im Umgang mit dem Fußballer zutage. Salah-Berater Abbas hatte sich vor allem über die herablassende und paternalistische Attitüde des Verbandes und seines Premiumpartners echauffiert. Die spielten zunächst die Populismus-Karte: Als Nationalspieler gehöre Salah ja eigentlich allen Ägyptern. Eigentlich ein sicherer Schachzug.

 

Doch die Reaktion fiel nicht nur anders als erwartet aus, sie nahm auch Dimensionen an, mit denen die ägyptischen Behörden offensichtlich nicht gerechnet hatten. Unter dem Hashtag #ادعم_محمد_صلاح, zu Deutsch »Ich stehe zu Mohamed Salah«, bezog die unscheinbare Auseinandersetzung ein Millionenpublikum im Netz ein, das sich überwiegend auf die Seite des Fußballers stellte. Binnen 24 Stunden schnellte der Hashtag an die Spitze der Twitter-Listen – nicht nur in Ägypten, sondern im gesamten Nahen Osten. Wenige Tage später knickte der Verband ein und teilte einsilbig mit, dass man Salahs Forderungen allumfänglich nachgekommen sei.

 

Die Episode bereitete den Raum für die Gretchenfrage, die Salahs Cinderella-Story seitdem begleitet: Wie hält es Ägyptens bester Fußballer aller Zeiten mit dem Sisi-Regime? Wie beständig ist der Erfolg auf dem Platz, um als Stimme in der Gesellschaft eine Position einzunehmen? Wie soll ein Sportler wie Salah mit den vielen, oft widersprüchlichen, Erwartungen umgehen, mit denen er überfrachtet wird?

 

Warum ein profaner Lizenzstreit die Debatte um Salahs gesellschaftspolitische Rolle befeuerte

 

Es sind Fragen, die seit dem Frühjahr an Fahrt aufgenommen haben. Anfang März hatte ein Kolumnist der halbstaatlichen Al-Ahram Salahs Haarschopf und Bartwuchs moniert, der ja Anlass zur Verwechslungsgefahr mit Terroristen geben und damit dem Ansehen Ägyptens schaden könnte. Auch damals stießen solche Äußerungen auf Ablehnung. Doch obwohl es sich um einen sehr viel persönlicheren Angriff handelte, löste der spätere eine weit größere Welle der Empörung aus.

 

Dabei mag der Zeitpunkt eine Rolle gespielt haben: Nur wenige Tage zuvor hatte Salah mit zwei Toren und zwei Vorlagen sein Team im Hinspiel des Champions-League-Halbfinales gegen den AS Rom in eine komfortable Ausgangslage für den erstmaligen Finaleinzug seit elf Jahren gebracht. Dann heimste der Ausnahmestürmer auch noch die die Auszeichnung zum Spieler des Jahres und die Torjägerkanone der Premier League ein – der bisherige Höhepunkt der Salah-Euphorie. In den Reaktionen auf den Rechtsstreit mit dem Verband scheint deutlich der Stolz auf den Fußballer durch, der es als erster Araber auf eine Stufe mit Lionel Messi und Cristiano Ronaldo schaffen kann – und der Vorwurf, dass sich der Verband mit fremden Lorbeeren schmückt, die Hand aufhält, um sich zu bereichern, und den Sympathieträger Ägyptens in der Welt bevormundet wie ein kleines Kind.

 

Obwohl die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Verband um die Bildlizenz vergleichsweise schnell aus der Welt geräumt wurde, legten die Reaktionen viel tiefer liegende Ressentiments gegenüber Staat und Regime offen. Sie brachen sich in der Causa Salah wohl auch deswegen Bahn, weil der Raum für Kritik in Ägypten de facto geschlossen wurde.

 

Sollte Ägypten Saudi-Arabien aus dem WM-Turnier schießen, werden viele Ägypter eine Genugtuung empfinden, die über den sportlichen Triumph hinausgeht

 

Natürlich, das digitale Bekenntnis zu Salah muss nicht zwingend ein Akt des Widerstandes gegen das Sisi-Regime sein. Das Bedürfnis vieler Ägypter nach einem Volkshelden, der zumindest für ein paar glückliche Momente die bleierne Realität vergessen macht, lässt sich nicht verhehlen. Viele Ägypter erwarten überhaupt nicht, dass sich Salah politisch positioniert oder lehnen das gar ab. Dennoch werden bei der Fußball-WM in Russland politische Untertöne kaum zu vermeiden sein.

 

Das liegt nicht nur daran, dass die Beziehung von Sport und Politik gerade bei dieser WM so im Fokus steht. Seitdem viel kritisierten Treffen der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem wahlkämpfenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist diese Debatte auch in Deutschland angekommen. Fragen nach Russlands Rolle in der Welt, dem Nahen Osten, in Syrien, darüber hinaus die Instrumentalisierung des Sportereignisses zur politischen Imagepolitur werden die Berichterstattung des Turniers begleiten.

 

Und wenn Ägypten am letzten Gruppenspieltag, dem 25. Juni, Saudi-Arabien aus dem Turnier schießt und ins Achtelfinale einziehen sollte, werden viele Ägypter eine Genugtuung empfinden, die über den sportlichen Triumph hinausgeht. Ein Gefühl, es dem Land, dem man sich seit Beginn der Sisi-Herrschaft widerspruchslos fügen müsste, endlich mal gezeigt zu haben. Eine Bestätigung, dass Ägypten doch noch »Umm Al-Duniya – die Mutter der Welt« ist, der natürlicherweise die Führungsrolle in der arabischen Welt zufällt.

 

Sisi und Salah konkurrieren in der öffentlichen Wahrnehmung auch um das moralische Musterbild der ägyptischen Gesellschaft

 

Es sind Emotionen, die das Sisi-Regime für sich nutzen will und muss. Die politische Resignation, die das Regime maßgeblich mit seinem unerbittlichen Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft vorangetrieben hat, schlug sich in der geringen Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen im April nieder. Autoritäre Regime, die auf Populismus setzen, können den demokratischen Prozess aushöhlen, sind aber dennoch auf Akklamation angewiesen.

 

Eben diese Zustimmung ließen fast eine Million Ägypter ihrem Hoffnungsträger zuteilwerden: Sie strichen die Namen der gelisteten Kandidaten durch und fügten handschriftlich Mohamed Salah hinzu. Der Fußballer erhielt damit mutmaßlich mehr Stimmen – obwohl diese nicht gewertet wurden – als Sisis Marionetten-Herausforderer Moussa Mustafa Moussa.

 

Trotz der manchmal übertrieben anmutenden Verehrung für Salah wird kaum ein Ägypter ein politisches Mandat für den Fußballer einfordern – ganz im Gegenteil. Der Protest auf dem Stimmzettel symbolisiert für viele ja gerade den Kontrast zwischen der politischen Elite und ihrem Volkshelden. Insbesondere der Präsident kommt bei diesem Vergleich schlecht weg, denn Sisi und Salah konkurrieren in der öffentlichen Wahrnehmung auch um das moralische Musterbild der ägyptischen Gesellschaft. Beide stiegen nicht zuletzt zu Sympathieträgern auf, weil sie aus bescheidenen Verhältnissen stammen. Die Armee und der Sport stehen in Ägypten für die Institutionen, die die größte soziale Mobilität zulassen – und den Charakter formen.

 

Darum schrieben so viele Ägypter bei den Wahlen im April Salahs Namen auf den Stimmzettel

 

Nach fünf Jahren an der Spitze des Staates hat Sisi viele Vorschusslorbeeren eingebüßt – und wirft ein schlechtes Licht auf die Art von Führungspersonal, die das Militär hervorbringt. Angetreten als bescheidener Diener des Volkes, erscheint der Präsident vielen Bürgern heute als kleingeistiger Bürokrat, der die Klaviatur der Kommandowirtschaft beherrscht, aber den komplexen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen Ägyptens weder intellektuell noch emotional gewachsen ist. Schlimmer noch: Er hat die korrupten Eliten rehabilitiert, von denen sich die Armee in den ersten postrevolutionären Jahren noch distanziert hatte, solange sie ihm die Treue schwören und sich zu seinem Entwicklungsplan für Ägypten bekennen.

 

In Salah hingegen scheinen viele Ägypter wieder den einfachen Jungen von nebenan zu sehen. Heimatverbunden und stolz, zugleich aber menschlich anständig und bescheiden. Es klingt banal: Aber mit seinem Wuschelkopf und dem breiten Grinsen im Gesicht ähnelt Salah nicht nur dem Durchschnitts-Ägypter seiner Generation, er strahlt auch eine positive Version Ägyptens aus. Sisi hingegen wirkt bei öffentlichen Auftritten oft angespannt, selbst populistische Phrasen gehen ihm schwer von der Zunge. Dabei hat sich Sisi in den vergangenen Jahren kaum verändert. Doch der Kontrast zu einer öffentlichen Figur wie Salah – in ihrer Wirkung von einigen Beobachtern bereits mit Naguib Mahfouz und Umm Kulthoum verglichen – lässt Sisi sprichwörtlich alt aussehen.

 

Für ein Regime wie jenes in Ägypten reicht das schon aus, um sich Sorgen zu machen. Und für Mohamed Salah bedeutet das, dass es nicht einmal darauf ankommt, ob und wie er sich politisch öffentlich äußert, sondern sein Verhältnis zum Regime in erster Linie von seiner öffentlichen Wahrnehmung abhängt. Und sowohl dieses Regime als auch Salah werden sich an den Präzedenzfall erinnern, der bis heute das Verhältnis von Staat, Fußball, Fans, Bürgern und Armee prägt.

 

Salahs Jugendidol lebt heute im Exil und steht auf der Terrorliste

 

Mohamed Aboutrika war vor dem Aufstieg von Mohamed Salah ohne Zweifel der populärste ägyptische Fußballer aller Zeiten – für viele Ägypter ist er das bis heute, auch wenn sie sich hüten, das öffentlich zu bekunden. Dreimal in Folge, von 2006 bis 2010, schoss der Stürmer von Al-Ahly Kairo sein Land zum Titelgewinn beim »Africa Cup of Nations«. 2008 erntete er über Ägypten hinaus Sympathien, als er Israels Krieg im Gazastreifen kritisierte.

 

Doch Aboutrikas Blick richtete sich nach der Revolution nach innen – gezwungenermaßen. Bei der Stadionkatastrophe von Port Said im Februar 2012 starben über 70 Menschen. Ägyptens Fußballheld stand auf dem Platz, nach eigenen Angaben sah er mehrere Anhänger seines Klubs sterben – und beendete aus Protest seine Karriere. Die Tragödie führte zur Aussetzung des Ligabetriebs. Um Spielpraxis zu sammeln, lud der FC Basel Ägyptens U23-Mannschaft in die Schweiz – es war der Beginn der internationalen Karriere des damals 19-jährigen Mohamed Salah.

 

Im gleichen Sommer unterstützte Aboutrika öffentlich die Kandidatur des Muslimbruders Mohamed Morsi und stellte sich nach der gewaltsamen Niederschlagung der Morsi-Anhänger im August 2013, bei der über 800 Menschen ums Leben kamen, gegen den Staatsstreich durch das Militär. Seitdem lebt Aboutrika im Exil. 2015 ließen die Behörden sein sämtliches Vermögen beschlagnahmen, seit 2017 steht der heute 39-Jährige auf der Terrorliste wegen seiner Unterstützung für die Muslimbrüder.

 

Wann und warum sich Salah zu den Repressionen in Ägypten äußern wird

 

Aboutrika hat Ägypten nie zur WM geschossen und trotz einer illustren Karriere auch nie weltweiten Ruhm erlangt. Doch obwohl die Episode um den Lizenzstreit den Eindruck vermittelt, dass er ob seiner globalen Bedeutung potenziell mehr wagen könnte als sein Kindheitsidol Aboutrika, hält sich Salah mit öffentlichen Äußerungen zu seinem Heimatland merklich zurück. Muss sich seine Popularität noch einpegeln, um Hebelkraft zu entwickeln? Sie muss in jedem Fall die Fußball-WM überstehen. Denn sollte Ägypten die überbordenden Erwartungen nicht erfüllen, sang- und klanglos in der Vorrunde ausscheiden, kann sich die öffentliche Meinung auch schnell drehen. Dann könnte der jüngst düpierte Verband den Stürmer als gierigen Legionär hinstellen, der sich nur um seine Pfründe in der Premier League schert.

 

Salah gibt kaum Interviews und äußert sich in der Öffentlichkeit so gut wie nie zu seinen politischen Überzeugungen. Über seine persönlichen Positionen zu Wirtschaft und Gesellschaft in seinem Heimatland lässt sich oft nur mutmaßen. Salahs Engagement für sein Heimatland wird in jedem Fall auf absehbare Zeit eine indirekte Form annehmen, das tut es bereits heute: Ein einziges Mal, im Januar 2017, spendete Salah umgerechnet eine Viertelmillion Euro an den staatlichen Entwicklungsfonds »Tahya Misr«. Seitdem hat der Fußballer sein karitatives Engagement sogar noch hochgefahren, investiert allerdings fast ausschließlich in ganz konkrete Bauvorhaben, darunter Schulen, Kliniken und Wasseraufbereitungsanlagen, auf lokaler Ebene. Vielleicht möchte Salah einfach einen direkten, spürbaren Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen leisten, etwa in seinem Heimatdorf Negrig im Nil-Delta. Seine Hilfsaktivitäten lassen sich aber auch so deuten, dass er die von oben verordneten Entwicklungsweg als nicht besonders effektiv ansieht.

 

Im Rahmen der in Ägypten möglichen Kritik wählt Salah so einen konstruktiven Ansatz, der seine Popularität weiter steigern und stabilisieren wird. Gesellschaftspolitische Kritik wird der 25-Jährige aber wohl nicht von sich aus initiieren. Auch Mohamed Aboutrika wurde erst durch die traumatische Verschränkung von Fußball, Politik und Gewalt in seine Rolle gedrängt. Seit den Wahlen im Frühjahr hat das Sisi-Regime die Daumenschrauben noch einmal fester angezogen, lässt auch die letzten kritischen Stimmen verstummen, und bestraft kollektiv wie selektiv eine ganze Generation. Sollte einer dieser Fälle Salah direkt berühren, seien es Angehörige, Freunde oder Wegbegleiter, erst dann wird sich der Fußballer zu Wort melden.

Von: 
Robert Chatterjee

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