2016 wurde der Cambridge-Doktorand Giulio Regeni in Kairo umgebracht. Während die Aufklärung des Verbrechens in einer Sackgasse steckt, ziehen europäische Universitäten nun Konsequenzen.
Am Rande der Wüstenstraße zwischen Kairo und Alexandria wird Anfang Februar 2016 eine Leiche gefunden. Es ist die des 28-jährigen Italieners Giulio Regeni, Doktorand an der Universität Cambridge. Seine Mutter Paola Deffendi wird später sagen, sie habe ihren Sohn nur anhand seiner Nasenspitze identifizieren können.
Dass Regeni mehrere Tage Folter über sich ergehen lassen musste, nachdem er am 25. Januar 2016 – dem 5. Jahrestag der Revolution – auf seinem Weg nach Downtown Kairo verschwand, bestätigt ein gerichtsmedizinisches Gutachten. Sein gewaltsamer Tod überschritt auch eine unausgesprochene rote Linie, die Inhaber westlicher Reisepässen bis dato scheinbar geschützt hatte – und trifft damit einen wunden Punkt in den Nahostwissenschaften: die überfällige Debatte über Sicherheit und Verantwortung im Feld.
»Er war repräsentativ für alle, die zu der Zeit in Kairo geforscht haben«, sagt Jannis Grimm über Giulio Regeni, den er flüchtig kannte. Grimm promoviert an der »Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies« (BGSMCS) der Freien Universität und arbeitet zu Ägypten. Weder sein Auftreten noch seine Forschung über die informelle Gewerkschaftsbewegung in Kairo hätten Regeni laut Grimm zu einem offensichtlichen Ziel gemacht.
Zwei von Grimms Kommilitonen, Ilyas Saliba und Kevin Köhler, waren zum Zeitpunkt von Regenis Verschwinden ebenfalls in Kairo. In der Folge versuchten die drei, ebenso wie viele andere Ägypten-Forscher vor Ort, Festplatten zu verschlüsseln und sensible Daten zu sichern, und beobachteten angespannt die Reaktionen an den heimischen Instituten. Doch dort reagierte man, wie es in der akademischen Welt üblich ist: gemächlich.
Zwar bietet das Methodentraining Starthilfe bei der anonymisierten Interviewführung oder ethischen Belangen, Fragen des Daten- oder Selbstschutzes kommen aber oft nicht zur Sprache
Tatsächlich gehören Sicherheitstrainings nicht zum Standardrepertoire der Sozialwissenschaften. Auch nicht in philologischen Studiengängen, die im Bereich der Nahostwissenschaften angesiedelt sind. Zwar bietet das Methodentraining Starthilfe bei der anonymisierten Interviewführung oder ethischen Belangen, Fragen des Daten- oder Selbstschutzes kommen aber nicht oft zur Sprache.
So wie Giulio Regeni führen aber gerade Studierende und Wissenschaftler dieser Fächer oft Feldforschung in politisch instabilen Kontexten durch. Dabei setzen sie sich nicht nur selbst Risiken aus: »Sondern auch ihre Feldkontakte und Kollegen vor Ort«, wie Grimm anmerkt.
Gemeinsam mit Saliba und Köhler hat er deswegen das Projekt »SAFEResearch« ins Leben gerufen, mit dem sie über sichere Feldforschung informieren. Derzeit arbeiten sie an einem frei zugänglichen Handbuch, unterstützt von investigativen Journalisten, anderen Wissenschaftlern und Netzaktivisten. Zudem bieten sie Workshops an Universitäten an. Mit ihrem Angebot richten sie sich dabei vor allem an Promovierende und erfahrene Forscher, weniger hingegen an Masterstudierende: »Wer gerade das Autofahren lernt, den lässt man auch nicht gleich auf die Straße«, sagt Grimm. Das Bachelor- oder Masterstudium sei nicht primär dazu da, sich im Feld zu beweisen – insbesondere nicht in autoritären oder Konfliktkontexten.
Dalia Abdelhadi sieht das anders. Die Ägypterin ist Professorin am »Center for Middle Eastern Studies« an der Universität Lund in Schweden, deren Leitung sie bis vor Kurzem innehatte. Ihrer Meinung nach sollte der vom Zentrum angebotene Masterstudiengang seine anthropologische Ausrichtung noch vertiefen, Studierende mehr eigene Feldforschung durchführen.
Dennoch: »Ich betreue keine Studierenden mehr, die zu Ägypten arbeiten, und das aus einem egoistischen Grund«, sagt die Direktorin. Ägypten sei nicht mehr sicher, sie wolle im schlimmsten Fall keine Verantwortung übernehmen. Doch es geht ihr nicht nur um das Vertrauen in die ägyptischen Behörden.
»Manchmal behandeln mich Studierende wie ihre Mutter und fangen an, mir Dinge zu verschweigen«, sagt sie. In der Vergangenheit seien Studierende etwa gegen ihr ausdrückliches Abraten auf die Sinaihalbinsel gefahren. »Ich möchte ihnen helfen. Aber das kann ich nicht, wenn sie mir nicht sagen, wo sie genau unterwegs sind«, erklärt die Professorin.
Ähnlich wie in Deutschland orientieren sich die Universitäten in Schweden an den Hinweisen des Auswärtigen Amtes, für den Sinai hat Schweden die Reisewarnung erst vor Kurzem zurückgenommen. Lund ist außerdem eine Kooperation mit der prestigeträchtigen American University of Cairo (AUC) eingegangen, an der auch Giulio Regeni während seines Forschungsaufenthaltes eingeschrieben war. Solange sich ein anderer Betreuer findet, muss Abdelhadi Studierende des CNMS trotz aller persönlichen Entmutigungen ziehen lassen.
»Früher wäre auch niemand auf die Idee gekommen, in Saddams Regime zu fliegen und dort zu gucken, was das Militär für Ökonomien aufbaut«
Dabei verbringen Wissenschaftler mit steigendem akademischem Grad meist nur noch wenig Zeit selber im Feld und können Veränderungen vor Ort nicht direkt wahrnehmen. Wo und wie Regeni indes die letzten Tage seines Lebens verbracht hat, dazu gibt es viele Anhaltspunkte und noch mehr Spekulationen.
Das ägyptische Innenministerium weist bis heute jede Schuld von sich und verkündete im März 2016, fünf mutmaßliche Entführer getötet zu haben. In der Wohnung eines der Beschuldigten seien persönliche Gegenstände Regenis gefunden worden. Im selben Jahr gab der leitende ägyptische Staatsanwalt bekannt, dass Regeni von den Sicherheitsbehörden zwar überwacht, aber nicht festgenommen worden sei.
Schuldige wurden seit Regenis Tod aber nicht nur in Ägypten gesucht. Seine ägyptisch-niederländische Betreuerin und Cambridge-Professorin Maha Abdelrahman ist wiederholt zur Zielscheibe der italienischen Medien geworden, die ihr Fahrlässigkeit oder gar Behinderung der Justiz vorwerfen. Für Jannis Grimm vom BGSMCS sind diese Beschuldigungen eine »brutale Schmutzkampagne«. Dalia Abdelhadi pflichtet bei: »Sie hätte nicht aufhalten können, was passiert ist. Regeni war jemand, der bereits viele Jahre in Ägypten gelebt hatte, die Sprache fließend sprach. Er hatte viele Kontakte. Für ihn war Ägypten seine zweite Heimat. «
Wie 2017 bekannt wurde, verdächtigte einer dieser Feldkontakte Regeni der Spionage und filmte heimlich eine Unterhaltung der beiden über eine britische Finanzierungsquelle für Gewerkschaften. Abdelrahman soll Regeni auf diese Möglichkeit hingewiesen haben. In Großbritannien stellte sich die Eliteuniversität Cambridge demonstrativ hinter Abdelrahman.
Auch viele Kollegen an anderen Institutionen auf der Insel verteidigten die Professorin, etwa in einem offenen Brief, der Ende 2017 im Guardian abgedruckt wurde. Andrea Teti war einer der Unterzeichner.
Der Italiener ist Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Aberdeen und forscht unter anderem zu Ägypten. Im angelsächsischen Raum ist es üblich, dass Feldforschungen im Vorfeld von einem internen Ethikrat der Universität überprüft werden. Dabei geht es längst nicht nur um den Schutz von Studierenden, Wissenschaftlern oder Feldkontakten. Auch die Universität als Institution sichert sich so ab.
»Vielleicht trifft es das nächste Mal jemanden, der in Mexiko zu Drogenkartellen oder zu Wasserverschmutzung in Brasilien arbeitet«
»Zweifellos haben die Repressionen in Ägypten zugenommen«, sagt Teti und verweist auf die geschätzten 60.000 politischen Gefangenen sowie auf die Gängelung von Akademikern, Aktivisten und Journalisten vor Ort. Momentan halten sich keine Studierenden aus Aberdeen in Ägypten auf, obwohl die Universität dazu prinzipiell die Gelegenheit bietet.
Teti hat in der Vergangenheit Promovierende am Nil betreut. Brenzlige Situationen seiner Studierenden im Feld wären etwa auch im Westjordanland nichts Ungewöhnliches. Und erst kürzlich wurde einer seiner Studierenden in der Türkei festgehalten, wo autoritäre Strukturen wie in Ägypten weiter erstarken.
Dass Sicherheitsbedenken trotz intensiver Vorbereitung und Betreuung nie ganz außer Acht gelassen werden können, darüber ist man sich in Berlin, Lund und Aberdeen einig – unabhängig vom Forschungsfeld. »Vielleicht trifft es das nächste Mal jemanden, der in Mexiko zu Drogenkartellen oder zu Wasserverschmutzung in Brasilien arbeitet«, sagt Jannis Grimm.
Verschwundene Studierende und Wissenschaftler würden aber nur immer dann einen langen Schatten auf Akademie und Medien werfen, »wenn sie aus dem globalen Norden kommen«. Laut Grimm gibt es kein Anrecht darauf, jedes Thema zu bearbeiten und die Universitäten dafür geradestehen zu lassen: »Früher wäre auch niemand auf die Idee gekommen, in Saddams Regime zu fliegen und dort zu gucken, was das Militär für Ökonomien aufbaut.«
Die Bekanntgabe von neuen Kooperationen im Wissenschaftsbereich stießen angesichts der schleichenden Ermittlungen im Fall Regeni zuletzt im Sommer 2018 auf offenen Widerspruch von über 200 Akademikern in Großbritannien
Wissenschaft sei kein besserer Journalismus, der von den »Entrechteten der Welt«, wie Grimm es bezeichnet, berichtet. Einer dieser Entrechteten ist Ibrahim Metwally Hegazy. Der Anwalt fungierte als lokaler Berater für Regenis Familie und hatte nach dem Verschwinden seines eigenen Sohnes 2013 die »Vereinigung der Familien der Verschwundenen« gegründet. Über seine Arbeit sollte er vor den Vereinten Nationen in Genf sprechen, wurde aber bei seiner Ausreise am Flughafen Kairo im September 2017 festgenommen. Die ägyptische Regierung wirft ihm die Gründung einer illegalen Organisation vor und hält Hegazy seither in Untersuchungshaft fest.
Internationale Kritik, etwa aus Rom, ist angesichts dieser Praktiken nur verhalten zu hören. Dabei benötige es laut Andrea Teti dringend Druck seitens der italienischen Regierung, um auch den Mord an Regeni aufzuklären: »Kairo ist der Ort, an dem gesucht werden muss!« – da ist sich Teti sicher.
Der italienische Botschafter vor Ort wurde nur vorübergehend abgezogen, sein Nachfolger nahm wenige Tage vor der Inhaftierung Hegazys seine Arbeit auf. Anfang 2018 bedankte sich der ägyptische Präsident Abdel-Fatah Al-Sisi für die bilateralen Wirtschaftskooperationen beider Länder. Anlass war die Inbetriebnahme des Zohr-Gasfeldes durch die italienische Firma Eni, bei der Sisi seinen Willen zur Aufklärung der Causa Regeni bekräftigte. Eni hat seither weitere Gasfelder entdeckt, auch in Migrationsfragen werden Kairo und Rom in Zukunft noch enger zusammenarbeiten.
Die Bekanntgabe von neuen Kooperationen im Wissenschaftsbereich stießen angesichts der schleichenden Ermittlungen im Fall Regeni zuletzt im Sommer 2018 auf offenen Widerspruch von über 200 Akademikern in Großbritannien.
Im Juni war eine Delegation von elf britischen Universitäten nach Ägypten gereist, um unter anderem Verträge über Austauschprogramme für Studierende abzuschließen. Im selben Monat händigten die ägyptischen Behörden Italien mit zwei Jahren Verspätung die Bänder der Überwachungskameras jener Metrostation aus, in der Giulio Regeni zuletzt lebend gesehen worden sein soll. Das Material ist jedoch stark beschädigt. Offiziell angeklagt wurde für den Mord an dem Promovierenden noch immer niemand.