Als Exportnation ist China auf sichere Handelswege angewiesen, zugleich will man sich in der Region als Friedens- und Ordnungsmacht etablieren. Warum sich Beijing vor dem Hintergrund der Huthi-Angriffe im Roten Meer so auffällig zurückhält.
Die Bilder des brennenden Öltankers gingen um die Welt, doch eine Katastrophe konnte noch rechtzeitig abgewendet werden: Knapp einen Monat nach dem Angriff jemenitischer Huthi-Rebellen wurde Mitte September der im Roten Meer in Brand geratene griechische Öltanker »Sounion« erfolgreich geborgen. Die EU-Marinemission »Aspides« teilte per Tweet mit, dass der Tanker in sichere Gewässer verbracht wurde, ohne dass Öl ausgelaufen sei. Das Schiff , das vor der Küste Eritreas lag, hatte rund 150.000 Tonnen Rohöl geladen. Der Vorfall machte erneut auf die dramatischen Folgen der seit Monaten andauernden Huthi-Angriff e im Roten Meer seit November 2023 aufmerksam.
Chinas Eigeninteresse an einer Deeskalation und an der Sicherung von Handels- und Lieferketten liegt auf der Hand. Warum sich Beijing in diesem Konflikt auffallend zurückhält, obwohl es wirtschaftlich stark vom Export abhängig ist, wirft aber Fragen auf. Die Beeinträchtigung der Handelswege ist China offensichtlich ein Dorn im Auge. Bereits zu Jahresbeginn appellierte Mao Ning, die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, deshalb an die Huthi-Miliz, die Angriffe auf Schiff e im Roten Meer einzustellen.
Am 12. und 13. Januar 2024 starteten die Vereinigten Staaten und Großbritannien mit Unterstützung Australiens, Bahrains, Kanadas und der Niederlande eine Reihe von Operationen gegen die Huthis im Jemen mit Luftangriffen und Marschflugkörpern. Mit der Fregatte »Hessen« beteiligte sich auch Deutschland an der EU-Mission »Aspides« zum Schutz der Handelswege im Roten Meer.
Die Containerschifffahrt durch die Meerenge Bab Al-Mandab, die das Rote Meer mit dem Golf von Aden und dem Indischen Ozean verbindet, ging allein zwischen Dezember 2023 und Februar 2024 um 66 Prozent zurück, wie das Kiel Institut für Weltwirtschaft berechnet hat. Immer mehr Unternehmen weichen auf die Route um das Kap der Guten Hoffnung aus, mit drastischen Folgen. »Durch die Angriffe haben sich bei Rotmeer-Passagen die Preise für Container verdreifacht und die Transitzeiten um viele Tage verlängert«, berichtet der FAZ-Korrespondent Jochen Stahnke aus Beijing.
Die meisten Containerschiffe in chinesischem Besitz sind aus steuerlichen Gründen in Panama, Bermuda oder auf den Bahamas registriert
Die Behinderung der Lieferketten trifft die chinesische Wirtschaft zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Die Volksrepublik befindet sich mitten in einer Immobilienkrise, kämpft mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und Deflation. Angesichts dieser Herausforderungen setzt man stark auf den Export.
Dass die Aufforderung des Außenministeriums zur Deeskalation im Roten Meer auf eine Erklärung der Huthis folgte, dernach russische und chinesische Schiffe auch künftig keine Angriffe zu befürchten hätten, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Die meisten Containerschiffe in chinesischem Besitz sind aus steuerlichen Gründen in Panama, Bermuda oder auf den Bahamas registriert, heißt es in einem Bericht des US-Thinktanks »Center for International Maritime Security«. Andererseits geben Medienberichten zufolge vermehrt Schiffe durch entsprechende Funksignale vor, chinesisch zu sein, obwohl sie nicht aus China stammen – aus Angst vor Angriffen.
Chinesische Medien preisen diese Praxis mitunter als Erfolg chinesischer »Soft Power«. »Die Huthi-Miliz hat kein Interesse daran, chinesische Schiffe anzugreifen. Der Grund dafür ist einfach: China verfolgt keine Agenda in der Region und setzt sich ausschließlich für Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region ein«, gab Shen Yi, Professor für Internationale Politik am Fudan-Institut der Universität Schanghai, gegenüber der Zeitung Global Times zu Protokoll. Unerwähnt bleibt dabei, wie stark die Eskalation den Kerninteressen der chinesischen Wirtschaft schadet und auf welch tönernen Füßen das Übereinkommen mit der Huthi-Miliz steht.
So geraten trotz des Abkommens immer wieder russische und chinesische Schiffe ins Visier der Miliz, wie etwa im März der chinesische Tanker »Huang Pu«, der mit russischem Öl beladen war und von den Huthis mit fünf Raketen angegriffen wurde, wie US-amerikanische Quellen berichteten. Der stellvertretende US-Außenminister Kurt Campbell brachte im Oktober dieses Jahres seine Enttäuschung zum Ausdruck, dass sich Beijing mit seiner Militärbasis in Dschibuti nicht der Allianz gegen die Huthis angeschlossen hat. »Wir mussten feststellen, dass die Chinesen direkt mit den Huthis kommunizieren wollten. Die Botschaft lautete im Wesentlichen: Greift doch lieber andere Schiffe an«, zitiert die Hongkonger Zeitung South China Morning Post den US-Politiker.
Chinesische Beamte haben ihre iranischen Kollegen bereits Ende Januar gebeten, bei der Eindämmung der Angriffe auf Schiffe im Roten Meer zu helfen
Etwa ein Zehntel seines Rohölbedarfs bezieht China von Iran, darüber hinaus hat sich Beijing im Gaza-Krieg ausdrücklich auf die Seite der Palästinenser gestellt, nicht zuletzt auch, um sich gegenüber der Haltung der US-Regierung zu positionieren. Paul Nantulya von der National Defense University in Washington glaubt, dass der übergeordnete Wettstreit zwischen China und den USA eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielt: »Die Beteiligung an einer US-Militäroperation würde im politischen und militärischen Establishment als Kapitulation vor amerikanischen Interessen und als Demütigung Chinas angesehen werden«, analysierte der Sicherheitsexperte gegenüber der South China Morning Post.
Zudem betrachtet sich China als Sachwalter des »Globalen Südens«, der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer. Diese Selbstsicht steht im Einklang mit Chinas allgemeiner Ausrichtung als Fürsprecher für Länder außerhalb der westlichen Einflusssphäre, insbesondere in Lateinamerika, Afrika und der arabischen Welt. Dabei positioniert man sich gegen die aus Beijings Sicht als imperialistisch wahrgenommenen Vereinigten Staaten sowie deren Verbündete.
Israel wird in diesem Zusammenhang trotz vormals guter Beziehungen zur Volksrepublik vor allem als US-Alliierter und als imperialistische Macht im Nahen Osten wahrgenommen. In einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau erweitert Sven Hauberg diese Beobachtungen um eine weitere Perspektive. Er zitiert die Asien-Expertin May-Britt Stumbaum vom »Center for Intelligence and Security« der Universität der Bundeswehr München, die erklärt: »Die Chinesen halten sich raus, weil sie über sehr wenig operationelle Erfahrung verfügen und die Gefahr sehr groß ist, dass sie sich blamieren.« Stumbaum gibt zu bedenken, dass China möglicherweise deswegen zurückhaltend agiert, um keine Informationen über die tatsächlichen militärischen Kapazitäten preiszugeben. »Niemand soll wissen, wie stark das chinesische Militär wirklich ist. Aber das würde nicht mehr funktionieren, wenn China sich an Einsätzen beteiligt und seine Schwächen offenlegt.«
Vor knapp eineinhalb Jahren war Beijing zweifelsohne ein diplomatischer Überraschungscoup gelungen. Durch Vermittlung Chinas schlossen Iran und dessen Erzfeind Saudi-Arabien im April 2023 unerwartet ein Abkommen, das die Wiederaufnahme regulärer diplomatischer Beziehungen sowie den Austausch von Botschaftern vorsah. Auf den ersten Blick scheint China als größter Handelspartner der Islamischen Republik über enge Verbindungen nach Iran zu verfügen.
Gegenwärtig überlässt China es anderen Staaten, die eigenen Interessen in der Region zu verteidigen
Dank Beijings Unterstützung ist das Regime auf der internationalen Bühne als vollwertiges Mitglied der Staatenvereinigung BRICS und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit präsent. Im März dieses Jahres hat China zusammen mit Iran und Russland gemeinsame Militärübungen im Golf von Oman durchgeführt.
Eine weitere Ebene könnte also in den engen Beziehungen zwischen Russland und Iran liegen, da Teheran insbesondere wegen des stetigen Nachschubs an Drohnen ein wichtiger Verbündeter Moskaus im Angriffskrieg gegen die Ukraine ist. Jüngsten Medienberichten zufolge soll Iran Geheimgespräche zwischen Russland und den Huthis über die Lieferung von Anti-Schiffs-Raketen vermittelt haben. Diese Entwicklung unterstreicht die immer enger werdenden Beziehungen zwischen Teheran und Moskau. Es ist daher möglich, dass China den Interessen seiner Verbündeten nicht im Wege stehen möchte, gerade da die Erfolgschancen für einen eigenen Reputationsgewinn gering erscheinen, sollte man sich nun plötzlich dagegenstellen.
Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters haben chinesische Beamte ihre iranischen Kollegen bereits Ende Januar gebeten, bei der Eindämmung der Angriffe auf Schiffe im Roten Meer zu helfen – offenbar ohne Erfolg. Dass die Huthis gerade ob der eigenen Erfolge in den vergangenen Monate selbstbewusster auftreten und nicht bloße Befehlsempfänger aus Teheran sind, verkompliziert die Sache aus chinesischer Sicht noch weiter. Zudem ist Beijing in der Region bis auf eine kleine Marinebasis in Dschibuti militärisch kaum präsent. Westliche Beobachter in China berichten, dass die Volksrepublik ihr politisches Gewicht in Teheran auch deshalb nicht mit Vehemenz in die Waagschale werfe, weil es ein Scheitern vermeiden möchte.
Im Konfliktfeld Rotes Meer ist es für die chinesische Führung zurzeit äußerst bequem, die von den USA angeführten Militäroperationen als Kriegstreiberei zu kritisieren, obwohl die Sicherung der Seehandelsrouten auch Beijing zugutekommt. Gegenwärtig überlässt China es anderen Staaten, die eigenen Interessen in der Region zu verteidigen. Das passt schlecht zum Anspruch, als treibende Kraft die globale Sicherheitsarchitektur neu gestalten zu wollen. Im chinesischen Kalkül schadet alles, was den Verbündeten der USA schadet, auch Washington – und nützt letztlich der Volksrepublik. Zudem ist China daran interessiert, sein Image in der muslimischen und arabischen Welt zu verbessern, das durch den Umgang mit den eigenen muslimischen Minderheiten gelitten hat.
Durchaus mit Erfolg: Die Volksrepublik ist derzeit der größte Profiteur des schwindenden Ansehens der USA in den arabischen Öffentlichkeiten. In einer aktuellen Umfrage des »Arab Barometer« in mehreren arabischen Ländern gab mindestens die Hälfte der Befragten eine positive Einstellung zu China an. Doch fest steht auch: Die Beziehungen der Volksrepublik zu Israel haben sich seit den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 rapide verschlechtert, was Beijings Chancen, sich als Vermittler im Nahostkonflikt zu empfehlen, einen empfindlichen Dämpfer versetzt hat.
Johann Fuhrmann leitet seit Juli 2021 das Auslandsbüro China der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Beijing.