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Historiker Stephan Theilig über die Geschichte des Islam in Deutschland

»Wir müssen mehr Star Trek schauen«

Interview
Interview mit Historiker Stephan Theilig
Jasper Goslicki, lizensiert gemäß Creative Commons 3.0

Pragmatismus, Identität und Science-Fiction: Historiker Stephan Theilig gibt mit Blick auf die Geschichte der Muslime in Deutschland Tipps für die Integrations- und Asyldebatte.

zenith: Seit Jahren wird darüber gestritten, ob der Islam denn nun zu Deutschland gehöre oder nicht. Mit Blick auf die Geschichte sagen Sie: Ja, tut er. Warum sind Kammertürken, Türkentaufen oder preußische Tataren heute dennoch den wenigsten Menschen in Deutschland ein Begriff?

Stephan Theilig: Die deutsche Geschichte vor dem 19. Jahrhunderts ist so weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen heute, dass es mich eigentlich gar nicht wundert, dass noch »exotischere« Dinge wie muslimische Lebenswelten bei uns gar nicht wahrgenommen werden. Wenn man dann solche Einzelthemen wie beispielsweise die Kammertürken bringt, dann werden sie einzeln und singulär betrachtet. Wie eine kleine exotische Blase: Die guckt man sich mal, ist dann kurzweilig unterhalten und geht. Es ist schwer, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es da eine Kontinuität gibt.

 

Wie kann es trotzdem gelingen und wie kann die Geschichtswissenschaft dazu beitragen?

Das hat mit Vermittlungskompetenz zu tun. Und die ist zuweilen unserer akademischen Landschaft komplett verloren gegangen. Teilweise lassen die Lehrpläne auch gar keinen Raum mehr, sich mit so etwas wie Geschichte oder Identitätsbildung auseinanderzusetzen. Ich glaube, es ist eine ganz große Chance, wenn wir hier begreifen, dass wir nicht »die Deutschen« sind.

 

Das Preußen von damals war ein Konglomerat, ein Zusammenschluss der unterschiedlichsten Regionen in Mitteleuropa.

 

Wie meinen Sie das?

Wir sind eine deutschsprachige Vielzahl von unterschiedlichen Regionen, die in Mitteluropa leben. Dadurch haben wir wahnsinnig viele Kontakte und Kulturtransfers erlebt. Das war nicht alles eine schöne, bunte Blümchenwiese, sondern eine Wechselgeschichte mit Höhen und Tiefen. Diese Reichhaltigkeit der Geschichte wissen wir gar nicht zu schätzen. Das große Problem ist dieses ganze nationale Gedünkel aus dem 19. Jahrhrundert. Diese Fiktion einer Nation, ohne dabei das große Andere zu sehen. Man spricht von der christlich-jüdischen Geschichte Europas und ignoriert vollkommen 800 Jahre muslimisches Leben auf der iberischen Halbinsel. Man ignoriert über Jahrhunderte hinweg, dass das Mittelmeer ein europäisches Binnenmeer war, das Nordafrika durchaus dazuzählte.

 

Sie halten oft Vorträge vor heutigen mehrheitlich muslimisch-türkischen oder tatarischen Gemeinden. Haben die ein anderes Bewusstsein für die frühe Geschichte der Muslime in Deutschland?

Das Thema ist für sie Neuland. Wenn man ihnen zeigt, dass ihre Geschichte nicht erst in den 1960er Jahren anfängt, kommt es zum großen Aha-Effekt. In Gesprächen höre ich sehr oft, dass sich die muslimische Seite als Fremdkörper fühlt: Ja sie leben hier, aber ihre Religion wird nicht wertgeschätzt. Dadurch fühlen sie zwischen den Kulturen oft hin- und hergerissen.

 

Es scheint fast so, als wäre man da in Preußen-Brandenburg schon einmal einen Schritt weiter gewesen. Mit Bezug auf das 16.-18.Jahrhrundert haben sie den Begriff »Tolerancia Prussica« begründet. Wie kann man sich das damalige Zusammenleben der Menschen vorstellen?

Zu allererst: Toleranz ist nicht toll. Toleranz kommt aus dem Lateinischen und bedeutet das Erdulden, das Ertragen, das Erleiden. Das ist nichts Schönes, es sei denn man ist Masochist. Man muss also etwas von sich abgeben, das hat mit Rationalität zu tun, mit Vernunft. Das Preußen von damals war ein Konglomerat, ein Zusammenschluss der unterschiedlichsten Regionen in Mitteleuropa. Von Potsdam bis Königsberg liegen 800 Kilometer. An diese Unterschiedlichkeiten muss man praktisch rangehen.

 

»Nach dem Dreißigjährigen Krieg braucht man besonders in Brandenburg einfach Arbeitskräfte.«

 

Unter Friedrich Wilhelm wurden beispielsweise auch ganz gezielt Gruppen angeworben: Verfolgte Hugenotten aus Frankreich, oder Juden aus Wien – wenn auch zu ganz unterschiedlichen Konditionen.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg braucht man besonders in Brandenburg einfach Arbeitskräfte. Wenn ich ein Riesenland habe, aber keine Äcker mehr zu bestellen, dann kann ich die Wirtschaft nicht mehr aufrechterhalten. Auch nicht mit einem wie auch immer gearteten Generationenvertrag. Wenn die Bevölkerung überaltert, dann ist es einfach notwendig, andere Menschen mit dazu zu holen, egal woher sie kommen.

 

1739 ließ der »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. den vermutlich ersten islamischen Gebetsraum Deutschlands errichten. Er stand den muslimischen Soldaten Preußens, vornehmlich Tataren aus Osteuropa, zur Verfügung. Osmanen musizierten in den beliebten Janitscharenkapellen. Trotzdem scheint es nur schwer vorstellbar, dass sie im Alltag keinen Anfeindungen ausgesetzt gewesen sein sollen.

Es ist notwendig, dass man sich die Zwischenschritte und den weiteren Verlauf der Geschichte vergegenwärtigt. Dann greifen bei uns diese Denkmuster von Rassismus und Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und vor allem unsere Kulturkritik der »Postcolonial Studies«. Das sind aber Konzepte, die es so im 17. Und 18. Jahrhundert noch gar nicht gibt. Kontierungen, Exotisierung, ein Selbstbewusstsein der Einheimischen. So etwas gibt es. Beispielsweise fallen bei den türkischen Zwangstaufen mal abfällige Spitznamen. Heute würden wir das als unterschwelligen Alltagsrassismus bezeichnen. Aber es gibt keine rassistische Lehre, an der sich die Leute orientieren. Wenn man mit solchen Konzepten wie Orientalismus rumschmeißt, dann macht das wieder so ein Zwei-Seiten-Ding auf und lässt die Hybridität von Kultur nicht zu.

 

Gab es denn so etwas wie eine »Integrationspolitik«?

Der Ansatz war ein anderer: Per Gesetz hat man Unterschiedlichkeiten klar benannt und festgeschrieben. Man hat nicht gesagt, wir müssen hier immer alles gemeinsam machen. Diese Unterschiede waren Bestandteil eines Ganzen. Und dieses Ganze waren Ordnungs- und Gesetzeskriterien, die vor allem die Beziehung zum Souverän regelten. Der Grundgedanke war, dass man in Friede und Freiheit miteinander leben möchte. Das heißt nicht, dass ich ein Fan der Monarchie bin. Auch muss man das Ganze zeitlich differenzieren. Immerhin reden wir von einigen hundert Jahren.

 

Reden wir stattdessen noch einmal über heute: Haben Sie einen Lösungsvorschlag für die aktuellen Herausforderungen von Integrations- und Asylpolitik?

Wir machen drei Wochen ein Fass auf und diskutieren über Transitlager für sechs Menschen pro Tag, die woanders registriert sind und illegal hier rüber wollen. Hätten wir ein Einwanderungsgesetz, dann hätten wir auch nicht ständig dieses Problem mit Flüchtlingen und Zuwanderung. Das sind zwei verschiedene Dinge, sie werden aber miteinander vermengt. Diese ganze Debatte muss viel offener geführt werden. Ich glaube, die Leute müssen viel mehr Raumschiff Enterprise gucken. Die Menschen leben auf einem Planeten, da kann man sich nicht abkapseln.



Historiker Stephan Theilig

Stephan Theilig ist Historiker am Brandenburg-Preußen Museum Wustra und Mitbegründer des »Instituts für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien« (Icatat). Mit seiner Forschung zu muslimischen Lebenswelten im deutschsprachigen Raum des 16.-18. Jahrhunderts will er Kontinuitäten des Islams in Deutschland aufzeigen.

Von: 
Anna-Theresa Bachmann

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