Bildungsforscherin Ceren Lord erklärt im Interview, wer in der türkischen Religionspolitik die Strippen zieht – und warum die staatliche Religionsbehörde Diyanet nicht unbedingt auf Präsident Erdoğan angewiesen ist.
zenith: Sie widersprechen der weitverbreiteten Annahme, dass die AKP 2002 den politischen Islam an die Macht brachte und so mit der vorherigen säkularen Politik brach. Warum?
Ceren Lord: Das ist eine Sichtweise auf die türkische Religionspolitik, derzufolge islamistische Bewegungen eine Reaktion auf Säkularisierung, Modernisierung oder Wirtschaftskrisen sein müssen. Sie werden immer als eine Art Graswurzelphänomen gesehen. Diese Sichtweise basiert zum Teil auf der Annahme, dass islamistische Parteien notwendigerweise das authentische Sprachrohr muslimischer Gesellschaften seien. So als ob Christen in Großbritannien oder Deutschland notwendigerweise für christliche Parteien stimmen würden.
Und wie sieht es wirklich aus?
Die Türkei ist ein vorgeblich säkularer Staat mit verschiedenen konkurrierenden Machtzentren. Dazu gehören die Ulama, die islamischen Geistlichen, die in den meisten mehrheitlich muslimischen Kontexten tatsächlich ein Teil des Staates sind. Die gängige Annahme geht von einer einseitigen Beziehung aus, in der der säkulare Staat die Religion kontrolliert. Dabei verfügen die islamischen Institutionen über eine Handlungsmacht, um eigene Ziele zu verfolgen und ihre Reichweite auszudehnen. Die Islamisierung der türkischen Gesellschaft wird aktiv aus dem Inneren des Staates heraus betrieben. Und das nicht erst, seit die AKP regiert, sondern seit der Staatsgründung.
Welche Rolle fällt dem »Präsidium für religiöse Angelegenheiten«, besser bekannt als Diyanet, bei der Institutionalisierung des sunnitischen Islams in der Türkei zu?
Mit den Zentralisierungsreformen im Osmanischen Reich wurde die Macht der Ulama beschnitten. Als dann 1923 der türkische Nationalstaat gegründet wurde, verloren die Kleriker weitere Zuständigkeiten, beispielsweise die Kontrolle über die Bildungspolitik. Basierend auf der Idee, staatliche Kontrolle über religiöse Aktivitäten auszuüben, wurde 1924 Diyanet eingerichtet. Auch wenn der Staat islamistische Netzwerke verbot, hat letztlich Diyanet die Moscheen und Imame verwaltet, wodurch die Behörde von Anfang an eine Monopolstellung hatte.
»Diyanet drängt auf eine Schließung der Schulen des Gülen-Netzwerks«
Was trug seit der Staatsgründung zur islamistischen Mobilisierung aus dem Inneren des Staates bei?
Die Angst vor dem Kommunismus prägte die Politik ab den 1940er Jahren. Diyanet verhandelte daraufhin über die Kontrolle über das Bildungswesen, finanzielle Mittel, um mehr Imame einzustellen, und eine Erweiterung ihrer Infrastruktur über die Städte hinaus, um im Gegenzug zur Bekämpfung von Kommunismus und Extremismus beizutragen. Diyanet bekam dadurch die Möglichkeit zu definieren, was islamisch und somit akzeptabel ist. Viel passierte im Hintergrund, beispielsweise die Abschaffung der Lehre der Evolutionstheorie in der Schule und der Ausbau des Religionsunterrichts, die Abschaltung gewisser Fernsehsender, das Verbot von Alkoholkonsum, die Diskriminierung religiöser Minderheiten.
Wie stand das Militär dazu?
Ausgerechnet das angeblich säkulare Militär weitete ab den 1940er Jahren die Befugnisse von Diyanet sukzessive aus. Das Militär selbst wurde als Institution im Laufe der Zeit immer konservativer und arbeitete immer enger mit Diyanet zusammen. Im Kampf gegen den Kommunismus wurde es zum Ziel, die Religion überall zu verbreiten – vom Zuhause bis zum Arbeitsplatz. Nach dem Militärputsch 1980 fiel Diyanet eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der nationalistisch-islamischen Synthese zu.
Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat die Idee einer »heiligen Nation« auf Menschen anderen Glaubens?
Auch wenn im öffentlichen Diskurs manchmal so getan wird, als sei die Türkei zu 99 Prozent muslimisch, ist sie tatsächlich religiös vielfältig. Dennoch kann man seit der Staatsgründung sehen, dass der türkische Bürger als sunnitischer Muslim verstanden wird. Wer da nicht reinpasst, muss sich anpassen oder befürchten, verfolgt zu werden. Der Staat versucht, Minderheiten wie die Aleviten zu bekehren. Es gab Massaker, es wurden Moscheen in Vierteln gebaut, in denen besonders viele Aleviten lebten, alevitische Kinder wurden auf sunnitische Imam-Hatip-Schulen geschickt und teilweise von Angehörigen des Militärs adoptiert, damit sie zu sunnitischen Türken erzogen werden. Es sind sunnitisch-muslimische Kriterien, an die das Verständnis von Zugehörigkeit gebunden ist.
Wie viel AKP steckt heute in Diyanet?
Die vorherrschende Sichtweise über Diyanet lautet, dass die Behörde vom säkularen Staat und damit derzeit von der AKP kontrolliert wird. Das ist aber zu einseitig. Diyanet verfügt über mehr Handlungsspielraum und Einfluss, als das vielen bewusst ist. Kleriker haben ein längeres Gedächtnis als Politiker. Denn die Politiker kommen und gehen. Aber die Geistlichen sind die Hüter des islamischen Establishments und dadurch diejenigen, die definieren, wie diese Religion verstanden wird.
Billigen wir in unserer Sicht auf die Türkei dem omnipräsenten Staatschef zu viel Macht zu?
Viele denken, dass Erdoğan alles kontrolliert. Diyanet ist sowohl durch Eigeninitiative gewachsen, profitiert aber auch von staatlichen Einrichtungen, die versuchen, die Behörde einzuspannen, um die eigene Legitimität zu erhöhen oder öffentliche Unterstützung zu gewinnen. Wir sehen in der Auseinandersetzung mit der Türkei immer den kemalistischen säkularen Staat und die muslimische Gesellschaft aufeinanderprallen. Solche Narrative halten sich, solange wir nicht genauer auf die historische Entwicklung schauen.
»Das Verständnis von Zugehörigkeit zur türkischen Gesellschaft ist an sunnitisch-muslimische Kriterien gebunden«
Erdoğan betont, er wolle eine »fromme Generation« heranziehen, und hat zu diesem Zweck Hunderte von Schulen in religiöse Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Was sind die Lehrinhalte und Konzepte?
Ursprünglich wurden sie eröffnet, um Imame für Diyanet auszubilden. Mittlerweile haben sie sich zu einem parallelen Bildungssystem entwickelt. Zwar reguliert und verwaltet das Bildungsministerium, aber Islamisten bestimmen Lehrer und Inhalte, sodass die ImamHatip-Schulen als ein Ort der Rekrutierung und Islamisierung der Gesellschaft genutzt werden
Geht die Bildungspolitik auf Kosten der Schulbildung und wie sehen Schülerinnen, Schüler und Eltern diese Entwicklung?
Innerhalb der eher säkularen Gesellschaftsteile machen sich viele Sorgen bezüglich der Schulbildung. Vor allem in ländlichen Regionen ist es schwierig, seinen Kindern säkulare Schulbildung zu gewährleisten. Das ist einer der Gründe, warum viele säkulare Türken oder Türken aus der Mittelschicht das Land verlassen: um ihren Kindern eine anständige Ausbildung zu ermöglichen. In islamischen Kreisen wiederum sorgt man sich, dass Schülerinnen und Schüler zu Atheisten werden, weil sie die Nase voll haben von der Religion. Ich selber denke, dass die Geschwindigkeit, mit der die Islamisierung der Schule vorangetrieben wird, die größte Bedrohung für alles ist, was an der türkischen Politik progressiv war. Was stattdessen vorangetrieben wird: Dschihad als nationaler Wert, patriarchale Rollenbilder und Kindern zeigen, wie man ein Märtyrer wird.
Diyanet soll sich auch um die türkische Diaspora kümmern.
Den globalen Ablegern von Diyanet geht es nicht darum, der türkischen Diaspora Dienstleistungen zu erbringen. Sie expandieren, um zur globalen islamischen Autorität zu werden.
Wie wirkt sich das Zerwürfnis zwischen Erdoğan und Fethullah Gülen auf die auswärtige Bildungspolitik aus?
Soweit ich das beurteilen kann, versucht Diyanet, auf eine Schließung der Schulen des Gülen-Netzwerks zu drängen und diese durch ihre eigenen Schulen zu ersetzen. Am erfolgreichsten ist die Behörde dabei dort, wo sie tatsächlich Druck auf die jeweilige Regierung ausüben kann, zum Beispiel in zentralasiatischen Staaten.
Welche Rolle spielt der internationale Kontext und wie beeinflusst die außenpolitische Ausrichtung auf den Westen oder Asien und Russland die türkische Religionspolitik?
Derzeit ist es schwer, von irgendeiner Konsistenz in der Außenpolitik zu sprechen, weil wir in der Türkei ausgehöhlte Institutionen und eine Ein-Mann-Show beobachten. Eine Zeit lang hat die AKP das Narrativ der muslimischen Demokratie – was auch immer das bedeuten soll – verbreitet und wollte europäische Staaten davon überzeugen. Das Ziel, der EU beizutreten, ist aber schon längst aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Der internationale Kontext wird in jedem Fall dafür genutzt, die eigene islamistische Agenda durchzusetzen. Es ist kein Zufall, dass die Lager für syrische Geflüchtete in der Türkei an Orten eingerichtet wurden, in denen überwiegend Aleviten leben.
Dr. Ceren Lord ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Nahoststudien an der »Oxford School of Global and Area Studies«. Im Oktober 2018 erschien ihr Buch »Religious Politics in Turkey: From the Birth of the Republic to the AKP«.