Die Vielfalt des Nahen Ostens erfordert diverse Perspektiven. Doch seit 1948 lebt die Forschung aneinander vorbei – insbesondere, wenn es um Judentum und Islam geht. Zwei Heidelberger Professoren wagen nun einen neuen Ansatz.
»Umm Harun«, die Mutter des Aaron, ist eine fiktive jüdische Hebamme, die in den 1940er Jahren in einem fiktiven arabischen Dorf am Persischen Golf lebt. Ihre Geschichte lief während des Ramadan Tag für Tag in Form der gleichnamigen TV-Serie des saudischen Fernsehsenders MBC auf unzähligen Fernsehgeräten. Basierend auf dem Leben einer Jüdin aus dem Irak und angereichert mit viel Drama und Seifenopern-Atmosphäre, wie bei solchen Serien üblich, wird dabei eine Geschichte vom Zusammenleben verschiedener Religionen erzählt: Von Alltag und Freundschaft, von Konflikten und interreligiöser Liebe.
Diese heute eher unübliche Beschäftigung arabischer Popkultur mit dem Judentum oder jüdischen Kulturelementen der arabischen Geschichte führte zu lautstarker Kritik – einige vermuteten hinter »Umm Harun« eine Agenda des saudischen Königshauses zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel.
Die Ramadan-Serie erinnert einerseits an die historische Vielfältigkeit religiöser und ethnischer Beziehungen im Nahen Osten, und zeigt andererseits, wie im öffentlichen Diskurs oft eine Trennlinie gezogen wird: Auf der einen Seite Israel und das Judentum, auf der anderen Seite die arabische Welt. Die reichhaltige Realität des Nahen Ostens geht dabei durch derartig einseitige Perspektiven häufig unter. Ein Problem, vor dem auch die Wissenschaftslandschaft in Deutschland steht.
Drei Disziplinen, drei Perspektiven
Auf der einen Seite wird an deutschen Universitäten »Islamwissenschaft« gelehrt, als Kind der Orientalistik ein kulturwissenschaftlich und philologisch ausgerichtetes Fach – im Unterschied zu den eher religionswissenschaftlich orientieren »Islamic Studies« im angelsächsischen Raum. Mit meist arabischem Sprachfokus und Sekundärsprachen wie Türkisch und Persisch beschäftigt sich die Islamwissenschaft mit Kultur, Geschichte und Gesellschaft der Region – Hebräisch lernen dabei die wenigsten.
Andererseits entwickelte sich im Europa das 19. Jahrhundert die »Judaistik« als eigenständige Disziplin. Sie fokussierte sich auf das europäische Judentum und betrachtet auch heute noch vieles von einem eurozentrischen Standpunkt aus – eben auch Israel. Das Studium konzentriert sich dabei primär auf die hebräische Sprache und die Geschichte des Judentums – transkulturelle Zugänge oder Arabisch sind selten Teil der Ausbildung.
Zu guter Letzt beschäftigen sich auch die Sozialwissenschaften Politik, Soziologie und Ökonomie immer wieder mit dem Nahen Osten. Doch während hierbei früher bewusst regionale Schwerpunkte gelegt wurden, finden sich heutzutage immer mehr Wissenschaftler, die über ganze Weltregionen schreiben und unterrichten, obwohl sie keine einzige regionale Sprache beherrschen. Immer leichter zugängliche quantitative Daten, beispielsweise von der Weltbank, machen das möglich – der Blick in die Tiefe bleibt denjenigen, die mit Kultur und Sprache nichts anfangen können, jedoch stets verwehrt.
»Die Trennung von sprach-basierten und gesellschaftstheoretischen Disziplinen ist problematisch«
Besonders deutlich werde diese Schieflage bei der Betrachtung des Nahen Ostens, finden zwei Professoren aus Heidelberg: Henning Sievert unterrichtet Islamwissenschaft mit Schwerpunkt auf das Osmanische Reich. Johannes Becke ist von Haus aus Politikwissenschaftler und inzwischen Inhaber des Ben-Gurion-Lehrstuhls für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien.
»Aus meiner Sicht ist die Trennung von sprachbasierten Disziplinen, also der Islamwissenschaft und der Judaistik, und gesellschaftstheoretisch fundierten Sozialwissenschaften problematisch«, meint Becke. Bei der Betrachtung des heutigen Nahen Ostens »hangelt sich die Politikwissenschaft meist an eher allgemeinen Konfliktlinien und Theorien entlang, ohne dabei wirklich in die Tiefe zu gehen«. In diesem Punkt haben die Disziplinen, die auch Sprachkenntnisse erfordern, die Nase vorn, findet Becke, doch ihnen »fehlt dafür häufig der theoretische Zugang beziehungsweise die Methodik.«
Der judaistische Blick Richtung Nahost ist meist auf Israel beschränkt, nicht zuletzt aufgrund fehlender Sprachkompetenzen, während die Islamwissenschaft dem Judentum und dem Staat Israel in aller Regel eher geringere Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, ebenfalls aus sprachlichen Gründen, aber auch wegen fehlender Kenntnis jüdischer Geschichte. Dabei kann das zeitgenössische Israel nur im Kontext der Region verstanden werden, findet Sievert: »Israel und seine Nachbarländer sind viel stärker aufeinander bezogen, als sie vielleicht selbst wahrhaben wollen, sowohl kulturell als auch politisch.«
»Wenn sich die Judaistik mit dem zeitgenössischen Israel beschäftigt, geht der Blick meist Richtung Zionismus des 19. Jahrhunderts oder auf die europäisch-jüdische Geschichte«, kritisiert Becke, »unabhängig davon, dass Herzls Schriften mit dem heutigen Israel wenig zu tun haben, tauchen Palästinenser oder auch nahöstliche Juden dabei gar nicht auf«. So fallen die jahrhundertelangen jüdisch-muslimischen Beziehungen, wie sie beispielsweise in der TV-Serie »Umm Harun« aufgegriffen werden, häufig unter den Tisch.
Die Trennung der Disziplinen hat mit der Fachgeschichte zu tun – aber auch die Gründung Israels spielt eine Rolle
Für diese Trennung der Disziplinen in ihrem Blick auf die Region gibt es zwei Gründe: Einerseits resultieren die jeweiligen Perspektiven aus der fachgeschichtlichen Entwicklung der jeweiligen Wissenschaft. Doch indirekt spielt auch der arabisch-israelische Konflikt eine Rolle: »Nach 1948 hat ein- und dieselbe Person nur noch selten beide Perspektiven des Konflikts intensiv wahrgenommen, was ganz praktische Gründe hat«, führt Sievert aus.
Wissenschaftler sind zwar nicht gezwungen, Partei zu ergreifen, dennoch werden sie von außen häufig einer der Seiten zugeordnet. »Es beeinflusst ganz direkt die persönliche Forschung, wenn man sich entscheiden muss, ob man Kontakte in Israel haben will, oder mit arabischen Partnern zusammenarbeitet«, erklärt Sievert und Becke fügt hinzu: »Je stärker sich die Boycott-Divestment-Sanctions-Bewegung (BDS) ausweitet, desto häufiger werden inzwischen auch diejenigen boykottiert, die selbst nicht boykottieren.«
Besonders im angelsächsischen Wissenschaftskontext ist die Beschäftigung mit dem Nahen Osten stark politisiert – so steht stets die Frage im Raum, welche Institute oder Fachschaften bereits BDS unterstützen und eine »Israel Apartheid Week« veranstalten. »Immer wieder wird dort diskutiert, ob israelische Dozenten überhaupt für Vorträge eingeladen werden, oder ob das bereits Siedlerkolonialismus gleichkäme«, so Becke, »an vielen englischen und amerikanischen Universitäten ist es daher undenkbar, die Beschäftigung mit Israel in einen nahöstlichen Kontext einzuordnen.«
Auch im Nahen Osten selbst wäre die Zusammenführung dieser Perspektiven nur schwer vorstellbar – oder würde zumindest völlig anders ausgestaltet werden. Becke beschäftigt sich unter anderem mit Israel-Studien in arabischen Ländern, konkret mit Hebräisch-Lehrbüchern: »Immer wieder finden sich darin Propagandatexte, in denen beispielsweise auf Hebräisch die Rede vom glorreichen Sieg der ägyptischen Armee über das zionistische Gebilde ist.« In Deutschland hingegen »müssen wir es als Chance verstehen, dass wir uns nicht in der Region selbst befinden und der wissenschaftlichen Diskurs bisher weniger politisiert ist«, findet Sievert.
»Um diese Region wirklich verstehen zu können, muss man sie multiperspektivisch betrachten«
Um der Vielfalt des Nahen Ostens besser gerecht zu werden, plädieren die beiden Professoren für eine Integration der Disziplinen: »Unser Ziel ist es, die unterschiedlichen Perspektiven in Heidelberg zusammenzuführen«, sagt Sievert.
Der Nahe Osten ist nicht nur eine geographische Region: Spätestens seit der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert, doch eigentlich bereits viel länger, handelt es sich um einen gemeinsamen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Raum. »Die Aufgliederung in Sprachen, Religionen und Nationen ist überhaupt erst wenige Jahrzehnte alt«, erklärt Sievert, »die Region kann nicht aus rein arabischer, rein christlicher oder rein kurdischer Perspektive beschrieben werden. Und genauso wenig aus rein israelischer oder jüdischer.«
Becke beobachtet das beispielsweise bei Judaistik-Studierenden, die sich bestens mit der Geschichte des europäischen Judentums auskennen, und »in Israel selbst dann völlig überrascht vom nahöstlichen Judentum sind, das dort ganz selbstverständlich dazugehört.« Er fügt hinzu: »Viele Dinge in Israel, die uns aus eurozentrischer Sicht überraschen, wirken im Kontext der Nachbarstaaten nicht mehr so sonderbar.«
Als Beispiele nennt Becke religiöse Parteien, eine einflussreiche religiöse Staatsbürokratie, die große Rolle der Armee im Staat, oder ursprünglich säkulare Gesellschaften, die zunehmend religiöser werden. Den Grund dafür sieht er in ähnlichen Entstehungsbedingungen der Staaten: »Umstrittene Territorien, religiöse Traditionen, aus denen moderne Nationalbewegungen entstehen, sowie Besatzungs- und Besiedlungssituationen.«
»Um diese Region wirklich verstehen zu können, muss man sie multiperspektivisch betrachten. Und dafür reicht ein einzelnes Fach nicht aus, das geht nur in Kooperation«, schlussfolgert Sievert. »Unser Anliegen lautet: Methodenkompetenz und Kulturkompetenz zusammenbringen«, fügt Becke hinzu, »die Beschäftigung mit dem Nahen Osten sollte methodisch fundiert und gleichzeitig auf der Grundlage von Regional- und Sprachkenntnissen stattfinden.«
Ein neues Master-Programm soll unterschiedliche Perspektiven verbinden
Um die eingeforderte Kooperation der Disziplinen auch konkret werden zu lassen, hat die Universität Heidelberg in Kooperation mit der Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) im Oktober 2019 das Master-Programm »Nahoststudien« gestartet. Es verbindet die Heidelberger Islamwissenschaft mit dem renommierten Judaistik-Programm der HfJS. Einerseits können so die Sprachausbildungen im Hebräischen und Arabischen, Türkischen oder Persischen in einem Studiengang zusammengebracht werden. Studierende, die im Bachelor Hebräisch gelernt haben, sollen demnach im Master erst einmal Arabischkurse besuchen und andersrum – bereits 2015 hat Johannes Becke in einem Beitrag für zenith alle Studierenden mit Israel-Fokus dazu aufgerufen, Arabisch zu lernen.
Andererseits stellt das Master-Programm eine Kombination unterschiedlicher methodischer Zugänge dar, die sowohl aus der Islamwissenschaft, als auch aus der Judaistik kommen und durch die sozialwissenschaftliche Komponente des gelernten Politikwissenschaftlers Johannes Becke ergänzt werden soll. Das konkrete Ziel dabei ist es, »dass die Studierenden in ihren Abschlussarbeiten nicht nur sprachlich fundiert, sondern auch interdisziplinär forschen können«, so Sievert, »historische Themen können beispielsweise hervorragend anhand sozialwissenschaftlicher Fragestellungen erarbeitet werden.«
Der Unterschied zu vergleichbaren Studiengängen an anderen deutschen Universitäten ist die Verbindung aller drei Perspektiven: Islamwissenschaft, Judaistik und Politikwissenschaft. »Wir wollen die Fähigkeit vermitteln, Dinge zumindest ein Stück weit mit den Augen anderer zu sehen«, erklärt Sievert. Hinzu kommt »ein starker Gegenwartsbezug«, ergänzt Becke, »wir wollen die Studierenden auch auf die reale Welt vorbereiten, und dabei lohnt es sich, einen Blick einzunehmen, der Vielfalt wahrnimmt – sprachliche, ethnische und religiöse.«
Das kulturelle und religiöse Erbe der Region ist voller Querbezüge, die durch solche Kooperationsprojekte in neuem Licht betrachtet werden können: Wie sah das Leben in Bagdad aus, als dort rund ein Drittel der Bevölkerung zur jüdischen Minderheit gehörte? Warum bestand die Kommunistische Partei im Irak hauptsächlich aus Juden? Welche Rolle hatte die jüdische Bevölkerung Kairos beim Aufbau der ägyptischen Filmindustrie?
Johannes Becke bringt es auf den Punkt: »Jüdisch-muslimische Beziehungen in der Region haben eine viel längere und vielfältigere Geschichte als immer nur ›der Nahost-Konflikt‹«. Durch Kombination von Perspektiven könnte beispielsweise auch jüdische Geschichte am Golf wieder mehr Beachtung finden – und das nicht nur in Form einer weichgezeichneten Drama-Serie während des Ramadan.