Kurz vor dem Jahrestag der Revolution ist Kairo ein politisches Pulverfass: Muslimbrüder bilden Menschenketten um das Parlament, Salafisten sorgen für einen Eklat – und der Militärrat will »Märtyrer-Medaillen« vergeben, die keiner will.
6591 Männer und Frauen aus 27 Gouvernements standen zur Wahl, 508 von ihnen haben es geschafft: Sie sind dabei an diesem historischen Montag, bei der ersten Sitzung des neu und erstmals seit 1952 frei gewählten ägyptischen Parlaments.
Rund um das Abgeordnetenhaus standen bereits seit dem Vortag tausende Anhänger der Muslimbruderschaft in einer Menschenkette Wache, um etwaige Angriffe von Schlägertrupps des alten Regimes abzuwehren.
Zwei Tage vor dem Jahrestag der Revolution war das eine beeindruckende Demonstration der Machtverhältnisse der »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit«. Sie konnte bei den Wahlen insgesamt 47,2 Prozent der Stimmen für sich verbuchen und wird künftig neben dem Parlamentspräsidenten die Vorsitzenden sowohl für den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten als auch für die Gesundheits-, Finanz- und Menschenrechtsausschüsse stellen.
»…solange Gottes Gesetz nicht gebrochen wird«
Auch die Abgeordneten der »Partei des Lichts«, die 24,6 Prozent aller Wähler für sich begeistern und unter anderem den Vorsitz für den Bildungs- und Landwirtschaftausschuss bekommen konnten, hatten ihren besonderen Auftritt: Da der derzeitige Parlamentsparkplatz nicht für alle Politiker ausreicht, reisten die Salafisten in fünf Reisebussen an – und einige von ihnen sorgten beim Aufsagen des Amtseides für einen Eklat.
Die Schwurformel war denkbar einfach: »Ich schwöre, die Sicherheit des Landes und die Republik treu zu schützen, mich um die Interessen der Bürger zu kümmern, die Verfassung und das Gesetz zu achten.« Sowohl Mamdouh Ismail von der »Partei des Lichts« als auch Adel Abd al-Maqsud Afifi von der »Partei der Authentizität« sowie weiteren salafistischen Abgeordnete war das jedoch nicht genug. Sie fügten ein »so lange Gottes Gesetz nicht gebrochen wird« hinzu.
Die Folge: Tumult, live übertragen im ägyptischen Staatsfernsehen, das zudem den sichtlich überforderten Alterspräsidenten Mahmud al-Saqqa zeigte, dem es nicht gelang, für Ruhe zu sorgen – und auch Ziyad al-Eleimy bei seiner Interpretation des Eides nicht aufhalten konnte. Der Gründer der »Revolutionären Jugend-Koalition«, der für den säkularen »Ägyptischen Block« im Parlament sitzt, ergänzte seinen Schwur mit den Worten: »Ich werde die Ziele der Revolution im Parlament weiter verfolgen und das Blut der Märtyrer in Ehren halten.«
Das forderte auch die Tageszeitung al-Masry al-Youm, die in Leitartikeln, Kommentaren und Reportagen daran erinnerte, dass der Weg zur Demokratie noch weit sei – und die heute alle namentlich bekannt gewordenen Todesopfer des vergangenen Jahres abdruckte.
Die will der herrschende Militärrat nun ebenfalls würdigen. Wie die Tageszeitung al-Shorouk berichtet, sollen alle Opfer post mortem eine Medaille für ihre Tapferkeit und ihr Märtyrertum im Dienste des ägyptischen Volkes verliehen bekommen .
»Wir sind nicht bei den Olympischen Spielen«
Die Armee begründet diese Entscheidung auf ihrem Facebook-Account damit, dass »der 25. Januar zu einem Feiertag geworden ist, da er die Größe des ägyptischen Volkes verkörpert. Er ist ein Tag, an den diese und kommende Generationen mit Stolz und Dankbarkeit denken werden«, schließlich hätten die besten jungen Ägypter ihr Blut vergossen und sich gegen die »brutale Repression« gewehrt, »um Würde und Freiheit zu erlangen«. Die knappe Reaktion der Aktivisten vom Tahrir-Platz: »Wir sind nicht bei den Olympischen Spielen.«
Offiziell versucht man indes weiterhin, durch Zugeständnisse das politische Pulverfass Kairo nicht zur Explosion zu bringen. Am Wochenende wurde der durch seinen Hungerstreik bekannt gewordene Blogger Maikel Nabil von der Militärjustiz begnadigt und Fayza Abul-Naga erklärte nach Angaben der halbamtlichen Al-Ahram, am 25. Januar würden weder Militär- noch Polizeieinheiten am Tahrir-Platz präsent sein. Schließlich, so die Ministerin für Planung und Internationale Kooperation, habe jeder Bürger das Recht auf friedlichen Protest. Das jedoch glaubt kaum jemand in Kairo. Auch der Chefkarikaturist der al-Masry al-Youm nicht.
In seiner Zeichnung des Tages lässt dieser Feldmarshall Hussein Tantawi in harschem Ton den Befehl erteilen, das Wetter solle am kommenden Mittwoch noch kälter und regnerischer werden, als es derzeit in dem seit Wochen von einer Art Fritz-Walter-Wetter geplagten Ägypten bereits ist. Denn dann fänden nur wenige Aktivisten ihren Weg zum Tahrir-Platz im Herzen Kairos.
Doch das wird nicht der Fall sein. Die staatliche Wettervorhersage für Mittwoch, den 25. Januar 2012 lautet: 20 Grad und Sonnenschein – genau so wie im vergangenen Jahr, als Hunderttausende in die Innenstadt Kairos strömten und die letzten Stunden des Raïs begonnen hatten.