Exklusive Einblicke aus Riad: Was junge (und ein paar ältere) Saudis wirklich über das Reformtempo in ihrem Land denken – und wie sie den westlichen Blick auf das Königreich wahrnehmen.
Seit einem Jahr lebe ich in Saudi-Arabien und bewege mich in einer Gesellschaft, die in den letzten sieben Jahren eine Art »Revolution von oben« erlebt hat. Der Reformplan, die sogenannte Vision 2030 des Kronprinzen und De-facto-Herrschers Muhammad Bin Salman (MBS), hat das Land in seinen Grundfesten erschüttert und in rasantem Tempo verändert. Das Land erfindet sich neu, öffnet und modernisiert sich. Die Spielregeln der absoluten Monarchie bleiben zwar unangetastet, aber neue Stimmen geben den Ton an. Vor allem junge Saudis können sich damit identifizieren.
»Wir Saudis sind Nomaden mit einer Vision, das ist Teil unserer Identität«, sagt Samira, eine junge Frau aus der Hauptstadt Riad. »Früher brauchten wir sie, um in der Wüste Ressourcen zum Überleben zu finden. Heute bestimmt sie, wie wir Geschäfte machen.« Samira möchte anonym bleiben, wie alle, mit denen ich hier in Saudi-Arabien gesprochen habe. Keine Klarnamen, keine Fotos – nur unter diesen Bedingungen sind sie bereit, offen über ein Land zu sprechen, in dem ein falsches Wort trotz aller Reformen immer noch schnell zum Verhängnis werden kann.
Ich möchte mit Menschen wie Samira ins Gespräch kommen, um ihre Sicht auf die Veränderungen in ihrem Land zu erfahren. Dabei formuliere ich meine Fragen bewusst offen, um meinem Gegenüber die Wahl zu lassen, wie freimütig er oder sie antworten möchte. Rote Linien gibt es jedenfalls viele: Sie reichen von direkter Kritik am Königshaus bis hin zu Stammesstrukturen und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Jenseits der roten Linien begegnet man aufgeschlossenen und diskussionsfreudigen Saudis, die sich über das Interesse an den Vorgängen in ihrem Land freuen.
Sinnbild des Wandels ist das Projekt »The Line« – ein aufsehenerregendes Bauvorhaben im Rahmen von »Neom«, Saudi-Arabiens Antwort auf die Frage, wie die Menschen in Zukunft zusammenleben werden. Im Nordwesten des Landes sollen Anfang des nächsten Jahrzehnts bis zu neun Millionen Menschen in einer 170 Kilometer langen und nur 200 Meter breiten Stadt leben. Klimaneutral und von Stararchitekten entworfen, sollen alle Bedürfnisse des täglichen Lebens innerhalb von fünf Minuten befriedigt werden können.
Ob Saudi-Arabien all diese Pläne am Ende tatsächlich so umsetzt, ist zweitrangig – es geht um die Mobilisierung der Bevölkerung
Die animierten 3D-Modelle von »The Line« erinnern mich an die Welt des Science-Fiction Films »Avatar«. Vorbei an künstlichen Wasserfällen und schwirrenden Postdrohnen fliegt die Kamera über In-vitro-Gemüsefelder und bietet schließlich einen atemberaubenden Blick auf einen riesigen Jachthafen am Golf von Aqaba. Ein Projekt, das zu schön klingt, um wahr zu sein. Tatsächlich darf bezweifelt werden, ob das selbst gesteckte Ziel der Klimaneutralität erreicht werden kann. Zu groß ist der Aufwand, die Stadt der Zukunft in der Wüste zu bauen. Auf die Frage, wie Klimaneutralität und Jachthafen zusammenpassen, antwortet mir die Mitarbeiterin einer aufwendig inszenierten Ausstellung zu »The Line« in Riad spitzfindig, dass dieses Ziel nur für alles gelte, was sich zwischen den beiden verspiegelten Fassen der neuen Stadt befinde.
Wozu aber braucht es solch ehrgeizige Ziele? Warum unternimmt das ölreiche Land den Aufwand, sich als Tourismushochburg und Zentrum technischer Innovationen neu zu erfinden? Eine Antwort liefert die Demografie: 63 Prozent der Saudis sind jünger als 30 Jahre. Die Reformen des Kronprinzen sollen den Fortbestand der Monarchie sichern und orientieren sich daher an der jungen Generation und ihrer Bedürfnisse. Dazu gehört aus Sicht von MBS neben Musikfestivals und Videospielmessen auch eine Vision, mit der sich junge Saudis identifizieren können und an der sie teilhaben wollen. Ob Saudi-Arabien all diese Pläne am Ende tatsächlich so umsetzt, ist zweitrangig – es geht um die Mobilisierung der Bevölkerung durch faszinierende Megaprojekte.
Doch jenseits der sozioökonomischen Analyse geht die Perspektive der Saudis auf die Reformvorhaben in unserem europäischen Blick auf das ebenso facettenreiche wie widersprüchliche Land oft unter. Was wünschen sie sich? Wie sieht ihr Alltag aus, welche Rolle spielen Religion und Reform? Darüber habe ich mit Saudis aller Altersgruppen gesprochen. Ob sie im neuen Saudi-Arabien geboren wurden oder sich noch an die Zeit vor den Reformen erinnern, spielt für ihre Perspektive eine große Rolle. Was alle eint, ist das Gefühl von mehr Freiheit und der Blick nach vorne, der sich besonders in Riad mit seinen Attraktionen, Messen, Vergnügungsparks und dem wachsenden kulturellen Angebot zeigt.
Zunächst habe ich die Menschen gefragt, was sie an ihrem Land schätzen. Viele nennen das reiche kulturelle Erbe und die abwechslungsreiche Landschaft. Tatsächlich ist das Klima in den verschiedenen Landesteilen sehr unterschiedlich. Von hohen Bergen im Norden und Süden über tropisches Klima an den Küsten bis hin zum staubtrockenen Wüstenplateau, auf dem Riad liegt.
Bereits heute liegt der Anteil von Frauen in der Arbeitnehmerschaft bei circa 33 Prozent
Viele Saudis schätzen das Gefühl von Sicherheit. Einige Frauen erzählen, dass sie auch nachts ohne Angst allein unterwegs sind. Andere berichten, dass sie ihre Haustüren nicht abschließen und noch nie bestohlen wurden. Eine Interviewpartnerin meint, das liege daran, dass die Saudis religiösen Geboten folgen und es den meisten Menschen an nichts fehle. Eine andere Erklärung: die hohen Strafen, die das saudische Recht nach der Scharia weiterhin für solche Verbrechen vorsieht.
Heba ist nach einem längeren Aufenthalt in den USA 2013 nach Saudi-Arabien zurückgekehrt. Die selbstbewusste Frau aus Dschidda schätzt, dass das Land den »sozio-ökonomischen Wandel vorantreibt, neue Formen des Arbeitens ausprobiert und Frauen dabei auf eine realistische Art und Weise einbindet«.
Heba ist überzeugt, dass sich das Land in dieser Hinsicht auf einem guten Weg befindet: »Wir sprechen nicht ständig über die Unterstützung von Frauen, wir tun es einfach.« So würden heute viel mehr Frauen arbeiten als noch vor wenigen Jahren. »Das Ergebnis spricht für sich«, findet Heba.
Tatsächlich wurde im Zuge der Reformen angestrebt, 30 Prozent der Frauen bis 2030 in Lohn und Brot zu bringen. Bereits heute liegt der Anteil von Frauen in der Arbeitnehmerschaft bei circa 33 Prozent. Gleichzeitig wurden Frauenrechte Schritt für Schritt ausgeweitet, 2022 etwa ein neues Personenstandsrecht eingeführt. Seitdem dürfen Frauen das Land ohne die Einwilligung eines männlichen Vormunds verlassen, das Mindestalter für Eheschließungen wurde ebenfalls angehoben.
In der Öffentlichkeit vollzieht sich der Wandel oft schneller als in den Familien
Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass die Reformen nicht zu einer vollständigen Gleichbehandlung von Männern und Frauen vor dem Gesetz geführt haben. In meinem Umfeld kenne ich viele sehr gut ausgebildete, mehrsprachige und selbstbewusste Frauen, die von den Reformen profitiert haben. Ihre finanzielle Unabhängigkeit steht jedoch im Kontrast zu der Tatsache, dass sie – wenn sie nicht verheiratet sind – immer noch zu Hause leben und ihre außerehelichen Beziehungen vor ihren Familien verheimlichen müssen.
Seit Beginn der Reformen 2016 stehen jungen Saudis aber auch ganz andere Lebenswege offen, viele von ihnen leisten Pionierarbeit. Wie Samira, eine Sängerin, und ihre Freundin, die als Yogalehrerin arbeitet. Sie verfolgen Karrieren, die früher nicht möglich gewesen wären. Genauso wie ein befreundeter DJ, der sich vor Aufträgen kaum retten kann. Fast ungläubig erzählt er, wie er mit geringen Erwartungen aus Kanada nach Saudi-Arabien zurückkehrte. Heute kann seine jüngere Schwester Konzerte von Bands wie Imagine Dragons besuchen, während seine ältere Schwester in ihrer Jugend weder Musik in der Öffentlichkeit hören noch ohne männliche Begleitung aus der Familie ausgehen durfte.
In der Öffentlichkeit vollzieht sich der Wandel oft schneller als in den Familien. Alle drei Saudis berichten vom Widerstand ihrer Verwandten, als diese erfuhren, dass sie sich für alternative, künstlerische Karrierewege entschieden hatten. »Als ich anfing, öffentlich aufzutreten, wurden meine Cousins wütend. Sie warfen mir vor, den guten Ruf der Familie in den Dreck zu ziehen«, erinnert sich Samira. »Die Ablehnung und das Unverständnis waren hart, aber ich wollte meinen Weg gehen. Kurz nach meiner Entscheidung begann die Regierung, Lizenzen an Musiker zu vergeben.«
Die staatliche Förderung von Kunst und Kultur führt zu einer steigenden Nachfrage. Gleichzeitig wird das Spannungsfeld zwischen Individualismus und Kollektivismus in saudischen Familien neu verhandelt: Stämme und Abstammung spielen im Land nach wie vor eine wichtige Rolle. Noch immer entscheidet der Familienname über Aufstiegschancen.
»Ich fühle mich ständig daran erinnert, dass ich meine Familie, eine ganze Region repräsentiere. Das ist eine ständige Last«
In Gesprächen merke ich, wie sehr es meinen Gesprächspartnern in Fleisch und Blut übergegangen ist, für ein Kollektiv zu sprechen. Wenn ich sie nach ihren persönlichen Einschätzungen frage, kommt es häufig vor, dass sie ihre Antworten sehr allgemein formulieren. Das gilt für liberalere Saudis in der Hauptstadt ebenso wie für jene aus ländlicheren Gegenden.
Abdullah verkörpert auf besonders eindrucksvolle Weise dieses Gefühl der Zerrissenheit, das jede Gesellschaft befällt, die sich in einem tiefgreifenden sozialen Wandel befindet. »Manchmal wird es kompliziert«, seufzt der junge Saudi aus einer Kleinstadt nördlich von Riad. »Es gibt ungeschriebene Regeln, an die man sich halten muss, sonst droht Ärger. Zum Beispiel, wenn man Kaffee mit der falschen Hand serviert, einer Frau auf der Straße in die Augen schaut oder wie man sich kleidet«, berichtet er und fährt fort: »Alles ist ein Signal, und man muss jedem auf unterschiedliche Weise Respekt erweisen. Ich fühle mich ständig beobachtet und daran erinnert, dass ich meine Familie, eine ganze Region repräsentiere. Das ist eine ständige Last.«
Abdullah lebt heute in Riad, besucht aber regelmäßig seine Familie auf dem Land. Er genieße den Zusammenhalt, die Teestunden und die familiäre Nähe, erzählt er. Gleichzeitig reist er um die Welt, trifft sich mit einer jungen Frau und verfolgt ehrgeizige Karrierepläne im Start-up- und Finanzsektor. Im Kreise seiner Familie trägt er den Thaub, das traditionelle lange weiße Gewand saudischer Männer. In Riad trägt er T-Shirt und Jeans. Abdullah jedenfalls ist dankbar für die Chancen, die ihm die wirtschaftliche Öffnung seines Landes bietet.
Wie sehr sich seine Erfahrungen von denen früherer Generationen unterscheiden, wird in einem anderen Gespräch deutlich. »Im Unterricht wurde davor gewarnt, dass Nichtmuslime in die Hölle kommen – ich lief weinend zu meiner Mutter, die aus Südamerika stammt. Es erfüllte mich mit Schrecken, dass sie in die Hölle kommen sollte«, erinnert sich eine Mittdreißigerin an eine Kultur der Verbote und buchstäblicher Höllenszenarien. Ähnliches berichtet eine Gleichaltrige und ergänzt: »Meine Mutter hat immer betont: Was du in der Schule lernst, geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Deine religiöse Erziehung bekommst du zu Hause.«
Egal ob nicht praktizierend oder erzkonservativ: Die Religion gilt als moralischer Kompass, als Lebensform und Teil der eigenen Identität
Angesichts solcher Erfahrungen ist es bemerkenswert, wie zentral der Islam auch heute noch für alle Befragten ist. Egal ob nicht praktizierend oder erzkonservativ: Die Religion gilt als moralischer Kompass, als Lebensform und Teil der eigenen Identität. In Saudi-Arabien, wo die heiligen Stätten Mekka und Medina liegen, spielt der Glaube ohnehin eine große Rolle. Vor den Reformen waren die Geschäfte während der Gebetszeiten geschlossen. Wer nicht in der Moschee, sondern auf der Straße war, wurde von der Sittenpolizei, den Muttawa, angehalten, dem Ruf des Muezzin zu folgen.
Heute geht das öffentliche Leben während der Gebetszeiten unverändert weiter. Nur freitags öffnen die Geschäfte erst um 16 Uhr, und während des Fastenmonats Ramadan bleiben Cafés und Restaurants bis Sonnenuntergang geschlossen. Wie in anderen muslimischen Ländern beten die Männer vor allem abends gerne in Gruppen auf öffentlichen Plätzen, scheinbar unbeeindruckt vom Trubel um sie herum. Selbst am Rande der Autobahn, mitten in der Wüste, halten Menschen an und rollen ihre Gebetsteppiche aus.
Auch meine Bekannte Khadija hält sich an die fünf täglichen Gebete. Sie sagt, sie schöpfe Kraft aus dem Glauben und fühle sich im Gebet mit Gott verbunden. Khadija hofft, dass die saudische Gesellschaft die Religion bewahrt. Ich merke, wie der Wandel und die ambivalente Rolle der Religion in ihr Fragen aufwerfen und wie sie mit den Widersprüchen einer sich öffnenden Gesellschaft ringt. Im Gegensatz zu anderen Gesprächspartnern hat Khadija noch nie lange im Ausland gelebt, zeigt sich aber dennoch offen für andere Sichtweisen und Lebensentwürfe.
Samira wiederum bezeichnet sich zwar nicht als religiös, aber Spiritualität spielt für sie eine große Rolle. »Religion ist eine gute Basis, aber ich lasse mir meinen Blick nicht vom Islam verengen«, sagt sie. Samira beschäftigt sich mit den monotheistischen Religionen, identifiziert sich mit dem Islam, seiner Kunst und Architektur und leitet ihre Ideale aus religiösen Texten wie der Sunna ab. Dennoch trägt sie kein Kopftuch und will nicht über das Verhalten anderer urteilen, etwa in Bezug auf Beziehungen oder Alkohol.
Im Alltag, berichtet Samira, falle es schwer, die Augen vor dem Schicksal der Gastarbeiter zu verschließen
Bei einem älteren, konservativen Herrn namens Muhammad meine ich dagegen eine gut versteckte Unsicherheit auszumachen. Mit blumigen Worten lobt er das Königshaus und betont, dass die Reformen einen positiven Blick in die Zukunft versprechen und sich an islamischen Prinzipien orientieren. Was Muhammad damit genau meint, wird auch auf Nachfrage nicht klar. Fest steht, dass die konservativen Rechtsgelehrten die Verlierer der Reformen sind. Ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluss schwindet, vor allem in den großen Städten. Wie andere ungehorsame Untertanen müssen sie mit Gefängnisstrafen rechnen, wenn sie den neuen Kurs nicht mittragen.
Das Gespräch mit Muhammad ist freundlich, höflich und herzlich. Doch er wägt seine Worte genau ab, kommt immer wieder auf drei zentrale Vokabeln zurück: Frieden, Sicherheit und Respekt. Auch Muhammad schätzt den Austausch mit Ausländern. Seit seiner Pensionierung bietet er über Zoom Paarberatungen an. Es bereite ihm Freude, anderen zu helfen, sagt Muhammad. Seine Klienten kommen nicht nur aus Saudi-Arabien, sondern auch aus Europa, Indien oder den USA.
Was, so wollte ich von meinen Gesprächspartnern wissen, wünschen sie sich für die Zukunft? Einige sehen keinen weiteren Reformbedarf und vertrauen darauf, dass die neue Politik schon in die richtige Richtung führen wird. Andere hingegen wünschen sich weitere Veränderungen. Heba beklagt zum Beispiel, dass saudische Frauen ihre Nationalität nicht an ihre Kinder weitergeben können, wenn der Ehemann kein Saudi ist. In einer Gesellschaft, in der Aufenthaltstitel streng reglementiert sind, kann dies zu ernsthaften Problemen führen und Familien auseinanderreißen.
In eine ähnliche Richtung zielt die Kritik von Samira. Sie betrachtet das Kafala-System, unter dem viele Arbeiter aus Ländern wie Indien, Pakistan oder Afghanistan leiden, als moderne Sklaverei. Sie wünscht sich, dass die rechtlichen Hürden für ausländische Arbeitnehmer gesenkt werden, damit sich auch ungelernte Arbeitskräfte wie Fahrer, Kindermädchen oder Bauarbeiter im Land wohlfühlen. Im Alltag, berichtet Samira, falle es schwer, die Augen vor dem Schicksal der Gastarbeiter zu verschließen. Fensterputzer an ungesicherten Fassaden, Fahrer, die in kleinen Verschlägen hausen und auf drei Quadratmetern kochen, schlafen und ihre Notdurft verrichten müssen.
Die politische Zentralisierung zieht immer mehr Saudis nach Riad. Dort steigen die Mieten und die Kaufpreise für Immobilien
Ein weiterer Kritikpunkt, der vor allem die Unter- und Mittelschicht betrifft, sind die steigenden Lebenshaltungskosten. Die politische Zentralisierung zieht immer mehr Saudis nach Riad. Dort steigen die Mieten und die Kaufpreise für Immobilien. So erzählte mir ein Taxifahrer, dass er gerne heiraten würde, es sich aber nicht leisten kann. In vernachlässigten Stadtvierteln leben Saudis dann mit Einwanderern aus dem Sudan, Indien oder Pakistan zusammen, denn anders als in anderen Golfstaaten haben nicht alle Bürger privilegierten Zugang zum Ölreichtum.
Die Zentralisierung hat aber noch andere, tiefgreifendere Folgen. Eine Gesprächspartnerin vertraut mir an, dass sie die Gefahr sieht, dass die verschiedenen Kulturen innerhalb des Königreichs zugunsten der Najdi-Kultur aus der Herkunftsregion der Königsfamilie zurückgedrängt werden. Dazu passt, dass die Führung ein klar definiertes saudisches Narrativ der Einheit vorgibt. Neue Feiertage beschwören ein Wir-Gefühl. Wer nicht mitmacht, hat keinen Platz im neuen Saudi-Arabien.
Und was haben meine Gesprächspartner den deutschen zenith-Lesern zu sagen? »Dass wir keine Frauenrechte hätten – da ist ein falscher Eindruck entstanden«, findet Heba. »Das ist ein Stigma, und ich als saudische Frau fordere mehr Offenheit. Der Westen predigt Inklusivität, aber die ist auf ein westliches Verständnis reduziert«, glaubt sie und schiebt ihre Definition hinterher. »Dass verschiedene Kulturen und Weltanschauungen friedlich nebeneinander existieren können«. Abdullah sieht das ähnlich. »Menschenrechte sind nicht objektiv und müssen an verschiedene Situationen angepasst werden. Wir haben das Gefühl, dass der Westen uns seine Definition aufzwingen will«.
Am Ende bleibt der Eindruck, dass meine Gesprächspartner stolz sind auf den rasanten Wandel in Saudi-Arabien und sich nicht scheuen, selbstbewusst aufzutreten. Die ehrgeizigen Ziele werden mit großer Ernsthaftigkeit verfolgt, man fühlt sich als Teil von etwas Großem und möchte »diesem Land etwas zurückgeben«, wie Heba meint. Zugleich bedauern sie die einseitige Perspektive, die ihrer Meinung nach im Westen vorherrscht. Sie wünschen sich mehr Austausch, Offenheit und Neugier – und laden ein, sich selbst ein Bild zu machen.