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Libanesische Diaspora in Frankreich

Beirut im Herzen

Reportage
Libanesische Diaspora in Frankreich
Protest vor der libanesischen Botschaft in Paris nach der Ermordung von Lokman Slim Foto: Jonathan Dagher

Die Protestbewegung 2019 und die Hafenexplosion in Beirut haben eine neue Welle des politischen Aktivismus in der libanesischen Diaspora inspiriert. Doch die allumfassende Wirtschaftskrise im Libanon stellt sie vor ein Dilemma.

Voller Entschlossenheit betreten die drei Frauen das libanesische Konsulat in Paris. Ihnen folgt eine weitere filmende Demonstrantin. Der Mundschutz verleiht ihnen Anonymität. Doch ihre Absichten fliegen auf und ein Mitarbeiter des Konsulats hält eine der Frauen auf. Eine andere stürmt in die Eingangshalle, wo ein Porträt des libanesischen Präsidenten Michel Aoun hängt. Wenige Sekunden später liegt das zertrümmerte Bild auf dem Boden. Das Personal versucht noch, die Gruppe hinauszuwerfen, doch es ist zu spät: Die Aktion ist bereits filmisch festgehalten.

 

Das Video dieses Vorfalls vom 11. September 2020 ging im Libanon viral und noch ein halbes Jahr danach erinnern sich viele Libanesinnen und Libanesen daran. Für sie war es ein mutiger und herbeigesehnter Solidaritätsakt aus dem Ausland, der die allgegenwärtige Wut über die fehlende Rechenschaft für die Explosion im Beiruter Hafen zum Ausdruck brachte. Neben viel Lob prägten allerdings auch empörte Vandalismus-Vorwürfe die Kommentarspalten in den libanesischen Medien.

 

Tatsächlich waren die Frauen weder Heldinnen noch Kriminelle. Sie führen recht gewöhnliche Leben und arbeiten in Frankreich etwa im Gesundheits- oder Bildungswesen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sich einem Teil der libanesischen Diaspora anzuschließen, der sich zunehmend politisch engagiert.

 

Noch nicht einmal einen Monat nach dem 4. August war ein weiteres großes Feuer im Hafen ausgebrochen

 

zenith interviewte eine der Frauen, die sich mit dem Pseudonym »Iman«, zu Deutsch »Glauben« vorstellt, an einem ihrer wenigen freien Tage, an dem sie nicht in der Klinik arbeiten muss. Einmal unterbricht Iman das Interview, um ihre Tochter anzurufen, sie an ihren Zoom-Tanzunterricht zu erinnern und danach ihren Sohn vom Fußballtraining abzuholen. Beim Gespräch in dem schick eingerichteten Wohnzimmer des weitläufigen Hauses am Stadtrand von Paris fällt es auf den ersten Blick schwer zu glauben, dass es sich hierbei um dieselbe Frau handelt, die an der Aktion im Konsulatsgebäude beteiligt war.

 

»Ich habe so etwas noch nie gemacht«, sagt sie. »Wir hatten den Protest geplant, wir waren wütend, aber wir hatten nicht geplant, tatsächlich reinzugehen. Das war eine spontane Entscheidung«, erinnert sie sich. »Es fühlte sich wichtig an, aber auch beängstigend und aufregend.«

 

Die Explosion und ihre Folgen hatten die vier Demonstrantinnen angespornt: Noch nicht einmal einen Monat nach dem 4. August war ein weiteres großes Feuer im Hafen ausgebrochen. Erneut terrorisierte es die Bewohner Beiruts, die eine weitere Explosion befürchteten. Iman befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Zug in Paris, als sie einen Videoanruf von ihrer Schwester aus Beirut erhielt.

 

»Der Botschafter ist ein Anhänger des Präsidenten, deshalb protestieren wir gegen ihn«

 

»Sie zeigte mir die schwarze Rauchwolke, die über der Stadt aufstieg. Noch im Zug brach ich in Tränen aus«, erzählt Iman. »Es erschütterte mich, das zerstörte Beirut zu sehen. Ich konnte nur noch daran denken, wie unfair alles im Libanon war: Ungerechtigkeit, Fahrlässigkeit und fehlende Rechenschaft – alles auf einmal.«

 

Also schrieb sie ihren Freundinnen und am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg zum Konsulat. Iman nahm die dreckigen Windeln ihrer Tochter mit, die anderen Eier vom nahegelegenen Supermarkt und Fotos von Libanons politischer Elite, auf deren Gesichter der Schriftzug »Verbrecher«. Kurz darauf waren die Eier geworfen, die Windeln ausgelegt, die Ausdrucke an den Eingang gekleistert und das Porträt heruntergerissen. »Das Konsulat und die Botschaft repräsentieren ein politisches Regime, das enden sollte«, meint Iman. »Der Botschafter ist ein Anhänger des Präsidenten, deshalb protestieren wir gegen ihn.«

 

Die libanesische Diaspora spielte schon immer eine wichtige Rolle innerhalb des politischen Aktivismus. Kein Wunder, angesichts ihrer schon numerischen Präsenz. Ohne eine offizielle Volkszählung bleibt die Anzahl der im Ausland ansässigen Libanesinnen und Libanesen zwar im Ungefähren. Die libanesische Statistikfirma Informational International schätzt, dass 1,3 Millionen von insgesamt 5,5 Millionen libanesischen Bürgerinnen und Bürgern im Besitz eines Passes im Ausland leben. Dazu kommen weitere Millionen Libanesischstämmige ohne libanesische Staatsangehörigkeit.

 

Frankreich nimmt – trotz oder wegen seines komplizierten Verhältnisses zum Zedernstaat – einen besonderen Platz unter den Emigrationszielen der Diaspora ein. Im Gegensatz zu anderen populären Destinationen, wie Kanada, den USA, Australien, Nigeria, den Golfstaaten, oder Brasilien, liegt Frankreich geographisch näher am Libanon. Frankreichs Mandat von 1920 bis 1943 hatte zur Folge, dass nicht nur die Sprache, sondern auch große Teile der Kultur, der Gesetze und sogar des Bildungswesens aufgenommen wurden – insbesondere in Beirut und im Libanongebirge, zu dieser Zeit Heimat der politischen und ökonomischen Eliten.

 

Frankreich öffnete trotz Bedenken bezüglich der COVID-19-Pandemie wieder seine Grenzen für libanesische Antragsteller eines Visums

 

Die erste Auswanderungswelle nach der Unabhängigkeit kam 1975, als die syrische Armee in Folge des beginnenden Bürgerkriegs in den Libanon eindrang. 1990 zwang der Krieg zwischen christlichen Milizen, darunter die Forces Libanaises, und den Truppen der libanesischen Armee unter General Michel Aoun, der kurz darauf (zum ersten Mal) Präsident werden sollte, wieder viele Menschen zur Emigration. Dabei handelte es sich vor allem um Christen verschiedener sozialer Klassen. Manche schafften sich eine Existenz als Ärzte, andere bauten sich kleinere Unternehmen oder Restaurants auf und leben bis heute in Frankreich.

 

Es dauerte nicht lange, bis Aoun 1990 selbst in die französische Botschaft flüchtete, nachdem syrische Streitkräfte eine Operation mit dem Ziel seiner Vertreibung gestartet hatten. Für die nächsten 15 Jahre lebte er im Pariser Exil und gründete die »Freie Patriotische Bewegung« – die Partei mit den meisten Sitzen im heutigen Parlament.

 

Als 2006 ein zweimonatiger Krieg zwischen Israel und der Hizbullah ausbrach, folgten weitere Auswanderungen. Viele der Betroffenen aus Libanons gebildeter Mittelschicht profitierten auf ihrem Weg nach Frankreich von den bereits aufgebauten Beziehungen und Gemeinschaften. Wer sich Frankreich ausgewählt hatte, konnte es sich meistens auch leisten.

 

Die jüngste Auswanderungswelle begann im letzten Herbst. Die Monate nach der Explosion im Beiruter Hafen am 4. August 2020 waren von ökonomischen Krisen und den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie geprägt. Schließlich besuchte der französische Präsident Emmanuel Macron den Libanon mit einer politischen Initiative und einer Botschaft der Solidarität. Er verkündete eine bemerkenswerte Entscheidung: Frankreich werde seine Grenzen für libanesische Antragsteller eines Visums trotz Bedenken bezüglich der COVID-19-Pandemie wieder öffnen.

 

»Frankreich verkörpert für viele Libanesinnen und Libanesen Zugehörigkeit und Geborgenheit«

 

»Sehr überstürzt beschlossen wir, alles zurückzulassen«, sagt Rana Khoury. Die Aktivistin kam am 1. September mit ihrem Ehemann und dreijährigen Sohn in Frankreich an. »Wir befürchteten, dass unserem Sohn die Chance auf ein normales Leben und Zukunftsaussichten genommen wird, so wie auch uns diese Chance jahrelang verwehrt blieb – deshalb gingen wir. Wir wissen nicht, wie lange wir in Paris bleiben oder was wir hier tun werden, aber uns war bewusst, dass uns nichts anderes übrig blieb.« Wie viele andere Aktivistinnen und Aktivisten setzt auch Khoury ihr politisches Engagement von Paris aus fort, erzählt sie zenith. Frankreichs politische Kultur erleichtere und fördere diese Form der politischen Mitwirkung.

 

»Frankreich verkörpert für viele Libanesinnen und Libanesen Zugehörigkeit und Geborgenheit. Es herrscht ein kulturelles und politisches Klima, das libanesischen Auswanderern ein Gefühl von politischer Teilhabe vermittelt«, erklärt Professor Ziad Majed. Der libanesische Politikwissenschaftler unterrichtet Nahoststudien und Internationale Beziehungen an der American University in Paris. Er hat sich mit der syrischen Opposition und insbesondere mit ihren Intellektuellen, die vor und nach der Revolution 2011 ins Exil getrieben worden waren, politisch organisiert.

 

Majed kam Ende 2005 aufgrund von Sicherheitsbedenken nach Frankreich. Zuvor war sein enger Freund und Wegbegleiter, der Schriftsteller, Professor, Aktivist und Journalist Samir Kassir, mit dem er zusammen die »Demokratische Linkspartei« begründet hatte, im Juni ermordet worden. Kassir war während des libanesischen Bürgerkriegs, nach der syrischen und der anschließenden ersten israelischen Invasion des Libanons Anfang der Achtzigerjahre, nach Frankreich emigriert. 1993 kehrte er nach Beirut zurück und wurde bald zu einem der wichtigsten Vordenker für den libanesischen Aufstand von 2005, dem das Ende der syrischen Besetzung folgte. Drei Monate später wurde er durch eine Autobombe ermordet.

 

Majed erhielt daraufhin Warnungen bezüglich seiner Sicherheit und wählte Frankreich als Zufluchtsort. Er erwähnt Kassir als prominentes Beispiel eines Auswanderers, der in Frankreich die Grundfesten seiner politischen Ideologie gefunden habe, um sie zurück in Beirut weiterentwickeln zu können: »Nachdem Samir nach Frankreich gekommen war, durchlebte er einen kulturellen Wandlungsprozess.

 

Für eine Reihe libanesischer Parteien ist Paris eine Hochburg: von der Freien Patriotischen Bewegung bis hin zu den Forces Libanaises

 

In Paris traf er syrische und palästinensische Intellektuelle, tauchte ein in die linken Idealvorstellungen von demokratischer Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, die seine politische Arbeit bestimmen würden«, erinnert sich Majed. »Als er nach Beirut zurückkehrte, besaß er die Fähigkeit, sich in einer Sprache gleichermaßen palästinensisch, syrisch, französisch und libanesisch auszudrücken.«

 

Doch nicht nur die Aktivistenszene profitiere von den Netzwerken in Frankreich, gibt Majed zu bedenken. »Führende Vertreter des politischen Mainstreams und der sektaristischen Parteien im Libanon besitzen eine politische Lobby und haben Verbindungen zum Élysée-Palast, französischen Institutionen und innerhalb der Parteieliten in Paris aufgebaut. Dazu zählen auch rechtsextreme Parteien wie der Front National.«

 

Für eine Reihe libanesischer Parteien ist Paris eine Hochburg: von der Freien Patriotischen Bewegung bis hin zu den Forces Libanaises. Doch auch neuere Bewegungen und Gruppen, die sich dem jüngsten Aufstand gegen das Establishment im Libanon angeschlossen haben, wie »Des Libanais à Paris«, »Beirut Madinati«, »Li7aqqi« und »Justice et Egalité pour le Liban« sind auch in Frankreich politisch aktiv.

 

Libanesinnen und Libanesen spielen auch in innenpolitischer Hinsicht eine wichtige Rolle in Frankreich: Das 15. Arrondissement von Paris ist für seinen hohen libanesischen Bevölkerungsanteil bekannt. Daher buhlen französische Parteien um die Stimmen der Libanesen mit französischem Pass. Seit 2018 dürfen libanesische Wahlfranzosen zudem an den Parlamentswahlen im Libanon teilnehmen, wodurch sie das Interesse der libanesischen Parteien auf sich ziehen.

 

»Eigentlich wollte ich zurück, doch das hat sich mit der Explosion vom 4. August geändert«

 

Teile der libanesischen Diaspora schlossen sich auch den Protesten an, die im Oktober 2019 begannen. Catherine Otayek war 2016 für ein Praktikum nach Paris gekommen und hatte sich nie als politisch aktiv definiert. Das änderte sich, als sie Aufnahmen der Proteste auf in den sozialen Medien sah: »Ich schloss mich einer Facebook-Gruppe ausgewanderter Libanesinnen und Libanesen an und fragte, ob jemand eine Demonstration in Paris organisieren wolle. Ich wusste, dass da etwas Großes im Gange war, und hatte das Gefühl, ein Teil davon sein zu müssen«, erinnert sie sich.

 

Schon bald stand sie mit Dutzenden libanesischstämmigen Menschen in Kontakt, von Berlin und London über New York bis nach Sydney und sogar am Golf, wo Proteste verboten sind. Sie nannten ihr Netzwerk »Meghterbin Mejtemin – Vereinte Diaspora« und arbeiteten monatelang unermüdlich daran, Proteste in fast jeder größeren Stadt zu organisieren. Sich selbst bezeichneten sie als »Spiegelbild der Revolution« im Libanon.

 

»Es ist die Ungerechtigkeit, die mich fertigmacht«, sagt sie und neben der Wut schwingt in ihrer Stimme auch Melancholie mit. »Eigentlich wollte ich zurück, doch das hat sich mit der Explosion vom 4. August geändert. Es ist nicht so, dass ich mein ganzes Leben in der Ferne verbringen möchte, mir ist jedoch mittlerweile klargeworden, dass ich es möglicherweise muss.«

 

Otayeks politisches Engagement hat seit der Explosion nachgelassen. Sie war damals im August zu Besuch in Beirut. Wochenlang beteiligte sie sich freiwillig an den Aufräumarbeiten. Nun fühlt sie sich, wie viele andere Ausgewanderte, ausgebrannt. Als Ursachen sieht sie Erschöpfung, COVID-19 und ein allgemeines Gefühl der Ernüchterung. Andere Gesprächspartner erwähnen auch Schuldgefühle als demotivierenden Faktor.

 

Mittlerweile haben sich viele Aktivisten in der Diaspora darauf verlegt, notwendige Lebensmittel, Geld und Medikamente an die Angehörigen in den Libanon zu senden

 

Die Abwärtsspirale der libanesischen Währung, die fehlende Rechenschaft nach der Explosion, die COVID-19-Pandemie und die schlechten Lebensbedingungen im Libanon haben viele libanesische Emigrantinnen und Emigranten emotional ausgelaugt. Mittlerweile haben viele von ihnen sich darauf verlegt, notwendige Lebensmittel, Geld und Medikamente an die Angehörigen in den Libanon zu senden, anstatt eine politische Mobilisierung in Frankreich voranzutreiben.

 

Am 7. Februar, an einem kalten Pariser Morgen, suchen fünf maskierte Demonstranten mit das libanesische Konsulat auf. Diesmal haben sie rote Farbe dabei. Drei Tage zuvor war der prominente Aktivist Lokman Slim, der Dutzende Morddrohungen von Anhängern der Hizbullah erhalten hatte, tot aufgefunden worden. Ihm war in seinem eigenen Auto in den Rücken geschossen worden. Im Libanon löste die Nachricht seiner Ermordung Wut aus, insbesondere da das Vertrauen in strafrechtliche Ermittlungen ohnehin schon am Tiefpunkt angekommen war.

 

Die fünf Demonstranten hängten Fotos von Slim vor dem Konsulat auf. Auf mehrere Zettel druckten sie das Wort »Kriminelle«, spritzten Farbe an die Wände und schrieben damit in großen roten Buchstaben »Mörder« auf den Bürgersteig vor dem Eingang. Danach verschwanden sie unauffällig.

 

Theoretisch dürfte es vielen ausgewanderten Libanesinnen und Libanesen nicht schwerfallen, in einem Land wie Frankreich positiv in die Zukunft zu blicken; in einem Land, in dem ein besseres Leben möglich und reizvoll erscheint. Doch Teile der Diaspora können und wollen nicht loslassen. »Ich kann die Beziehung zu meiner Heimat Libanon nicht einfach abbrechen«, sagt Iman. »Sie definiert mich, definiert, wie ich spreche, was ich koche und was ich liebe. Sie ist mein Zuhause, läuft durch meine Adern und ich werde weiterhin für sie kämpfen.«

Von: 
Jonathan Dagher

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