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Libanons neue Protestbewegung

Rock am Ring

Reportage
Libanons neue Protestbewegung
Feuer frei: Zu Beginn der Proteste brennen überall im Land Barrikaden. Danach wird es friedlicher, zumindest für eine Weile. Foto: Thore Schröder

Im Herbst gingen über eine Million Libanesen gegen ein korruptes System auf die Straße. Der Umsturz blieb aus, aber etwas hat sich grundsätzlich verändert.

Im Prinzip macht Nay Al-Rahi schon in der ersten Nacht der Revolution das durch, was über die kommenden Monate kennzeichnend sein wird für den libanesischen Aufstand: ein Wechselbad der Gefühle. Die 33-Jährige sagt in der Rückschau trotzdem: »Dieser Abend des 17. Oktober bleibt für mich der Höhepunkt. Denn dass etwas so Großes passieren könnte, kam vollkommen überraschend.« Nay Al-Rahi, die an der Lebanese American University (LAU) Gender- und Rhetorikthemen unterrichtet, hatte vorher eigentlich ein gutes Gespür für die Stimmungslage in ihrer Heimat.

 

Seit 2011 ist die kleine dunkelblonde Frau politisch aktiv. Damals erreichten die Demonstrationen im Jahr eins des Arabischen Frühlings auch den Libanon, bevor die systemkritischen Stimmen vom Gezänk der rivalisierenden politischen Parteien übertönt wurden. 2015 beteiligte sie sich an den »You stink!«-Protesten gegen den Kollaps der Müllentsorgung. Gemeinsam mit einem kleineren Kreis von Aktivisten engagiert sie sich seitdem für eine Reihe von Themen: von häuslicher Gewalt über Solidarität mit Flüchtlingen bis hin zu Aktionen gegen die Macht der Zentralbank.

 

Am 17. Oktober sitzt Nay Al-Rahi mit rund einem Dutzend Freunden im Café Younes im Westbeiruter Stadtteil Hamra. Sie ist wütend. Seit Monaten hat sich die wirtschaftliche Situation im Libanon verschärft, erst in dieser Woche hat die Regierung bei der Bekämpfung schwerer Waldbrände völlig versagt, nun wollen dieselben Politiker plötzlich eine ganze Reihe neuer Steuern und Abgaben einführen, um ihren Haushalt und das implodierende Finanzsystem des Landes zu retten. »Wir müssen jetzt sofort etwas unternehmen, wir können nicht bis Montag warten«, ruft Nay Al-Rahi, lässt ihren Laptop im Café und fährt noch an diesem Donnerstagnachmittag, in die Innenstadt, nach Downtown, zum Parlament.

 

Libanons neue Protestbewegung
Aktivistin mit Verstärker: Nay Al-Rahi bei einer der zahlreichen Kundgebungen. Die Akademikerin beteiligte sich schon 2015 an den »You stink!«-Protesten gegen den Kollaps der Müllentsorgung. Nay Al-Rahi

 

Dort, am Riad Al-Solh-Platz, trifft sie andere Demonstranten, gemeinsam ziehen sie auf die nahe Ring-Brücke und sperren spontan die Fahrbahn, mitten in der Rushhour. »Das Besondere war, dass die Menschen in ihren Autos das uns nicht übelnahmen. Sie sagten: Ihr habt ja recht.« Später am Abend brechen Krawalle zwischen Polizei und Demonstranten aus, Downtown Beirut liegt unter Tränengasschwaden. »Einerseits war ich froh über den Aufstand, andererseits überkam mich nachts, als ich nach Hause ging, vor allem Traurigkeit«, erinnert Nay Al-Rahi. »Ich dachte, der Protest wird wie so oft verebben.«

 

Erst als sie in ihrer Wohnung im Stadtteil Verdun ankommt und den Fernseher anschaltet, hebt sich ihre Laune: »Im ganzen Land Demonstrationen! Das gab es tatsächlich noch nie!« Der Aufstand, der bald »Thawra – Revolution« genannt wird, entwickelt innerhalb von wenigen Tagen einen gewaltigen Sog. Die Demonstranten in der Nähe des Parlaments richten ein Protestcamp ein, auf den blockierten Plätzen, Straßen und Highways des Landes steigen Massenpartys. »Ihr müsst verschwinden – und zwar alle!« brüllen Hunderttausende Libanesen und meinen damit Politiker und Warlords aller wichtigen Parteien.

 

Das Land scheint endlich geeint und befreit von den lähmenden Traumata des Bürgerkriegs. Als ausländischer, zumal als europäisch denkender Beobachter festigt sich in diesen heißen Herbsttagen der Eindruck, dass die Überwindung des korrupten Konfessionssystems nur noch eine Frage von Wochen sein müsste. Schließlich ist hier im Libanon ein Viertel der Bevölkerung auf der Straße. Wenn man das auf Deutschland hochrechnen würde!

 

Dem Parlamentspräsidenten loyal ergebene Schlägertrupps machten Jagd auf Teilnehmer der Protestzüge.

 

Am 29. Oktober überschlagen sich die Ereignisse. Der Rücktritt von Premier Saad Hariri sorgt für Riesenjubel. Doch an diesem Tag wird auch klar, dass sich die politische Elite nicht einfach wegdemonstrieren lassen wird. »Ich war gerade in meinem Viertel an einer Straßensperre, als eine Freundin anrief: Die Schabiha von Nabih Berri greifen uns an!«, erinnert sich Al-Rahi. Einer der Demonstranten fährt sie auf seinem Mofa durch die blockierte Stadt zum Ring, wo dem schiitischen Parlamentspräsidenten loyal ergebene Schlägertrupps Jagd auf Teilnehmer der Protestzüge machen. »Wir standen auf der einen, diese Kerle auf der anderen Seite, zwischen uns war zwar Polizei, aber ein richtiger Schutz war das nicht.« Als Nay Al-Rahi mit ihrem Handy ein Live-Video für Facebook aufnimmt, wird sie von zwei stämmigen Männern verprügelt. Schließlich gehen Soldaten dazwischen.

 

Der Schock sitzt tief bei ihr, nicht bloß wegen der Schläge: »Wir demonstrieren doch auch für diese Leute, wir wollen doch alle ein besseres Leben hier. Warum gehorchen sie eher diesen Führern, die sie ausbeuten, denen sie vollkommen egal sind? Und warum rufen sie ›Schia, Schia‹, wenn es uns doch gerade darum geht, das Konfessionssystem zu überwinden? Das ist so gestrig.«

 

Hatten in den ersten Nächten der Proteste noch junge Schiiten aus den südlichen Vororten, der Dahiye, den Aufstand angeführt, werden diese nun von ihren Führern losgeschickt, um die Protestierenden anzugreifen. Als am 29. Oktober auf dem Parkplatz vor der Mohammed-al-Amin-Moschee die Protestzelte brennen, verliert die libanesische Thawra ihre Leichtigkeit. Die Angriffe auf die Demonstranten nehmen zu, die Volksfeststimmung weicht zunehmend einer Belagerungsatmosphäre, es wächst die Angst vor der Eskalation, vor einem Rückfall in die Gewalt.

 

Gleichzeitig wird klar, mit welcher Beharrlichkeit und welchen Tricks sich die alten Führer an ihre Macht klammern. »Wir wussten von Anfang an, dass wir es nicht bloß mit einer Regierung, sondern mit einem ganzen System aufnehmen müssen. Mit einem System, das in allen Teilen der Gesellschaft Einfluss hat. Einem System mit vielen Armen, wie ein Oktopus«, sagt Nay Al-Rahi. Die Taktik der alten Garde zeigt spätestens im Dezember Wirkung, als der Protest spürbar nachlässt. Die Banken beschließen Kapitalkontrollen und Obergrenzen bei Abhebungen, was die Aufmerksamkeit der Libanesen auf ihre persönlichen wirtschaftlichen Nöte ablenkt.

 

Warum können sie sich nicht auf konkrete Forderungen und eine Führung einigen?

 

Neben den Schlägertrupps der Schiitenmilizen Amal und Hizbullah gehen nun auch Soldaten, Polizisten und die dem Innenminister unterstellten Sicherheitskräfte deutlich brutaler gegen die Demonstranten vor. Die großen TV-Sender fahren ihre Berichterstattung zurück. »Das alles wirkte wie eine konzertierte Aktion der Konterrevolution«, sagt Baschar Al-Halabi, ein 30 Jahre alter Ingenieur und Politikwissenschaftler, der an der American University of Beirut (AUB) forscht. Doch machen es die Demonstranten der alten Nomenklatura nicht auch zu einfach? Warum können sie sich nicht auf konkrete Forderungen und eine Führung einigen? »Wir haben aus 2005 gelernt, als der Aufstand vereinnahmt wurde«, sagt Al-Halabi, man wolle keine personifizierten Angriffsflächen bieten und den Protest für alle offenhalten.

 

»Dass wir dezentralisiert aufgestellt sind, ist doch gerade unsere Stärke«, glaubt auch Nay Al-Rahi. Jede Region und jede Stadt hätten schließlich ihre eigenen spezifischen Probleme. Tatsächlich schafft es die Revolution, anders als früher, nicht bloß auf die Probleme in der Hauptstadt einzugehen. Ausgerechnet Tripoli wird zum zweiten Zentrum der Proteste, erhält ehrenhalber den Titel »Braut der Revolution«. Bis vor wenigen Jahren hatten sich dort noch Milizen mit schweren Waffen beschossen, bis zuletzt galt die zweitgrößte Stadt des Landes als Islamistenhochburg. Nun gehen Videos von einem DJ viral, der am »Platz des Lichts« Tausenden mit Technomusik einheizt.

 

»Die Hälfte der Menschen hier ist arbeitslos, ihre einzige Hoffnung ist diese Revolution«, sagt Serge Harfouche über die Hartnäckigkeit der Revolte in seiner Stadt. Der junge Aktivist engagiert sich sonst in einer Landwirtschaftskooperative in der Beka’a-Ebene. Auf der großen Verkehrsinsel im Zentrum von Tripoli sind die Protestzelte noch kurz vor Weihnachten gut gefüllt, vor dem dampfenden Kessel der Organisation »Wujbet al-kheir – das gute Mahl« bildet sich eine lange Schlange. Tripoli hungert nach Wandel – nach etwas mehr Ordnung, Wohlstand, Anerkennung.

 

Libanons neue Protestbewegung
Anhaltend heiter: Serge Harfouche in Tripoli, der »Braut der Revolution«. Der junge Aktivist engagiert sich in einer Landwirtschaftskooperative in der Beka’a-Ebene. Foto: Thore Schröder

 

Doch zunächst gilt für die Stadt im verschärften Sinne das, was für das ganze Land gelten dürfte: Es wird noch viel länger bergab gehen, bis es irgendwann wieder bergauf geht. Die neue Regierung von Premier Hassan Diab wurde über den Jahreswechsel noch heimlicher ausgekungelt als Vorgängerkabinette. Die Auszahlung von internationalen Finanzhilfen für den Libanon bleibt unter diesen Vorzeichen fraglich. Die nächsten Parlamentswahlen sind erst für das Jahr 2022 angesetzt – bis dahin wird es schwer werden, die gewählten Volksvertreter einfach zum Teufel zu jagen.

 

Die ersten Monate der Thawra haben gezeigt, dass die geradezu dichotomische Unterscheidung in »das Volk« und »die Herrscher« der komplexen Realität im Land kaum gerecht wird. Tatsächlich hat der Libanon eine demokratisch gewählte Regierung, auch wenn Wahlsystem und -gesetz den demokratischen Wandel erschweren. »Wenn eine unabhängige Partei bei der nächsten Wahl fünf bis zehn Sitze bekommt, wäre das schon ein Erfolg für uns«, meint Nay Al-Rahi. Wie »Wachhunde für die Revolution« müssten diese Politiker dann agieren.

 

Falls es gelinge, das Wahlgesetz zu ändern oder zumindest das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre zu senken, »würde das auch einen Riesenunterschied machen«. Die Aktivistin geht davon aus, dass die sich verschärfende Krise wieder mehr Menschen auf die Straße treiben und die Revolution dann wieder Fahrt aufnehmen wird. Bis zum großen politischen Wandel hoffen sie und ihre Freunde vor allem auf die Durchsetzung des Rechts.

 

Die Wahl des unabhängigen Kandidaten Melhem Khalaf zum neuen Vorsitzenden der Beiruter Anwaltskammer im November gilt bis heute als einer der größten Erfolge der Thawra. Gut hundert Tage nach Beginn der Proteste wird deutlich: Die Ansprüche des Aufstands sind maßvoller geworden. Viel wichtiger, sagt Nay Al-Rahi, sei aber: »Die Revolution hat das Bewusstsein verändert.«

Von: 
Thore Schröder

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