Lesezeit: 6 Minuten
Lina Al-Hathloul über ihre in Saudi-Arabien inhaftierte Schwester Loujain

»Sie wollen meine Schwester brechen«

Interview
Interview mit der Schwester von Loujain Al-Hathloul
Seit 2018 ist Loujain Al-Hathloul in Haft.

Die saudische Aktivistin Loujain Al-Hathloul sitzt seit 2018 im Gefängnis. Ihre Schwester Lina ist auf freiem Fuß, kämpft von Deutschland aus für ihre Freilassung und sieht nun Berlin in der Pflicht.

zenith: Mitte November wurde bekannt, dass der Fall Ihrer Schwester Loujain Al-Hathloul an das saudische Sondertribunal für Terrorismusbekämpfung überwiesen wird. Welche Folgen hat das für den Prozess?

Lina Al-Hathloul: Das Gericht ist für seine harten Urteile bekannt. An den Anklagepunkten selber hat sich aber nichts geändert: Meine Schwester wird beschuldigt, an internationalen Konferenzen teilgenommen und mit Journalisten und Amnesty International über die Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien gesprochen zu haben. Im ersten Prozess beantragte der Staatsanwalt die Höchststrafe, das waren ein paar Millionen Riyal und fünf Jahre Haft. Solange es bei diesen Anschuldigungen bleibt, wird es wohl nicht zu einem höheren Strafmaß kommen. Was nun genau passieren wird, ist aber schwer abzusehen. Wir hoffen natürlich, dass der Prozess beschleunigt wird, damit die Anklage endlich zugeben muss, dass es schlicht keine rechtliche Grundlage für die Anschuldigungen gibt; und meine Schwester bald freigelassen werden muss.

 

Wofür setzt sich Ihre Schwester genau ein?

Loujain war eine Anführerinnen der »Women Who Drive«-Kampagne. Da ging es um das saudische Fahrverbot für Frauen. Sie wurde 2014 zum ersten Mal in einem so genannten Pflegeheim interniert, im Grunde ein Gefängnis mit anderem Namen. Auch Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind, werden dorthin geschickt sowie diejenigen, die von ihrem männlichen Vormund dorthin abgeschoben werden. In diesem Heim wurde meiner Schwester klar, dass das Problem nicht nur darin besteht, dass Frauen nicht Auto fahren können, sondern in der strukturellen Gewalt gegen sie. Als Loujain herauskam, weitete sie 2015 ihren Aktivismus aus. Sie gehört zu den Wortführerinnen einer an den König gerichteten Petition, die das Ende des Systems der männlichen Vormundschaft fordert. Außerdem versuchte sie, ein Frauenhaus für Opfer häuslicher Gewalt zu gründen.

 

Wann und warum wurde sie zuletzt verhaftet?

Loujain hat im Februar 2018 an einer UN-Konferenz in Genf teilgenommen, wo die offizielle saudische Delegation eine Rede über die Menschenrechtssituation in unserer Heimat hielt. Meine Schwester wurde als unabhängige Stimme eingeladen und erhielt bereits im Vorfeld Drohungen seitens der Saudis. Sie wurde dazu gedrängt, ihre Teilnahme an der Konferenz abzusagen. Doch sie reiste trotzdem an.

 

»Für die Staatsanwaltschaft ist Aktivismus also Terrorismus«

 

Was geschah als nächstes?

Als sie einen Monat später in den Nahen Osten zurückkehrte, wurde sie in den Vereinigten Arabischen Emiraten entführt und nach Saudi-Arabien überführt. Im Mai 2018 wurde sie dann ohne Begründung verhaftet. Etwa einen Monat lang erhielten wir keinerlei Meldung, erfuhren nur das, was in den Zeitungen über sie geschrieben wurde. Sie und andere Aktivisten wurden als Verräter dargestellt, uns Angehörigen wurde weder eine juristische Anklage, noch eine Begründung für die Verhaftung vorgelegt. Schließlich konnte Loujain meine Eltern anrufen und erzählte ihnen, dass sie sich in einem inoffiziellen Gefängnis befinde. Im März 2019, zehn Monate später, begann dann ihr Prozess und die Anklage wurde verlesen. Es war wirklich überraschend zu sehen, dass es bei den Anklagen tatsächlich um ihren Aktivismus ging. Für die Staatsanwaltschaft ist Aktivismus also Terrorismus.

 

Wie geht es Loujain in dem inoffiziellen Gefängnis?

Meine Eltern fanden heraus, dass es sich um eine Foltereinrichtung handelte. Alles war dafür eingerichtet, politische Gefangene zu foltern. Sie haben meine Schwester mit Stromschlägen, Waterboarding, Schlägen, Schlafentzug, sexuellen Missbrauch und Zwangsernährung gefoltert. Sie durchlebte in diesen Monaten einen absoluten Albtraum. Als wir anfingen, öffentlich über die Folter zu sprechen, verbesserten sich ihre Haftumstände ein wenig. Aber die Wärter quälten sie weiter psychisch: Acht Monate war sie in Einzelhaft, vier davon ohne Kommunikation zur Außenwelt. Man hat versucht, sie zu brechen. Sie musste erst in einen Hungerstreik treten, bevor man sie noch einmal mit unseren Eltern sprechen ließ.

 

Wie verlief der Hungerstreik?

Von März bis Ende August 2020 verbot man Loujain jeglichen Kontakt zur Außenwelt – angeblich wegen Corona. Doch Mitte August sprach sie mit einer anderen Inhaftierten, die ihr sagte, dass sie immer noch regelmäßigen Kontakt zu ihren Eltern habe. Loujain war verzweifelt, weil die Gefängnisleitung sie anlog und im Grunde versuchte, sie weiter zu foltern, indem sie ihr alle Kontakte untersagte. Also begab sie sich für sechs Tage in ihren ersten Hungerstreik, nur damit unsere Eltern sie besuchen können. Und es funktionierte. Nach sechs Tagen durfte sie sie sehen.

 

Haben sich die Haftbedingungen seitdem verbessert?

Die Behörden behaupten, dass ihr regelmäßiger Kontakt zu unserer Familie erlaubt werde. Aber das waren leere Versprechen. Ende Oktober begann Loujain einen erneuten Hungerstreik, diesmal für zwei Wochen. Doch die Wärter taten alles, um sie psychisch zu brechen und zum Essen zu zwingen. Etwa indem sie Loujain nachts alle zwei Stunden aufweckten. Da sie nicht schlafen konnte, hatte sie Alpträume. Das brachte all die Tage der Folter in Erinnerung, es war unerträglich. Sie brach ihren Hungerstreik ab, nachdem man ihr gesagt hatte, dass ein neuer Gerichtsprozess beginnen würde.

 

»Ich halte es für Deutschlands Pflicht, Druck zu machen«

 

Wie geht es ihr heute?

Sie ist erschöpft. Meine Eltern waren schockiert, als sie beim Prozess sahen, wie Loujain am ganzen Körper zitterte. Das letzte Mal, dass sie sie in einem solchen Zustand gesehen hatten, war nach der Folter. Ihr Körper war ausgemergelt und schwach, ihre Augen müde und ihre Stimme sehr tief und zittrig. Trotz ihres Zustands bleibt sie stark. Sie bestand sogar darauf, ihre Verteidigungsrede selbst zu halten. Wir sind hoffnungsvoll, aber sie ist in keiner guten Verfassung.

 

Am 21. November fand der G20-Gipfel in Riad statt. Haben westliche Politiker Druck auf Saudi-Arabien ausgeübt, damit Menschenrechtsaktivisten wie Loujain freigelassen werden?

Ich bin sehr enttäuscht. Die Gastgeber des G20-Gipfels haben kein Wort über die Menschenrechtssituation verloren. Aber das wird uns natürlich nicht davon abhalten, weiter zu kämpfen. Ich denke, die saudische Regierung wird erkennen müssen, dass wir bei jeder Veranstaltung auf die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien aufmerksam machen werden. Das Schweigen der Regierung kann nicht für immer funktionieren.

 

Welche Rolle spielen die EU und Deutschland in Loujains Fall?

Die EU und Deutschland sind direkt an Loujains Fall beteiligt. In der Anklage gegen meine Schwester heißt es, dass sie in Kontakt mit ausländischen Diplomaten stand, darunter auch EU-Diplomaten, und wir wissen, dass sie Kontakt mit der deutschen Delegation in Saudi-Arabien hatte. Dieser Kontakt ist einer der Gründe, warum sie im Gefängnis sitzt. Deshalb halte ich es für Deutschlands Pflicht, auf den Fall aufmerksam zu machen und Saudi-Arabien unter Druck zu setzen, statt wie gewohnt Geschäfte mit Saudi-Arabien zu machen. Bislang haben sich aber weder die EU noch Deutschland zu dem Fall geäußert, zumindest nicht öffentlich.

 

Was erhoffen Sie sich von der Wahl von Joe Biden zum US-Präsident mit Blick auf den Fall ihrer Schwester und andere saudische Aktivisten?

Ich erwarte nichts mehr, weil ich in diesen drei Jahren genug Rückschlage erlitten habe. Hoffnungsvoll bin ich trotzdem. Joe Biden behauptet, dass die Menschenrechte wieder in den Mittelpunkt aller Diskussionen und Beziehungen gestellt werden. Ich hoffe also, dass solch ein Kurswechsel die Beziehungen der USA zu Saudi-Arabien verändern wird und dass die US-Regierung die Einhaltung von Menschenrechten zur Voraussetzung für ihre Handelsbeziehungen machen werden. Sollte dies der Fall sein, besteht die Möglichkeit, dass die USA Saudi-Arabien auffordern, Menschenrechtsaktivisten freizulassen.

 

Wie reagiert die saudische Regierung darauf, dass Sie öffentlich über das Schicksal Ihrer Schwester sprechen?

Man ignoriert uns und fährt mit der Politik des Schweigens fort – und das funktioniert. Wir haben keinen Zugang zu irgendwelchen Informationen. Ich kann außer meiner Stimme keine Beweise für die Folterungen liefern, und niemand darf Loujain besuchen. Wir haben darum gebeten, dass eine unabhängige Partei den Gesundheitszustand meiner Schwester beurteilt, doch die Beamten haben sich geweigert und alle Misshandlungen geleugnet. Und wenn User über den Twitter-Account der saudischen Menschenrechtskommission nach Loujain fragen, werden sie einfach geblockt und ihre Kommentare deaktiviert. Trotz all dieser Schwierigkeiten werde ich nicht aufgeben, bis meine Schwester frei ist, reisen darf und ihre Social-Media-Sperre aufgehoben wurde. Alles andere ist inakzeptabel.

 

Interview mit der Schwester von Loujain Al-Hathloul

Lina Al-Hathloul ist eine saudische Aktivistin und setzt sich für die Freilassung ihrer in Saudi-Arabien inhaftierten Schwester Loujain Al-Hathloul ein.

 

Sie lebt derzeit in Berlin und studiert Cyber Security.

Von: 
Lila Tyszkiewicz

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.