Lesezeit: 9 Minuten
Naqschbandiya in der Türkei

Der Magnat von Menzil

Feature
Naqschbandiya in der Türkei
Seyyid Sultan Abdulbaki Erol Elhüseyni Ende der 1990er Jahre Foto: Stefan Pohlit

Seit 1993 beherrschte Seyyid Abdulbaki Erol Elhüseyni als Kalif der Naqschbandiya von Menzil das geistliche Mosaik der Türkei – und baute den Orden zur Wirtschaftsmacht aus. Im Juli starb der Sufi-Scheich im Alter von 74 Jahren. Unser Autor begegnete ihm vor 22 Jahren.

Mehmet, ein Teppichhändler im Mevlana-Distrikt, hat mir den Floh ins Ohr gesetzt. »Sowas hast Du noch nicht gesehen!« Von Konya aus geht es nach Kappadokien und von dort, einen quälenden Tag lang, über Kayseri und Kahramanmaraş nach Kahta, ein in der Sonne röstendes Provinzkaff an den Ufern des Atatürk-Sees. Morgens in aller Frühe auf den Nemrut Dağı, dann um halb zwölf – zeitig fürs Freitagsgebet – in den Bus in jenes Dorf, »in dem ausschließlich Sufis leben«. In meiner Fantasie formen sich Fenster mit freundlichen Gesichtern: Frauen behängt mit beigefarbenen Brillen, Männer im Armani beim Gang durch die Gassen – Avatare von Murad Hofmann und Annemarie Schimmel.

 

Es ist der 20. Juli 2001, mitten in der türkischen Wirtschaftskrise. Noch siebeneinhalb Wochen bis zum 11. September, ein Jahr bis zum Aufstieg der AKP. In Konya kennt jeder die Koran-Kassetten von diesem Imam aus Mekka, der die Fatiha vor lauter Heulen nie zu Ende vorbringt. Die gute alte Zeit, als man sich Geschichten von Jacques Cousteau und den Konvertiten aus dem Westen erzählte: Hier, zwischen den Müllhalden von Kahta, kräht kein Hahn danach. Landesweit verzeichnet die Provinz Adıyaman die meisten Übergriffe auf religiöse Minderheiten. Die Frauen sind in schwarz, bis an die Nasen verschleiert, und der Einheimische im şalvar kauft mir meine Story nicht ab. »Was machst Du beruflich«, fragt er. »...Musik?« Nein, von Pierre Boulez und Wolfgang Rihm habe er noch nichts gehört. Musik sei verboten. Außer es werde Allah persönlich vertont – wie in dem ilahi aus dem Radio, das einem während des halbstündigen Transfers die Zeit vertreibt – a cappella und von nichts als rhythmischem Atmen begleitet.

 

Bei den letzten drei la-ilaha-illa-’llah-s vor dem Schlagbaum packen alle die Gebetskäppchen aus. Ein Soldat sammelt die Pässe ein. Nur die ausländischen bleiben hier. Die Moschee schon in Reichweite, bietet der Typ in der vorderen Reihe auf Englisch Hilfe an. Er heißt auch Mehmet. Vom Aussehen her ein »weißer« Türke, hält er sich seit seiner Rückkehr aus New York im Dorf auf. Der Name Menzil – vom arabischen Wort für Haus – hat im Türkischen eine andere Färbung – zumal in der Sufi-Sprache, wo menzil ähnlich wie der makam die Reichweite der durch geistige Übung erworbenen Fähigkeiten meint.

 

Bis zu Abdulbaki Erols Tod wird sich in der umliegenden Steppe Beton ausbreiten – Hochhäuser, Supermärkte, Krankenhäuser und Cafés, Verlage, Fernsehkanäle, Banken und ein Busbahnhof

 

Auf Deutsch lässt sich das Dorf im Juli 2001 noch gut mit einem Weiler vergleichen. Kaum ein Gebäude reicht übers Erdgeschoss hinaus. Vieles davon im Rohbau, und die neo-osmanische Moschee stellt alles in den Schatten. Bis zu Abdulbaki Erols Tod wird sich in der umliegenden Steppe Beton ausbreiten – Hochhäuser, Supermärkte, Krankenhäuser und Cafés, Verlage, Fernsehkanäle, Banken und ein Busbahnhof, der zig Tausende von Besuchern fasst – ein Netzwerk rund um die ganze Welt.

 

Durch die Mitte des Dorfs läuft eine Mauer. Auf dem staubigen Parkplatz, wo auch einige dolmuş warten, verabrede ich mich mit meiner (französischen) Freundin für den Nachmittag. Die paar Stunden bis dahin sitzt sie im haremlik, bei den Frauen aus. Mehmet sagt, ich solle mich mit dem abdest beeilen, damit wir den Ansturm in die Moschee nicht verpassen. Die Gemeinde – alles Männer, versteht sich – wartet auf den Einmarsch zum Gebet. Umringt von seiner Familie habe ich den Hoca, diesen sanften Koloss, nicht bemerkt. Alles an Abdulbaki Erol ist XXL: der massige Leib, die breiten Schultern, die Zyklopenhände und der kahle, knochige Schädel mit der langen Hakennase, den blassen Backen und einem Bart, den sie wohl mit der Heckenschere trimmen. Den Berichten nach praktiziert er die meiste Zeit den stillen zikir, also das (schweigende) Gedenken Gottes. Für die weltlichen Geschäfte sorgt seine Entourage. Ab und an streift sein Blick diejenigen, die Triftiges im Herzen tragen.

 

Frugal, kontemplativ und gläubig gleitet er zu Werk. Wir verbeugen uns. Aus dem Himmel bricht der ezan, und im Hof wird die Hölle heiß. Mehmet reißt mich an der Hand durchs Gedränge. In der dritten Reihe ergattert er einen freien Fleck: hinter den weißen Turbanen und rasierten Nacken der Elite und nahe beim Scheich. Der kniet der Versammlung zugewandt, und sein Blick mischt sich in die Menge. Hier und da verliert einer die Beherrschung und fängt an zu wimmern. Ein junger Gelehrter hält die Predigt. Es geht um ehliyet, die Betreuung im Glauben als Argument religiöser Erziehung. Als wir für die getrennten Gebetszyklen aufstehen, packt mich der Kurde neben mir an der Schulter und zeichnet mit der Hand die unsichtbare Grenze, hinter der sie nach der Lehre von Al-Schafi beten.

 

Die Stimme des Scheichs ertönt nur hier, in seinem Amt als Imam, im hermetischen Echolot – ein gähnendes, in sich gekrümmtes Glissando aus der Tiefsee. Im Anschluss machen die meisten weiter und verteilen sich auf den freigewordenen Flächen. Als alle fertig sind, tagt die Chefriege von einem Tisch aus zum tövbe töreni, einem Ritual zur Vergebung der Sünden. Dabei werden auch neue Sufis empfangen. Ich habe den Ernst der Lage nicht begriffen und mich, wie Parsifal in der Gralsburg, in die Schlange eingereiht – nicht ahnend, dass ich gleich dran bin, des Hocas Hand zu küssen. Ein kleiner Konvent wird in die benachbarte Teeküche abgezweigt, um mich einzuweihen.

 

Dass die Nachfolge in der Familie bleibt, garantiert eine Kontinuität, wie sie die gestürzte Gülen-Bewegung niemals besaß

 

Der jüngste von Abdulbaki Erols Söhnen, Muhammed Fettah, kramt ein Exemplar der acht Artikel hervor, die die Aufnahme in den Orden regeln. Sollte ich dabei bleiben, müsste ich die Nacht unter Beaufsichtigung im Dorf verbringen. Mehmet küsst ihm die Hand. Die langen Nasen und den hellen Teint, sagt Mehmet, haben sie vom Propheten Muhammad geerbt. Als direkte Nachfahren des Märtyrers Hussain tragen die Scheichs von Menzil den Ehrentitel Seyyid. In 22 Jahren werden sich Muhammed Fettah und sein Bruder Muhammed Mübarek gegen die Ernennung des Ältesten, Muhammed Saki, zum alleinigen Scheich auflehnen. Menzil wird nach Art des Alexanderreichs in drei Teile zerfallen.

 

Die türkische Naqschbandiya hat ihre Wurzeln in Indien und war immer kurdisch geprägt. Schon Scheich Said, der Anführer des ersten kurdischen Aufstands von 1924, gehörte zur Halidiye aus Bagdad, deren Kalifat 1972 an den Gründer des Menzil-Ordens, Muhammed Raschid Erol, fiel. Nach dem Militärputsch von 1980 wurde der Orden geschlossen, seinem Anführer erst 1986 erlaubt, zurückzukehren. Der Rechtsextremist Muhsin Yazıcıoğlu ging hier als erster auf Stimmenfang, gefolgt vom achten Präsidenten der Türkei, Turgut Özal. Es war die Geburtstunde der türkischen Johann Tetzels: Das Vakuum der eingesperrten Opposition füllte ab jetzt die Sunna.

 

Unter Muhammed Raschid Erols Bruder Abdulbaki schwang das Pendel ab 1993 vom ursprünglichen Plan der ehliyet (spiritueller Betreuung) in den Aufbau einer Massenbewegung, die Spenden aus aller Welt empfing. Bei den letzten Wahlen stellte sich Menzil geschlossen hinter Erdoğans Koalition. Dass die Nachfolge in der Familie bleibt, garantiert eine Kontinuität, wie sie die gestürzte Gülen-Bewegung niemals besaß. Heute geht es auch um ein Millionenerbe.

 

»Drei Tage bist Du hier Gast. Danach musst Du Dich beteiligen«, sagt Adnan, ein Deutschtürke aus Dortmund, auf dem Marsch zur Markat-ı Şerif, Muhammed Raschid Erols Mausoleum. Auf dem Rückweg zeigt er mir die Bäckerei, in der sie das dunkle Brot des Propheten backen, indem sie die Hefe seit der Hidschra am Leben halten. Drei Laib am Tag sind umsonst. Adnan schickt mich an die Pforte zum Frauenbereich, damit ich meine Freundin hole, stellt uns im Gegenzug seinen Sohn vor und spendiert ein warmes Gericht mit Fleisch. »Du musst den Orden pragmatisch sehen«, sagt Adnan und reicht das Bonmot, dass es »so viele Wege zu Gott wie Menschen gibt«, hinterher.

 

Die Naqschbandiya ruht wie ein Granitblock im Determinismus der Sunna, wo die Grenzen zum Extremismus verschwimmen

 

Immer wieder höre ich das Argument der Angst – den selbstsüchtigen Mangel an Gottvertrauen, dass der Mensch zu sündig sei, um allein, ohne die schützende Hand des Hocas, Heil zu finden. Die Behauptung trügt, dass dieser Revisionismus mit seinen selektiven Symbolen den Menschen in seine Mitte führt. Dass der Sufismus diese Lücke mit Liebe füllt, ist vergessen. Die türkische Naqschbandiya rückt allein Verbote, die muharramat der Phärisäer, in den Fokus. Im Unterschied zur Herzenswärme des Mevlevi-Kults projiziert ihre Kargheit das Göttliche ins Weltall hinaus. Anstelle des Überbaus, den die Mevlevi durch die Schönen Künste errichtet haben, ruht die Naqschbandiya wie ein Granitblock im Determinismus der Sunna, wo die Grenzen zum Extremismus verschwimmen.

 

Wir lernen noch andere Türken aus Deutschland kennen. Manche sind auf Entzug und haben erst hier so etwas wie den Sinn des Lebens gefunden. Keiner von ihnen entspricht den Klischees über Islamisten. Rein äußerlich fällt es schwer, zu sagen, was sie verbindet – bis auf ihren Scheich eben, den sie zärtlich Baba nennen. Im Anschluss ans Nachmittagsgebet bleiben Adnan und die anderen Anhänger mit dem Scheich in der Moschee. Ihr ekstatischer zikir schallt durch die Mauern, bis die Gemeinde in einem gewaltigen Kondukt vors Mausoleum pilgert, wo Abdulbaki Erol jeden Freitag fünfzig Seiten aus dem Koran liest. Sein Gesicht bläht sich wie ein Ballon vor Erschöpfung in der Hitze.

 

Punkt 18 Uhr prescht meine Partnerin durch die Pforte. Plötzlich habe ich es eilig, zu verduften. Ich will hier weder die Nacht verbringen, noch diesem Orden beitreten. Mehmet ist schockiert: »Du musst bleiben!« Eine Kurdin im kara çarşaf – sie heißt Zeliha – lädt uns spontan zum Essen ein. Der dolmuş bringt uns an den Rand ihres Dorfs, umringt von Gebirgen. Sobald er weg ist, schlägt sie ihren schwarzen Umhang auf. Die Einheimischen lassen mich wie Jesus auf einem Esel reiten. Zelihas Eltern geben uns ihr Schlafzimmer und bieten ihre ganze Küche auf. Da sind sie, die kleinen Leute aus der Provinz. Ob es im Parlament (oder in Menzil) jemanden juckt, dass sie kein fließend Wasser haben?

 

Turgut Özals Nachfolger, Süleyman Demirel, wurde in Ankara »König der Staudämme« genannt und ließ ihr Land im Euphrat versinken. Aber wer immer mich damals in einer Moschee oder im Basar ansprach, gehörte zur Gemeinde von Menzil und ihrem Scheich: ein Myzel der Millionen kurz vor dem Durchstoß; bereit, einem neuen System auf den Leim zu gehen.

Von: 
Stefan Pohlit

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.