Die Organisation der Proteste im Libanon wirkt diffus. Das sei genau so gewollt, sagen die Aktivisten. Die Regierung setzt derweil auf Einschüchterung und Verzögerung. Wo soll das hinführen?
Rund um das im Bürgerkrieg zerschossene Märtyrerdenkmal im Zentrum von Beirut ist der Boden mit Kunstrasen ausgelegt, unter einer Plane, auf Plastikhockern zwischen Iglu-Zelten, sitzen jungen Menschen gehüllt in Zedernflaggen und Einwegponchos, die abwechselnd diskutieren und singen und dabei einen Mate-Becher kreisen lassen. Ein Lastwagen fährt vorbei, aus den Lautsprechern auf der Ladefläche schallt ohrenbetäubend laute Musik. Es ist der einzige Regentag in der ersten Woche des Protests im Libanon, bei der es um nicht weniger als den Sturz der gesamten politischen Kaste geht. Das schlechte Wetter trägt zum Woodstock-Gefühl bei, das sich seit dem 17. Oktober in Downtown rund um die Al-Amin-Moschee – und im ganzen Land – verbreitet hat.
Das wichtigste dabei ist: Die Libanesen kommen zusammen. Auch in den armen und besonders konfessionell geprägten Städten der Peripherie demonstrieren die Massen. Das sunnitische Tripoli ist durch virale Party-Videos quasi über Nacht zur In-Stadt der Revolution geworden, in Nabatiyeh im Südlibanon trotzen Guerillasongs singende Demonstranten (»Bella Ciao«, ein Partisanenlied, das zuletzt durch die Netflix-Serie »Haus des Geldes« neue Popularität erlangte) den Schlägern und Drohgebärden der Milizionäre von Hizbullah und Amal.
In Beirut, zwischen den Zelten unter dem Märtyrerdenkmal, erklären Nasrin und Wafa, warum sie sich dem Protest angeschlossen haben. Beide sind Lehrerinnen. Die eine ist Sunnitin aus der Hauptstadt, die andere Drusin aus den Schuf-Bergen. Auch sonst könnte die beiden Frauen einiges trennen, denn Nasrin Schahin arbeitet als freischaffende Lehrerin im staatlichen Schulsystem, Wafa, deren Nachname hier ungenannt bleiben soll, als festangestellte Lehrerin im privaten Schulsystem. Wie alle Gesellschaftsbereiche ist auch das Bildungssystem im Libanon von der konfessionellen Zersplitterung und dem Rückzug des Staates gekennzeichnet. Eine wachsende Mehrheit der libanesischen Schüler wird in nicht-staatlichen, oft von den Religionsgemeinschaften betriebenen Schulen unterrichtet; an den staatlichen Schulen wächst der Anteil der Lehrer, die auf Vertrags- beziehungsweise Stundenbasis bezahlt werden.
Nasrin, Mutter einer 21 Jahre alten Tochter, arbeitet seit zehn Jahren unter diesen Bedingungen, ihre Krankenversicherung und Altersvorsorge muss sie selber zahlen, vergütet wird sie pro Stunde, und das nur drei mal im Jahr, sagt sie. »Wenn wir denn überhaupt bezahlt werden und nicht erst noch monatelang streiken müssen, um unser Geld zu bekommen.« Weil die Lehrergewerkschaft wie viele andere Arbeitnehmerorganisationen politisch unterwandert und gesteuert ist, hat die 42-Jährige bereits vor fünf Jahren ein Komitee für die Belange der prekär beschäftigten Lehrer mitgegründet, immer wieder hat sie mit ihren Kollegen für eine fairere Bezahlung demonstriert, auch vor dem Bildungsministerium in Beirut. So war Nasrin Shahin schon vor Beginn der Proteste darin geübt, die sozialen Missstände im Land anzuprangern.
Die landesweiten Demonstrationen entzündeten sich an einer später zurückgezogenen Steuer auf WhatsApp-Anrufe, richten sich aber insgesamt gegen viel mehr: gegen die katastrophalen Verhältnisse im Land, darunter die omnipräsente Korruption und die überall sichtbare Unfähigkeit des Staates, zutage getreten nicht zuletzt während der verheerenden Waldbrände Anfang des Monats, die marode Infrastruktur, die täglichen Stromausfälle, das schmutzige Trinkwasser, die Umweltverpestung und eine Wirtschaftskrise mit Währungsverfall und imminentem Staatsbankrott. Alles Umstände, die ein »Weiter So« beziehungsweise eine Rückkehr von den Protesten zu diesem kaputten System kaum möglich machen; zumal sich die Situation durch den faktischen Stillstand des wirtschaftlichen Lebens seit vorvergangener Woche noch verschärft haben dürfte.