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Piraterie vor Somalia

Wer sind hier eigentlich die Piraten?

Analyse
Piraterie vor Somalia
Die Piraterie ist heute für viele junge Leute am Horn von Afrika eine Chance ihre Perspektiven zu erweitern. The British Library

Wem gehört das Meer vor Somalias Küste? Unterscheiden sich private Beutenehmerei und staatliche Bezollung wirklich so sehr? Eine kulturhistorische Annäherung.

Wer heute als junger Mensch am Horn von Afrika aufwächst, der hat nicht viele berufliche Perspektiven. Private Fischerei wird seit Jahrzehnten von großen Fangflotten erschwert, das Land ist zu weiten Teilen vom Terrorismus und von Korruption zerrüttet. Die Piraterie war für viele junge Leute daher eine Chance, die Perspektiven zu erweitern, vor allem in den Jahren 2008 bis 2012. Die Traditionen der Piraterie reichen allerdings viel weiter zurück und waren beileibe nicht auf die Küste Ostafrikas beschränkt.

 

Nicht gänzlich verwunderlich schien es deutschen Kolonialpolitikern noch im 19. Jahrhundert, wenn bei einem Schiffbruch am Horn die Fracht von einigen Einheimischen beansprucht wurde. Denn recht lange war es auch in Mitteleuropa normal, dass Handelsreisende bei ihrer Durchreise durch eine Region auf informelle Weise »besteuert« wurden.

 

»Das Recht, einen Theil der geborgenen Güter zurückzubehalten, besteht zum Theil in Europa noch heute«, schrieb etwa der deutsche Regierungsbaumeister Kurt Hoffmann, ein enger Vertrauter des Kolonie-Lobbyisten Carl Peters, in seiner Schrift »Die Wichtigkeit des Somalilandes« aus dem Jahr 1889.

 

Ob nun auf dem Land oder auf der See, Karawanen arabischer Handelsreisender mussten bei der Passage durch bestimmte Stammes-Regionen Anteile ihrer Güter an den jeweils herrschenden Stamm abgeben. Abaan nennt sich diese Praxis in Somalia. Heute kennen wir in Deutschland diese Politik beispielsweise als Lkw-Maut, in der Wirtschaftsfahrzeuge einen Betrag zur Benutzung bestimmter Wege zahlen müssen. Dieser Wegzoll wird in Deutschland von teilstaatlichen Behörden erhoben.

 

Nun ist eine Bezollung eines Wasserweges zum Zwecke des Handels eine geringfügig andere Frage: Diese Praxis wurde in der Neuzeit vor allem von den entstehenden europäischen Seemächten genutzt. Die Portugiesen baten durch die Ausgabe sogenannter Cartaz-Scheine in der Neuzeit Handelsreisende um eine Abgabe, wenn diese in das von den Portugiesen beanspruchte Herrschaftsgebiet eingetreten waren.

 

Im Zuge der bilateralen Verträge von Tordesillas und Saragossa mit den Spaniern ging diese Praxis in die gewerbsmäßige Anwendung einer Bezollung durch »Marke- und Repressalbriefe« über. Händler oder Schiffsreisende, die unerlaubt in diese Gebiete einfuhren, ohne Abgaben zu leisten, wurden fortan als Piraten gebrandmarkt.

 

Erst mit dem maritimen Aufstieg der Briten und einer multilateralen Seerechtsdeklaration von 1856, in der private Beutenehmer als Piraten und zugleich als »Feind Aller« bezeichnet wurden, veränderte sich die Praxis des gegenseitigen Beutenehmens: Nun waren es noch kleinere Stadtstaaten wie Algier, Tunis und Tripolis, die als Horte von Seeräubern gebrandmarkt wurden.

 

Dabei war es das Ziel der großen Kolonialmächte, diesen Staaten die politische Souveränität abzusprechen. Je nach politischer Zielstellung konnten sich einzelne Herrscher und Seemächte gegenseitig der Piraterie bezichtigen. So bezeichneten die Fürsten der Al Qasimi an der Straße von Hormus die Briten als Piraten, um sie als illegitime Herrscher darzustellen – oder eben deutsche Handelsreisende und Kolonialpolitiker, um den regionalen Sultanaten »Somalias« ihren Herrschaftsanspruch abzusprechen.

 

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Piraten zum »Feind Aller« erklärt

 

Wenn wir über »Piraterie« in Somalia sprechen, dann geht es um das heutige Puntland, das sich westlich und südlich vom Horn von Afrika erstreckt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Region vor allem von Fürsten der Majeerteen regiert. Die früheren Sultane Ismaan Mahmuud und Yusuuf Ali konnten ihre politische Bedeutung auch durch ihren Reichtum aus den Wegzoll-Abgaben begründen.

 

Dazu kam die sogenannte Standpiraterie, also die Bezollung von auf Grund gelaufenen Schiffen. Damals lag im jemenitischen Aden die wichtigste Bekohlungsstation an der Europa-Indien-Route, an der im Jahr bis zu 3.000 Schiffe Kohle luden. Mit der Eröffnung des Suezkanals 1869 hatte Aden rasant an Bedeutung gewonnen.

 

Mit Dutzenden eigenen Schiffen trieben die somalischen Sultanate Handel mit Aden – vor allem mit Vieh. Heute gehört zur erweiterten Handelsregion des Golfs von Aden der jüngst vergrößerte Suezkanal, den im Jahr bis zu 25.000 Schiffe passieren, das Rote Meer, das Arabische Meer und die Straße von Hormus, durch die täglich 3,3 Millionen Barrel Erdöl transportiert werden.

 

Der Golf von Aden selbst gehört zu den wichtigsten Engstellen des internationalen Seehandels. Ein Handel, an dem deutsche Reedereien einen bedeutenden Anteil haben, weil deutsche Reeder die meisten Containerschiffe der Welt besitzen. Obwohl sich eine internationale und kollektive Sicherung des Meeres kaum durchsetzen lässt, wird das angesichts der ökonomischen Bedeutung der Routen dennoch versucht – auf militärischem Wege.

 

Nach der somalischen Tradition des Abaan ist das Verlangen eines Wegzolles oder eines Schutzgeldes im Grunde kein »krimineller Eingriff« in das Marktgeschehen. Die Fortführung dieser Tradition lässt sich nämlich auch sozial-politisch erklären. Denn die Entwicklung der ausländischen Großfischerei vor der Küste Puntlands und das Verklappen von Giftmüll seit dem Zerfallen des sozialistischen Zentralstaats seit 1991 führten dazu, dass die Abaan-Praxis seit den 1980er Jahren auf dem Meer eine Renaissance erfährt.

 

In Reaktion auf diese Verlagerung wurden sowohl im Staat Siad Barres als auch später von den Behörden Puntlands Küstenwachen eingerichtet, die garantieren sollten, dass die internationalen Fischfangflotten Gebühren zahlen. Auch diese Küstenwachen waren halbstaatlich organisiert. Die Region des Somalstroms gehört zu den fünf ertragreichsten Fischgründen der Welt.

 

Diese neueren Erfahrungen vor Augen, ließe sich fragen, warum es keine grundsätzliche Steuer auf die Nutzung des Meeres gibt. Schon in der Antike sah man das Meer als einen Ort, über den man sowohl Waren als auch Ideen austauschen könne. Das Meer war also ein Medium. Seit der Neuzeit wurde das Meer von Europa her als Medium gedacht, das die Völker durch Seehandel verbinden solle.

 

Diese Prägung erhielt es schließlich schon im frühen 17. Jahrhundert von Hugo Grotius, der als Vater des heutigen Seerechtes gilt, zugleich aber auch Kind seiner kolonialen Umwelt war. Das Meer als kollektives Naturgut, hat – etwa wegen des großen Ausstoßes von Schadstoffen durch die Schiffe – eine wichtige Bedeutung für das ökologische System der Erde und für ein ökonomisches Auskommen der Küstenbewohner. So bekommen vor allem die Bewohner an den Küsten der Transitländer die Schattenseiten des freien Seehandels zwischen den Industrieländern zu spüren.

 

Jenseits des eigenen Strandes wurden schon in der westlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts glückliche und gerechte Staaten imaginiert. Eine solche Sehnsucht drückt sich auch bei den heutigen somalischen Piraten aus. Wegen eines höchst unsicheren Arbeitsmarktes und angesichts eines Durchschnittseinkommens von 400 Dollar im Jahr heuerten viele junge Puntländer in der Hoffnung bei den Piraten an, von einer westlichen Behörde festgenommen zu werden. Denn in den Ländern ihrer Sehnsucht bekamen sie die sonst beinahe ungreifbare Chance, Asyl zu beantragen. Einigen wenigen gelang dies. Inzwischen bleibt den meisten Somalis, auf die millionenschweren Schiffe zu schauen, die täglich ihre Küste passieren.


Thomas Stange ist Kulturhistoriker und forscht zum deutschen Diskurs zur Piraterie in Somalia in historischer Perspektive.

Von: 
Thomas Stange

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