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Proteste im Libanon

»Nabih Berri, du Dieb!«

Kommentar
Proteste im Libanon
Foto: Daniel Gerlach

Willkommen im Frühling! Die Massenproteste im Libanon sind nichts weniger als eine historische Zäsur. Denn endlich nehmen sie die gesamte politische Führung in die Verantwortung – und halten dabei nicht hinterm Berg.

Dieser Freitag, der 18. Oktober, ist ein historischer Tag für den Libanon. Auch wenn die Massenproteste in Beirut – und in zahlreichen anderen Teilen des Landes – gerade einen Tag andauern, ist doch so vieles anders als zuvor. Denn zumeist sind es selten mehr als ein paar Hundert Aktivisten, die sich regelmäßig im Stadtzentrum versammeln, um Korruption und Misswirtschaft anzuprangern – und oft genug an ihren Landsleuten verzweifeln, die sich mit dem politischen Stillstand arrangiert haben und sich lieber ins Private zurückziehen. Dann ist da das Diktum vom schwachen Staat, – ganz im Gegensatz zu den überbordenden Staatsapparaten, gegen die sich Demonstranten in anderen Ländern der arabischen Welt stellen.

 

Und in den vergangen Jahren kam da noch die schwierige geopolitische Lage hinzu, insbesondere der Krieg in Syrien, der immer wieder als Grund dafür angeführt wird, warum die Libanesen lieber die Füße stillhalten. All diese vermeintlichen Konstanten wiegten wohl auch die Regierung des Landes in Sicherheit – selbst als den Hauptstädtern im Sommer 2015 buchstäblich der Müll vor die Haustür floss, verebbten die Proteste recht schnell.

 

Vieles deutet darauf hin, dass es diesmal anders kommt, denn es kommt in diesen Tagen und Wochen einfach zu viel zusammen. Der unmittelbare Auslöser für die Proteste war die Ankündigung der Regierung, eine Steuer auf die Benutzung des Kurznachrichtendienst WhatsApp zu erheben. Abgesehen von rechtlichen und technischen Bedenken, solch eine Abgabe überhaupt durchzusetzen, fassten viele Libanesen die Gebühr als einen besonderen Affront auf, schließlich müssen sie in der Region ohnehin am meisten für Telefonie blechen. Wie in vielen infrastrukturellen Bereichen, ist der Markt hier aufgeteilt, der Service mies, die Kosten hoch, und die Politik zeigt wenig Interesse, überhaupt zu intervenieren.

 

Dem Libanon gehen die Devisen aus, und auch der Zufluss aus dem Ausland verebbt zusehends

 

Dass sie tiefer in die Tasche greifen müssen, vielleicht hätten es die Libanesen akzeptiert, doch viele können es schlicht nicht mehr: Schon vor mehreren Wochen erfasste eine Zahlungskrise das Land. Den Automaten mehrerer Geldhäuser gehen die Scheine aus – ein Hinweis auf die zugrunde liegende Wirtschaftsflaute, die das Land in den letzten Jahren tapfer ignoriert hatte. Der libanesische Bankensektor befindet sich ohnehin in einer heiklen Zwickmühle, seit der Sanktionsdruck, insbesondere auf die Hizbullah, aber auch auf Vertreter des syrischen Regimes, international mit größerem Nachdruck geführt wird. Doch das Problem liegt noch tiefer.

 

Denn dem Libanon gehen die Devisen aus, und auch der Zufluss aus dem Ausland verebbt zusehends. Bislang funktionierte die libanesische Wirtschaft so: Das Land lebt über seine Verhältnisse, zwingt viele seiner fähigsten Köpfe, das Glück lieber im Ausland zu suchen, und profitiert dann davon, dass die Auslandslibanesen das chronische Defizit schon ausgleichen werden. Eine wirkliche Reform dieser strukturellen Schieflage hat keine libanesische Regierung in den vergangenen Jahren wirklich geplant.

 

Nach der Müllkrise führten nun in dieser Woche die verheerenden Waldbrände vielen Bürgern vor Augen, welche Folgen die Kombination aus schwachem Staat, schlechter Infrastruktur und Zahlungsklemme hat. Zypern und Griechenland mussten mit ihren Löschflugzeugen aushelfen – selbst die dominanten politischen Parteien, Geschäftsleute und Warlords, die sonst mit ihren Dienstleistungen in die Bresche springen, standen ratlos am Rand.

 

Durch den Regierungskonsens gibt es keine wirkliche Opposition mehr – und die politische Klasse hat sich durch die Konzentration an der Macht angreifbar gemacht

 

Und dort stehen sie auch an diesem Freitag. Denn die Proteste sind nicht nur Ausdruck einer Wirtschaftskrise, der politische Status Quo steht so offen am Pranger wie lange nicht mehr. Der politische Stillstand im Libanon ist ironischerweise Resultat eines einigermaßen gelungenen Konfliktmanagements: Das (zweite) Kabinett von Premier Saad Hariri, Ende 2018 vereidigt, ist gerade deshalb so aufgebläht, weil jeder ein Teil vom Kuchen bekommt. Die Trennlinien der Lager des »8. März« und des »14. März«, die seit dem Abzug der Syrer die politische Landschaft prägten, wurden so aufgeweicht und die das innenpolitische Klima ein Stückweit befriedet.

 

Andererseits gibt es keine wirkliche Opposition mehr – und die politische Klasse hat sich durch die Konzentration an der Regierung angreifbar gemacht. Der gesellschaftliche Sektarismus hält sich hartnäckig im Libanon, seine politische Repräsentation aber steht auf dem Prüfstand: Auf den Demonstrationen dominieren libanesische Flaggen, die Symbole der Parteien sieht man nur selten. Doch entscheidender sind die Tabus, die die Demonstranten brechen, denn sie kritisieren die Führer der Parteien offen wie nie.

 

 

Bemerkenswert ist da etwa das Beispiel Nabih Berri. Der Führer der schiitischen Amal-Bewegung hat das Amt des Parlamentspräsidenten de facto seit über drei Jahrzehnten monopolisiert und gilt als einer der korruptesten Politiker des Landes – wenn auch oft unter vorgehaltener Hand. Auf einer Demo in Nabatiyah, im Herzland der Amal-Bewegung im Südlibanon, fällt nun ein Tabu: »Nabih Berri, du Dieb!«, hallt es durch die Straßen.

 

 

»Kriegst du nach 30 Jahren an der Macht immer noch nicht den Hals voll?«, fragt ein Demonstrant eine sichtlich irritierte Reporterin des Amal-nahen Senders Al-Jadid und erkundigt sich, ob er sich bewusst sei, dass er sich in Nabatiyah befinde. Doch der Demonstrant und seine Mitstreiter lassen sich nicht einschüchtern. Sie haben wahrscheinlich die Bilder von ganz ähnlichen Versammlungen in anderen Städten im Südlibanon gesehen, etwa in Sur.

 

Präsident Aouns Schwiegersohn, Außenminister Gebran Bassil, gilt heute als Verkörperung der Vetternwirtschaft

 

Ähnlich groß ist auch der Unmut über die Hizbullah, wenngleich die Demonstranten in diesem Fall doch noch weit mehr Vorsicht walten lassen. Hassan Nasrallah öffentlich kritisieren – es wäre die nächste Stufe in der Öffnung des öffentlichen Diskurses im Libanon. In vielerlei Hinsicht ähneln die Proteste jenen im Irak. In beiden Fällen machen die Menschen deutlich, dass ihre religiöse Zugehörigkeit nicht mehr automatische Loyalität verspricht und sich die sektaristisch verfassten Parteien an ihrer Sachpolitik messen lassen muss. Auch in den sozialen Medien begrüßen viele Iraker die Proteste im Zedernstaat.

 

Doch im Gegensatz zum Irak scheint sich der Unmut in nahezu allen Landesteilen und Bevölkerungsschichten Bahn zu brechen. In Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Landes, etwa hängten Demonstranten Plakate des Milliardärs Najib Mikati und des Karame-Clans ab. Auch Präsident Michel Aoun steht im Fokus der Kritik: Der »Géneral« war einst als politischer Außenseiter angetreten, trotz seiner umstrittenen Wahl ins Amt inszenierte er sich immer als Gegenpol zum libanesischen Politfilz. Heute gilt sein Schwiegersohn, Außenminister Gebran Bassil, fast als Verkörperung der Vetternwirtschaft. Als Energieminister scheiterte er mit Pauken und Trompeten an der Reform des maroden Stromkonzerns Electricité du Liban, in seinem neuen Amt tut er sich fremdenfeindliche Hetze gegen syrische Flüchtlinge hervor.

 

Stellen sich die Libanesen nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen das mächtige Parteienkartell?

 

Ein noch erbärmlicheres Bild gibt eigentlich nur der Premierminister derzeit ab. Der Sohn des 2005 ermordeten Rafik Hariri machte bei seinen öffentlichen Auftritten immer den Eindruck, nicht wirklich Lust auf den Job zu haben und lieber im Ausland seinen geerbten Reichtum auszuleben. Als vor wenigen Wochen Berichte über teure Geschenke an ein Model aus Südafrika (das seine Avancen wohl nicht erwiderte) die Runde machten, hagelte es Hohn und Spott für den Regierungschef – auch nach seiner kurzzeitigen Entführung und Festsetzung in Riad im vergangen Jahr hielt sich die Sympathie seiner Landsleute in Grenzen. Innerhalb der politischen Klasse ist Saad Hariri wohl der einzige Politiker, der über einen Rückzug aus der politischen Verantwortung wohl nicht ganz unglücklich wäre.

 

Gut möglich also, dass den Protesten ein Wechsel an der Regierungsspitze folgt – doch lassen sich die Demonstranten mit einer Personalrochade an der Spitze abspeisen? Und werden sie das landesweite Momentum aufrechterhalten und ihren Protest in eine politische Roadmap überführen können? Immerhin haben die Demonstranten bereits ein wirkmächtiges Symbolbild: Als ein Leibwächter von Bildungsminister Akram Chehayeb wild mit einem Maschinengewehr herumfuchtelte, um Demonstranten zu verscheuchen und dabei immer wieder Warnschüsse abfeuerte, trat ihm eine junge Frau beherzt in den Bauch - dieses Motov machte in den sozialen Medien schnell die Runde.

 

 

 

Trotz vereinzelter Straßensperren und brennender Barrikaden verliefen die Proteste bislang größtenteils friedlich, in typisch libanesischer Manier gar feuchtfröhlich – wohl auch, weil die Sicherheitskräfte überhaupt nicht auf das Ausmaß der Demonstrationen gefasst und womöglich kaum konkrete Anweisungen bekommen haben.

 

Mehrere der so verfemten politischen Parteien haben indes angekündigt, sich dem Protest anzuschließen – darunter auch die Hizbullah. Solch eine Kooptation ist wohl die größte Gefahr für die junge Protestbewegung, aber auch der entscheidende Test: Stellen sich die Libanesen nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen das mächtige Parteienkartell, gegen die Hizbullah, Amal, Mustaqbal, Forces Libanaises, PSP und FPM?

Von: 
Robert Chatterjee

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