Der Musiker Ray Asery war dabei, als im Jemen 2011 plötzlich radikale Veränderung möglich war. Heute glaubt er, dass die Erfahrung von Repression und Krieg in der nächsten Phase der Revolution von Nutzen sein könnten.
Wir sangen von Freiheit und Widerstand. Wir waren Revolutionäre. Mit Musik und Kunst wollten wir den Jemen be- freien. Unsere Bühne war der »Platz des Wandels«, wie wir den Bereich vor der Universität von Sana’a kurzerhand tauften. Zwischen all den Zelten, politischen Debatten und kreativen Workshops spielten wir kostenlose Reggae-Konzerte. Von hier aus zogen wir los, um zu protestieren – zum Präsidentenpalast, zum Justizministerium und wieder zurück. Es war eine aufregende Zeit. Der Weg war weit, was danach folgte, schmerzhaft.
Aber vielleicht erzähle ich von Anfang an: Im Jahr 1994, als ich neun Jahre alt war, mündete der Nord-Süd-Konflikt im Jemen in einen Bürgerkrieg – Tausende verloren ihr Leben. Danach versprach die Regierung mal wieder Frieden und Wohlstand. Aber die Realität sah anders aus: Korruption, Selbstbereicherung und Wahlmanipulation gehörten ebenso zur politischen Normalität wie die Unterdrückung, Inhaftierung und Folter von Aktivisten, Journalisten und politischen Gegnern.
Und Gewalt war kein Monopol der Regierung: In Moscheen wurden gewaltverherrlichende islamistische Ideologien gepredigt, die Erziehung in Schulen und Familien legte Wert auf militärischen Drill. Wer sich Veränderung wünschte, hatte es schwer – politisch und privat. 2008 wollte ich Gitarre spielen lernen. Meine Eltern, bei denen ich damals lebte, wollten nichts davon wissen – noch nicht einmal den Wunsch durfte ich aussprechen.
Also kaufte ich mir heimlich eine Gitarre und versteckte sie im Kleiderschrank. Natürlich fanden sie das heraus. Es dauerte nicht lange. Vor meinen Augen schlugen sie das Instrument in Stücke. Aber 2011, als wir sahen, was in Tunesien und Ägypten passierte, war der Wandel plötzlich greifbar. Zu Tausenden gingen wir auf die Straße, um für Frieden und unsere Rechte zu demonstrieren. Auf dem »Platz des Wandels« lernte ich unzählige Menschen kennen: Musiker, Aktivisten, Menschenrechtler. Mit einigen von ihnen gründete ich die Künstlergruppe 3 Meters Away.
Die anfängliche Revolutionsromantik traf aber schnell auf die harte Realität der Repression.
Unser Kollektiv bestand aus Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten: Fotografen waren dabei, Musiker, Schriftsteller, aber auch ein Zahnarzt. Uns alle vereinte der Wunsch nach Veränderung. Viele meiner ausländischen Freunde verließen damals aus Sicherheitsgründen das Land. Einer von ihnen bat mich, auf sein Haus aufzupassen, bis sich die Situation wieder beruhigt.
So verfügte ich plötzlich über ein Haus mit drei großen Zimmern, hohen Betten, ganz vielen Büchern und einem Garten – voll möbliert und nur 500 Meter vom »Platz des Wandels« entfernt. Dort nahm ich einige meiner revolutionären Künstlerfreunde auf. Damals waren wir Studenten, ich befand mich gerade im zwölften Semester meines Medizinstudiums.
Obwohl ich nebenher als Dolmetscher für Human Rights Watch arbeitete, hatte ich, wie die meisten anderen, kaum Geld, um mir Musikinstrumente oder Lautsprecher zu leisten. Doch glücklicherweise bekamen wir Spenden, mit denen wir unsere Musik nanzieren konnten. So brachten wir unsere Botschaft von Revolution und Veränderung unter die Leute.
Aber unser Kunstkollektiv beschränkte sich nicht auf unsere Band. Neben Alben, Konzerten und Tourneen im ganzen Land organisierten wir Debattencamps für Jugendliche, eine Musikinstrumenten-Ausstellung am »Tag der jemenitischen Musik« oder auch Videoprojekte. Allem gemein war, dass wir die Revolution thematisierten wollten – dabei ging es uns nicht nur um Aufklärung, sondern auch um die Einbeziehung der Menschen.
Außerdem unterstützten wir das Zentrum für Gesundheit und Kultur in Sana’a, eine Klinik für Psychologie, die Musikunterricht für Klavier, Oud und Qanbus anbietet. Die anfängliche Revolutionsromantik traf aber schnell auf die harte Realität der Repression. Viele Aktivisten wurden von den Sicherheitsbehörden oder bewaffneten Milizen getötet, andere kamen ins Gefängnis.
Meine Freunde im Berliner Exil nennen mich »Ray«, der »Lichtstrahl« – jetzt ist mein Künstlername also »Ray Asery«.
Einige von uns standen unter großem Druck. Der Stamm meines Freundes und Kollegen, des Fotografen Omar Saad, entführte dessen Kinder und zwang seine Frau, sich von ihm scheiden zu lassen. Mit Waffengewalt forderten die Milizionäre eine große Geldsumme von ihm – dann würden sie ihn in Ruhe lassen, hieß es. Er zahlte, aber sie ließen ihn nicht in Ruhe.
Den großen Erfolg unserer Revolution bejubelten wir im November 2011: Präsidenten Ali Abdullah Saleh erklärte sich endlich bereit, abzutreten – nachdem er sich 33 Jahre mit allen Mitteln an der Macht gehalten hatte. Es folgte eine Übergangsregierung, die den »nationalen Dialog« einläutete, an dessen Ende eine friedliche Einigung für die Zukunft des Landes stehen sollte.
Dieser Plan scheiterte spätestens, als die Huthis im Februar 2015 in zahlreiche Städte einmarschierten, das jemenitische Parlament au östen und die Macht mit Waffengewalt an sich rissen. Im März begannen dann die Luftangriffe der Saudis. Eigentlich heiße ich Ahmed Asery, aber als die saudische Armee anfing, Krieg im Jemen zu führen, wurde das zum Problem: Der damalige Sprecher der saudischen »Operation Decisive Storm« hieß Ahmed Al-Asiri. Die offensichtliche Ähnlichkeit unserer Namen brachte mir viel Misstrauen und Ärger ein.
Meine Freunde im Berliner Exil nennen mich »Ray«, der »Lichtstrahl« – jetzt ist mein Künstlername also »Ray Asery«. Denn wie viele andere Aktivisten mussten auch meine Künstlerfreunde und ich das Land verlassen. Meine Flucht führte mich über Äthiopien, Dschibuti, Sudan und Großbritannien nach Deutschland. Heute arbeite ich in einem Familienzentrum in Berlin, engagiere mich ehrenamtlich und mache weiterhin Musik.
Zehn Jahre Revolution haben eine stärkere Generation geschaffen. Eine Generation, die in Konfliktlösung und Friedensstiftung geschult ist.
Zu den meisten Revolutionären vom »Platz des Wandels« habe ich immer noch Kontakt, auch wenn wir mittlerweile in aller Welt verstreut leben. Der Tierarzt Rahman Taha floh über Libanon und Ägypten nach Großbritannien. Omar Saad verschlug es nach Dschibuti, wo er seine Fotografie-Karriere weiterverfolgt.
Unser Freund Abdulrazzaq El Azazi war einer der ersten Journalisten, die in der lokalen und internationalen Presse von den Demonstrationen in Sana’a berichteten. Heute lebt er in Kuwait und leitet ein Projekt, in dem er Menschen über ihre grundlegenden Rechte aufklärt. Zehn Jahre nach der Revolution wünschen sich manche wieder Salehs Diktatur zurück – die sei immerhin besser gewesen als die heutige Situation. Aber ich bin mir sicher: Die Reise geht weiter. Die Menschen haben begonnen, sich ihre Rechte zu vergegenwärtigen – das ist schon die halbe Miete auf dem Weg zur Veränderung.
Natürlich ist noch viel zu tun: Mordende und rachsüchtige Milizen kontrollieren das politische und gesellschaftliche Leben. Während die Kriegstreiber auf sogenannten Friedenskonferenzen debattieren, finanzieren sie weiterhin lieber Waffen als Krankenhäuser, Kitas, Schulen oder Kinderspielplätze.
Aber trotzdem bin ich überzeugt: Zehn Jahre Revolution haben eine stärkere Generation geschaffen. Eine Generation, die in Konfliktlösung und Friedensstiftung geschult ist. Eine Generation, die Krieg erlebt hat und heute mehr denn je an Veränderung glaubt, an ein Leben in Harmonie zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründe und Überzeugungen.
All die Aktivisten, Künstler und einfachen Bürger kämpfen weiterhin für die Revolution. Auch wenn wir Unterstützung aus dem Ausland brauchen werden: Wir haben es einmal geschafft, wir werden es wieder schaffen!
Ray Asery ist ein jemenitischer Aktivist und Musiker. In Sana’a gründete er 2011 mit Freunden das Künstlerkollektiv 3 Meters Away. Inzwischen lebt er im Exil in Berlin.