Der Jemen ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die »Bewegung des Südens« propagiert die Loslösung vom Norden – und verspricht, mit der Unabhängigkeit komme der Aufschwung. Aber wäre ein südjemenitischer Staat wirtschaftlich überhaupt lebensfähig?
Von weitem hört man sie schon rufen: »Revolution, Revolution – oh Südarabien!« und »Erhebe deinen Kopf, du bist ein freier Südaraber!« Auf der Madram-Straße in Adens Stadtteil Mualla haben sich an diesem Sommertag wieder einmal Tausende Anhänger der »Bewegung des Südens«, auf Arabisch kurz Al-Hirak, eingefunden, um ihre Forderung nach einem freien und unabhängigen südjemenitischen Staat laut kundzutun.
Die Forderung nach Unabhängigkeit ist seit einigen Jahren kein Novum mehr, sondern eine ernst gemeinte und gut organisierte politische Vision (siehe Infokasten) – und scheint nun erstmals in greifbare Nähe zu rücken. Jenseits der politischen Hindernisse lautet die große Frage jedoch: Wie würde es ökonomische um einen unabhängigen Südjemen stehen? Wäre das Land überhaupt lebensfähig?
Denn der Jemen zählt noch immer zu den ärmsten Ländern auf der Welt. Die Wirtschaft liegt am Boden. Mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos; Industrie gibt es kaum. Dennoch – oder gerade deshalb – glauben viele Südjemeniten, ohne den Norden wären sie in einer besseren Situation. Die Unabhängigkeit werde einen Aufschwung auslösen, sagen sie. Vor allem die mehr als 1.000 Kilometer lange Künste am Golf von Aden wird dafür ins Feld geführt: In der ehemaligen Volksdemokratischen Republik Jemen (VDRJ), die sich 1990 mit der Arabischen Republik Jemen vereinigte, spielte Fischfang eine bedeutende Rolle – für die Ernährung, aber auch als Wirtschaftsfaktor.
Doch die Preise auf den Fischmärkten sind in den letzten Jahren enorm angestiegen, nicht zuletzt weil internationale Fangflotten die Gründe vor den jemenitischen Küsten leer fischen. Zur Wahrheit gehört ebenso: Fabriken gibt es in Aden kaum mehr. Die meisten wurden im Krieg 1994 vom Militär geplündert oder nach dem Krieg eingestampft. Um all die sozioökonomischen Probleme zu lösen, bedürfte es wohl eines Wunders.
Auch der Blick in die Vergangenheit trügt: Viele Südjemeniten glauben, dass man einen Staat errichten könne, weil man es ja schon einmal gemacht habe. Tatsächlich existierte der Südjemen vor noch gar nicht so langer Zeit als eigenständiger Staat: von 1967 bis 1990. Er hing allerdings in dieser Zeit am sowjetischen Finanztropf. In den 1960er Jahren hatte man existierende staatliche Strukturen von den Briten übernommen, die 1967 das Land verließen. Mit Hilfe der Sowjetunion, der DDR und anderen Ostblockstaaten baute die VDRJ ein Versorgungssystem auf, das die Rechte auf Bildung und gesundheitliche Versorgung sowie Subventionen auf Lebensmittel und Wohnungswesen umfasste.
Diejenigen, die diese Zeit noch miterlebt haben, erinnern sich gerne und klagen, wie schlecht die Zeiten geworden seien. Die jungen Südjemeniten wiederum lassen sich von der Nostalgie der Älteren anstecken. Sie träumen von einem besseren Leben und sind überzeugt, dass das Leben im Südjemen heute dem in den Golfstaaten gleichen könne – wenn man sich nur nicht vor 24 Jahren mit dem Norden vereinigt hätte.
Heute ließe sich in dem Gebiet jedoch wohl kaum ein Wohlfahrtsstaat nach sozialistischer Façon wiedererrichten. Prinzipiell wäre der Südjemen nach einer Unabhängigkeit wirtschaftlich allerdings schon besser aufgestellt als der Norden. Das Gebiet ist etwa doppelt so groß, jedoch leben nur ungefähr ein Fünftel der Jemeniten im Süden des Landes (der geographisch gesehen eigentlich im Osten liegt). Zudem wurden 1982 im Südjemen Öl- und Gasvorkommen gefunden. Die intensive Förderung begann jedoch erst nach der jemenitischen Einheit 1990, sie hat seitdem den größten Beitrag zur jemenitischen Wirtschaft geleistet.
Laut einem Bericht des jemenitischen Parlaments von 2014 haben Ölfirmen, die im Jemen aktiv sind, in den vergangenen Jahren jährlich 238 Millionen US-Dollar an jemenitische Armeegeneräle für »Sicherheitsdienstleistungen« gezahlt.
Um das Öl und Gas kursieren im Jemen die verschiedensten Theorien: Manche behaupten, dass die Quellen bereits in den kommenden Jahren versiegen werden, andere vermuten unentdeckte Gasfelder im Südjemen. Das gesichert existierende Volumen beträgt rund drei Milliarden Barrel Öl. Etwa 80 Prozent der Ölfelder liegen in den östlichen Gouvernoraten Hadramaut und Schabwa, also auf dem Gebiet der ehemaligen VDRJ.
Wohlstand brachte das dort aber nur Wenigen. Die gesetzlich verankerte Klausel, dass 50 Prozent der Angestellten von Ölfirmen aus der Region kommen müssen, werde von ausländischen Ölfirmen und der in Sanaa ansässigen Regierung gleichermaßen ignoriert. Der Bevölkerung fehle es an ärztlicher Versorgung ebenso wie an Strom und sauberem Wasser.
Stattdessen seien lukrative Verträge an einflussreiche Militärs aus dem Norden gegangen, für den Schutz der Öl- und Gasförderanlagen zu sorgen. Laut einem Bericht des jemenitischen Parlaments von 2014 haben Ölfirmen, die im Jemen aktiv sind, in den vergangenen Jahren jährlich 238 Millionen US-Dollar an jemenitische Armeegeneräle für »Sicherheitsdienstleistungen« gezahlt. Rund um die Ölproduktion habe sich in den letzten 30 Jahren ein gut ausgebautes Patronagenetzwerk entwickelt.
Im Dezember 2013 formierte sich Widerstand im Hadramaut. Auslöser war die Ermordung des einflussreichen Stammesführers Scheich Saad Bin Habrisch al-Hamumi und seiner beiden Bodyguards. Die hadramitische Stammeskonföderation forderte daraufhin die Auslieferung der Mörder, die Übernahme der Sicherheitsdienste für die Ölfirmen durch lokale Stämme sowie den Abzug des Militärs aus der Region. Die Regierung kam den Forderungen nicht nach. Zwischen zeitlich musste die Ölproduktion in der Region wegen des Widerstands der lokalen Bevölkerung komplett eingestellt werden.
Die Bewegung des Südens
Die »Bewegung des Südens« (Al-Hirak al-Dschanubi, kurz: Al-Hirak) formierte sich 2007. Sie vereint Gruppen aus dem gesamten südjemenitischen Gesellschaftsspektrum. Das Rückgrat der Organisation bilden ehemalige südjemenitische Soldaten und Staatsangestellte, die der damalige Präsident Ali Abdullah Saleh nach dem – vom Süden verlorenen – Krieg 1994 in den Zwangsruhestand versetzt hatte. Wegen jahrzehntelanger Marginalisierung durch das Regime in Sanaa fordert Al-Hirak die Unabhängigkeit des Südjemens vom Norden – und damit die Wiedererrichtung des Staates, der bis zur Vereinigung mit dem Norden 1990 existierte. Im Oktober 2014, am 51. Jahrestag des Beginns des Unabhängigkeitskampfes gegen die britische Kolonialmacht, skandierten Hunderttausende bei einer Massendemonstration in Aden lautstark für die Unabhängigkeit.
Im Oktober 2014 stellte die Unabhängigkeitsbewegung Al-Hirak erstmals ein Ultimatum an die Regierung. Darin forderte sie den Abzug nordjemenitischer Soldaten und Beamter aus dem Süden sowie einen Förderstopp, bis die Einkommen aus dem südjemenitischen Öl- und Gasgeschäft auf Konten des neuen Südstaates überwiesen werden können.
Finanzielle und ideelle Unterstützung erhält Al-Hirak aus der südjemenitischen Diaspora. Die setzt sich aus Arbeitsmigranten – vorwiegend in den Golfstaaten – sowie der exilierten politischen Elite zusammen. Die Diaspora investiert in südjemenitische Medien und Zeitungen sowie in den Fernsehsender Aden Live, der in Beirut produziert und über Satellit ausgestrahlt wird und intensiv am Aufbau einer kollektiven südjemenitischen Identität arbeitet.
Deren Ankerpunkt ist die ehemalige und – nach den Plänen der Unabhängigkeitsbefürworter – auch künftige Hauptstadt des südjemenitischen Staates: Aden. Als einer der größten natürlichen Häfen der Welt war Aden in den 1950er Jahren der zweitwichtigste Warenumschlagsort weltweit nach New York. Der emiratische Betreiber Dubai Ports World übernahm 2008 das Hafengeschäft, hielt jedoch seine Investitionsversprechen nicht ein. Ende September 2012 wurde der Vertrag von der jemenitischen Regierung aufgelöst.
Heute ist es ruhig geworden in dem Hafen, der doch eigentlich großes wirtschaftliches Potential besitzen würde. Doch Investoren schrecken zurück, einerseits wegen des mangelhaften Rechtsschutzes im Land und andererseits aufgrund der schwierigen Sicherheitslage in der Region: Der Golf von Aden gerät meist nur in Verbindung mit dem Terror-Franchise »Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel« (AQAP) oder somalischen Piraten in die Schlagzeilen. Die unsichere politische Lage im Land befördert diese negative Außenwahrnehmung. So sind die Konkurrenzhäfen im omanischen Salalah und in Dschibuti mittlerweile die lukrativeren Standorte.
Aden bietet einen reizvollen Mix aus britischer Kolonial- und sozialistischer Architektur. Doch Kreuzfahrtschiffe meiden die Stadt aus Sicherheitsgründen seit Jahren. Lediglich die Insel Sokotra hat sich als touristischer Geheimtipp einen Namen gemacht.
Aufgrund der wiederkehrenden Gewalt im Jemen liegt auch das touristische Potenzial brach. Dabei hat der Südjemen an sich Spektakuläres zu bieten: Nicht nur das Weltnaturerbe Sokotra, das Weltkulturerbe Schibam und die Lehmburgen im Hadramaut liegen hier – auch Wüstentouren durch Schabwa, Bergwanderungen in Al-Dali‘ und kilometerlange Sandstrände könnten Touristen locken. Und Aden bietet einen reizvollen Mix aus britischer Kolonial- und sozialistischer Architektur. Doch Kreuzfahrtschiffe meiden die Stadt aus Sicherheitsgründen seit Jahren. Lediglich die Insel Sokotra hat sich als touristischer Geheimtipp einen Namen gemacht.
Die Aktivisten der »Bewegung des Südens« bemühen in erster Linie die Vergangenheit, um Argumente für eine wirtschaftliche Zukunft zu finden. Während der »Konferenz des Nationalen Dialogs« 2013 und 2014 wurden eifrig Daten gesammelt, die aufzeigten, wie viele Firmen und Fabriken nach 1994 eingestampft und wie viele Südjemeniten in den Zwangsruhestand geschickt wurden.
Die Bewegung stützt ihre Argumentation eines wirtschaftlich funktionierenden Südstaates auf die Vorstellung, die damals vorhandenen wirtschaftlichen Strukturen seien von den Eliten des Nordens korrumpiert und zerstört worden. Allerdings verfügt Al-Hirak nicht über die Mittel, um makroökonomische Statistiken anfertigen zu lassen, die zeigen könnten, ob eine Unabhängigkeit mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen für die südjemenitische Bevölkerung einhergehen würde. Die von staatlichen Stellen herausgegebenen Statistiken wiederum sind chronisch unzuverlässig und im Allgemeinen mit Vorsicht zu genießen. So bleibt den Aktivisten lediglich der Glauben daran, dass es dem Süden nach einer Unabhängigkeit wirtschaftlich besser gehen würde.
Die Frage der Souveränität von Staaten ist zwar eher ein Mythos im Völkerrecht – auf den sich Al-Hirak jedoch gerne beruft. Denn der Süden sei freiwillig mit dem Norden eine Einheit eingegangen und genieße ebenso das souveräne Recht, aus dieser auszusteigen.
Doch auch dieser Süden ist alles andere als homogen: Einige Lobbygruppen im und vor allem aus dem Hadramaut streben die Loslösung vom Norden an – aber ebenso vom westlichen Teil des Südens. Gleiches gilt für die zwischen Hadramaut und dem Oman liegende Region al-Mahra. Al-Hirak-Aktivisten bemühen sich daher, zu unterstreichen, dass man den Ressourcenreichtum eines unabhängigen Südjemen in einem föderalen System fair verteilen werde. Mit diesem Konzept sollen die unterschiedlichen Zukunftsvisionen in Einklang gebracht werden. Ein ähnliches Modell, wenngleich für den gesamten Jemen, präsentierte Präsident Abd Rabbo Mansour Hadi im Februar 2014: Die Idee, den Jemen künftig in sechs Regionen föderal zu strukturieren (zwei im Süden und vier im Norden), wurde von Al-Hirak jedoch mehrheitlich abgelehnt.
So mancher Staat wurde schon aus den Fugen gehoben, ohne alleine auf festen Füßen stehen zu können. Die derzeit relevantere Frage für Al-Hirak ist daher die der möglichen internationalen Anerkennung. Der zeitliche Fahrplan dafür ist aber ebenso vage wie die Route: Braucht es die Anerkennung einer Mehrheit von Staaten? Oder lediglich einer hegemonialen Macht? Die Frage der Souveränität von Staaten ist zwar eher ein Mythos im Völkerrecht – auf den sich Al-Hirak jedoch gerne beruft. Denn der Süden sei freiwillig mit dem Norden eine Einheit eingegangen und genieße ebenso das souveräne Recht, aus dieser auszusteigen.
Ein gewichtiges Wort haben in jedem Fall die Staaten des Golfkooperationsrats (GCC) mitzureden, die lange einen föderal strukturierten Jemen favorisierten. Seit dem Siegeszug der zaiditisch-schiitischen Huthi-Bewegung, die seit September de facto Sanaa und einige Städte im Norden besetzt, scheinen sich die Positionen am Golf bezüglich der Südjemen-Frage jedoch zu verändern. Abdulaziz Sager, Leiter des Gulf Research Center, sagte bei einer Konferenz arabischer und amerikanischer Entscheidungsträger Ende Oktober 2014 in Washington, dass die Golfstaaten den Südjemeniten bei ihrem Unabhängigkeitsprojekt unterstützend beistehen könnten, um vom zusammenbrechenden Jemen wenigstens noch etwas zu retten. Und im Südjemen lägen nun einmal der Großteil des jemenitischen Öls und ein noch funktionierender Hafen. Außerdem teile der Südjemen eine etwa 1.200 Kilometer lange Grenze mit Saudi-Arabien, so Sager.
Die »Bewegung des Südens« setzt sich aus vielen Untergruppen zusammen, die bisher keine gemeinsame Vision zur Erreichung der Eigenstaatlichkeit teilen – geschweige denn Ideen verfolgen, wie ein südjemenitischer Staat aufgebaut sein müsste, um den Bürgern ein sicheres und wirtschaftlich abgesichertes Leben zu gewährleisten.
Im Jemen fehlt es heute an interner Legitimation. Dem Staat mangelt es an Kapazitäten, seinen Bürgern bestimmte Dienste bereitzustellen. Daher hört man nicht selten in Aden Zweifel, wie der Jemen als föderaler Staat mit sechs Regionen funktionieren soll, wenn er schon nicht als Zentralstaat funktioniere. Al-Hirak-Aktivisten sagen, dass 90 Prozent der Südjemeniten einer Unabhängigkeit zustimmen. Die Menschenmassen bei den Protesten am 14. Oktober 2014 scheinen zumindest zu bestätigen, dass viele Menschen hinter Al-Hirak stehen und die Einheit mit dem Norden ablehnen.
Das ändert nichts an dem Problem, dass sich die »Bewegung des Südens« aus vielen Untergruppen zusammensetzt, die bisher keine gemeinsame Vision zur Erreichung der Eigenstaatlichkeit teilen – geschweige denn Ideen verfolgen, wie ein südjemenitischer Staat aufgebaut sein müsste, um den Bürgern ein sicheres und wirtschaftlich abgesichertes Leben zu gewährleisten.
Das Ultimatum an die jemenitische Regierung lief am 30. November 2014 ab – dem Tag, an dem Al-Hirak den 47. Jahrestag der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht feierte. Die zweite Unabhängigkeit wurde jedoch nicht, wie viele Aktivisten erhofft hatten, an diesem Tag ausgerufen. Der Grund: Uneinigkeit zwischen den alten Süd-Eliten.