Architekten und Stadtplaner denken darüber nach, wie die verheerende Explosion am Hafen von Beirut als Ausgangspunkt für eine bessere Stadt dienen könnte. Doch zunächst geht es um Grundsätzliches: mehr Gemeinsinn.
Manche Erinnerungen sind so fantastisch, dass sie fast wie Science-Fiction klingen. So ist es mit dem, was Leon Telvesian in seiner Beiruter Kindheit erlebte: »Ich bin in Mar Mikhael aufgewachsen. Damals konnten wir ganz einfach durch die kleine Straßen zum Meer laufen und in einer der Buchten von Karantina schwimmen gehen.« Telvesian ist heute 70 Jahre alt und trägt einen schlohweißen Bart.
Wenn der Architekt und Stadtplaner von der Möglichkeit spricht, Beiruts Wohnviertel und das Meer wieder miteinander zu verbinden, klingt das nach Utopie. Denn die Hauptstadt des Libanons ist durch und durch zubetoniert, eingemauert und der Osten der Metropole durch eine Schnellstraße vom Mittelmeer abgeschnitten. Um Achsen für Fußgänger oder Radfahrer neu oder wieder entstehen zu lassen, müsste man erst mal die Abrissbirne schwingen.
Doch vielleicht ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Am 4. August hat eine gewaltige Explosion im Hafen weite Teile der Stadt schwer verwüstet. Die Katastrophe, die wie so viele Tragödien im Zedernland auf kriminelle Nachlässigkeit und Korruption zurückzuführen ist, hatte zumindest einen positiven Nebeneffekt: In den besonders stark betroffenen Stadtvierteln – neben Mar Mikhael und Karantina auch Gemmayze, Aschrafiye und Geitawi – kamen Freiwillige zusammen.
Organisationen vernetzten sich, darunter viele NGOs, die erst im Herbst 2019, bei der Thawra, dem libanesischen Massenaufstand gegen die politische Kaste, entstanden waren. Nicht nur die Libanesen schauen nun mitfühlend und mit wachsendem Interesse auf den Wiederaufbau.
»Dabei zu helfen, ist eine Verpflichtung für uns«, sagt Mohammed Ghotmeh. Der 31-Jährige ist Ingenieur, Bruder der berühmten Architektin Lina Ghotmeh und führt seit einigen Jahren den väterlichen Baubetrieb mit 70 Angestellten. Der Traum eines Beiruts von morgen handelt auch davon, die reiche Vergangenheit zu bewahren – wo es noch geht. Ghotmeh ist Teil einer Nachbarschaftsinitiative der »American University of Beirut« (AUB), die mit der NGO Nusaned kooperiert.
Seine Firma bringt sich pro bono als Dienstleister mit viel Expertise beim Wiederaufbau ein: »Am Anfang steht die Bewertung der Schäden, dann die strukturelle Analyse, dann wird über die möglichen Maßnahmen entschieden. « Mohammed Ghotmeh spricht über Statik, darüber, wie man gerissenen Sandsteinwänden durch Injektionen, Nähte oder Ummantelungen mit hochmodernen Baustoffen wieder Stabilität geben kann: »Dabei sind alle diese Materialien importiert.« Im Libanon, dessen Währung seit Jahresbeginn kollabiert ist, verteuert das den Wiederaufbau massiv.
Die Detonation hat nach Schätzungen der Weltbank physische Schäden von bis zu 4,6 Milliarden Dollar verursacht, 300.000 Menschen obdachlos gemacht und 8.000 Gebäude beschädigt. Die alten Häuser – aus der osmanischen Zeit, der Epoche des französischen Mandats und der Moderne bis in die 1970er Jahre – waren besonders betroffen, weil sie oft nicht über Betonstruktur oder tiefer reichende Fundamente verfügen.
»Die große Frage lautet jetzt, wie die Regierung reagieren wird«, sagt Fadlo Dagher. Der Architekt ist einer der Initiatoren der »Beirut Heritage Initiative«. Mit der städtischen Bau und vor allem Abrisspolitik, die prinzipiell dem Kapital Vortritt gewährt, kennt er sich aus. »Wir arbeiten seit 25 Jahren für die Bewahrung unseres kulturellen Erbes«, sagt sein Partner Abdul Halim Jaber. Seit dem Ende des Bürgerkriegs kämpfen die beiden für einen neuen Masterplan für Beirut. Und für die Aufnahme von noch mehr Objekten in die Liste denkmalgeschützter Gebäude. »Zumindest das Bewusstsein der Leute ist in der Zwischenzeit gewachsen«, sagt Dagher.
Nun müsse verhindert werden, dass weitere seelenlose Türme den Blick auf das Mittelmeer versperren und die Durchlüftung von dort verhindern. In den vergangenen Jahren erlebte Beirut einen Wildwuchs in die Höhe, erklärt Jaber: »Man konnte sich das Recht für immer höhere Gebäude legal erkaufen. Ein Handel mit Geschossflächen. Da gab es kein Limit.« Als Nebeneffekt wurden viele der nach dem Bürgerkrieg verbliebenen Altbauten umstellt oder zerstört.
Einiges wäre schon gewonnen, wenn die Beirutis wieder einen Gemeinsinn für ihre Stadt und ihre Viertel entwickelten, weiß Tarek Ammar. Wie auch Leon Telvesian engagiert er sich bei »Beirut Madinati«, einer NGOcumPartei, für den gesellschaftlichen und baulichen Wandel. »Das größte Problem bisher war, dass die Menschen nicht mit ihren Rechten vertraut sind. Sie haben sich daran gewöhnt, dass sich die Stadtverwaltung nicht um sie kümmert.«
Mithilfe einer Nachbarschaftsinitiative, bei der in jedem Haus ein Repräsentant für die Belange der Bewohner gesucht wird, soll sich das ändern. Erste Erfolge sind bereits zu verzeichnen. »In Mar Mikhael ist es durch das Nachtleben in den letzten Jahren sehr laut geworden. Nach unserer Intervention haben sich die Anwohner erfolgreich dagegen gewehrt«, berichtet Ammar.
Einen Sinn für das Gemeinsame entwickelt der Mensch vor allem dort, wo Räume des Zusammenkommens geschaffen werden, weiß Adib Dada. Diesen sozialen Aspekt der Stadtgestaltung greift er mit seiner Initiative »Beirut RiverLESS« auf: Er möchte natürliche Areale schaffen, die sowohl ein Gemeinschaftsgefühl als auch ein gesteigertes Umweltbewusstsein schaffen. Mit seinem nachhaltigen Architekturbüro initiierte er im Stadtteil Sin El-Fil 2019 die Pflanzung eines Stadtwalds: 2.000 Setzlinge – darunter Salbei und Weißdorn, Steineiche, Ahorn und Kiefer – sollen nach drei Jahren Bewässerung so weit sein, dass sie autark weiterwachsen.
Der Hain im Knick zwischen Schnellstraßenzubringern und dem stinkenden Beirut- Fluss (der inzwischen ein Kanal ist) soll den Menschen aus der Nachbarschaft ein bisschen Heimat sein und aufzeigen, was Schönes möglich ist, wenn die Bewohner nur wollen. Tatsächlich stammen alle Arten im Stadtwald ganz aus der Nähe, erklärt Dada: »Wir haben diese Pflanzen gut zehn Kilometer außerhalb der Stadt gefunden, wo das Flussbett noch nicht aus Beton besteht. « Es gehe darum, das alte Ökosystem wiederherzustellen.» Damit man hier eines Tages keine Häuser mehr sieht vor lauter Bäumen.«
Auch Selim Al-Kadi möchte die Fülle der Möglichkeiten begreifen und aufzeigen. Der Architekturprofessor von der AUB hat am 1. Januar 2020 die dreidimensionale Karte »Beirut 001« online gestellt. Dazu liefen er und sein Team die Stadt ab und werteten Daten von Google Earth aus.
»Eine Karte ist ein Denkwerkzeug«, sagt Al-Kadi. Er wolle damit vor allem den Progressiven, den Revolutionären auf die Sprünge helfen, erzählt der Architekt. Sein Studio ist in einem fensterlosen ehemaligen Lager in West-Beiruts Hamra-Distrikt untergebracht. An den Wänden hängen mehrere überdimensionierte Stadtkarten. »Beirut 001« ist als Open-Source- Tool sowohl auf Al-Kadis Website als auch bei »DaleelAl-Thawra«, dem »Wegweiser der Revolution«, veröffentlicht.
Nun liegt es an den Aktivisten, den virtuellen Stadtraum weiter zu füllen. Werden Aktivisten die 2.000 illegal in der Stadt installierten Überwachungskameras einzeichnen, um bessere Orte für ihren Protest zu finden? Werden Umweltschützer all die Generatoren lokalisieren und vielleicht ein System entwickeln, in dem sie unter Einrechnung der vorherrschenden Windrichtung neue, für die Bevölkerung schonendere Betriebszeiten bestimmen?
Beirut, die Stadt des Durcheinanders, des Wildwuchses und des Verfalls, ist zugleich eine Stadt der sehr strukturiert denkenden Interventionisten. Eine führende Rolle nehmen dabei die Mitarbeiter des Beirut Urban Labs an der AUB ein. Gerade arbeiten sie an Aufbaustrategien für zerstörte Viertel, die über das Bauliche hinaus die Sozialstrukturen bewahren sollen. Parallel verfolgen sie auch eine Initiative zur Rückerlangung des Areals, das für den Highway vorgesehen war, der von Aschrafiye aus quer auf die Hafenschnellstraße zulaufen sollte. Der AUB- Plan sieht einen Park an gleicher Stelle vor.
»Hier können enteignete Flächen wieder in den Besitz der Bürger übergehen«, führt Professorin Mona Harb vom Urban Lab aus. »Wir ermutigen junge Aktivisten bereits, das Gelände zu besetzen. Die Gelegenheit ist gerade günstig. « Urbanisten und Architekten, sagt Mona Harb, seien besonders dann aktiv, »wenn Katastrophen zuschlagen, in Krisen, im Krieg oder in deren Nachgang«.
Das Wiederzusammenfügen künstlich voneinander getrennter Nachbarschaften – konkret die Überwindung der Teilung zwischen Ost-Beiruter Wohnvierteln und Meer – ist nur eine von vielen Herausforderungen, für die in der Stadt längst ausreichend Pläne kursieren. Letztlich können alle Räume wiedergewonnen und neuinterpretiert werden. »Aber am Ende«, sagt Mona Harb, »stoßen wir immer gegen eine Mauer, denn es braucht für alles ja auch einen Staat«.
Thore Schröder kommt aus Hamburg, war lange in Berlin und lebt nun als freier Journalist im Nahen Osten. Nach vier Jahren in Jerusalem, Tel Aviv und Amman lebt er derzeit im Libanon.