An der libanesischen Küste türmt sich der Unrat und bedroht mittlerweile sogar die Luftfahrt. Weil der Staat versagt, nehmen sich jetzt Aktivisten dem Problem an.
Die Müllfahrzeuge müssen sich am 22. April 2017 gedulden. Ein kleiner Haufen von Umweltaktivisten hat sich ihnen in den Weg gestellt und die Zufahrt zur Müllhalde »Costa Brava« südlich von Beirut blockiert. Es ist ein symbolischer Protest am »Tag der Erde«, an dem weltweit Menschen auf die Straße gehen, um auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam zu machen und gegen Umweltzerstörung und -verschmutzung zu demonstrieren. Im Libanon ist der Abfallberg »Costa Brava« zum Symbol der Müllkrise und der umweltpolitischen Ratlosigkeit im Zedernstaat geworden. Der Name der Deponie erinnert an den Beach-Club, der hier, nicht mal 200 Meter vom Flughafen entfernt, einst zum Baden einlud.
»Wir sind das einzige Land der Welt, das eine Deponie gleich neben einen Flughafen setzt. Und mit dem ›Costa Brava‹ haben wir sogar einen Fixpunkt für Zugvögel geschaffen«, kommentiert Wadih Al-Asmar sarkastisch. Er gehört zu den Mitinitiatoren der Bewegung »You Stink!«, die den Protest während der Müllkrise 2015 anführte.
»In einem einzigen Tropfen Wasser findet man das Geheimnis des endlosen Ozeans«, schrieb Libanons Nationalpoet Khalil Gibran Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute findet man in einem Tropfen Giftstoffe, die Libanons Küsten – und die seiner Nachbarn – verseuchen und die Gesundheit der Menschen gefährden. »Wir verschmutzen das gesamte Mittelmeer, nicht nur unsere Küste«, sagt Asmar, der Aktivist.
Die »Mediterranea« sammelt deshalb seit zwei Jahren Planktonproben an den Küsten des Mittelmeeres, und misst so Wasserqualität und Biodiversität. Im April sammelte das Forschungsschiff Proben vor der Levante-Küste – wegen fehlender Genehmigungen allerdings außerhalb der libanesischen Hoheitsgewässer.
Zwei Jahre nachdem der Geruch der Abfallmassen in der Sommerhitze buchstäblich durch die Straßen Beiruts waberte, ist das Müllproblem lediglich verlagert worden
Die Daten werden vom federführenden Experten-Netzwerk der »Sir Alister Hardy Foundation for Ocean Science« (SAHFOS) an verschiedenen europäischen Universitäten ausgewertet. »Das Mittelmeer muss als Ganzes betrachtet werden: Was ein Land betrifft, hat auch Auswirkungen auf die Küsten anderer Anrainer«, sagt die britische Meeresbiologin Priscilla Licandro vom Plymouth Marine Laboratory. Proben des Forschungsschiffes nahe der griechischen Inseln Zakynthos und Elafonissos im Ionischen Meer belegen Verunreinigungen durch Mikroplastik. Die Ergebnisse der Proben aus den libanesischen Küstengewässern werden die Forscher an die EU-Behörden weitergeben, die für die Mittelmeer- und Gewässerpolitik verantwortlich sind. Noch liegen die Ergebnisse nicht vor, doch Libanons Müllproblem ist unübersehbar.
Zwei Jahre nachdem der Geruch der Abfallmassen in der Sommerhitze buchstäblich durch die Straßen Beiruts waberte, ist das Müllproblem lediglich verlagert worden. Damals scheiterten die Vertragsverhandlungen mit dem Abfallentsorger Sukleen und die Innenstadt versank in Unrat. Der aufkommende Volkszorn verpuffte nicht einfach, sondern schuf ein Bewusstsein für die gravierenden Umweltprobleme im Land. Die Grundlage für eine neue Generation von Aktivisten.
»Die Müllkrise 2015 hat eine neue Bewegung geformt«, meint der Beiruter Umweltberater Bassam Kantar. »Die libanesische Zivilgesellschaft arbeitet Vorschläge für nachhaltige, umweltverträgliche Standards in der Abfallentsorgung aus, etwa durch Müllsortierung und Recycling.« Doch Kantar schränkt ein, dass das öffentliche Interesse nicht unbedingt von einem Bewusstsein für die strukturellen Missstände rührt, sondern eher auf der Empörung über die Auswirkungen. Der Müll störe erst, wenn er sich unmittelbar vor der eigenen Haustür türmt. Hussein Hassan forscht an der Lebanese American University (LAU) zu öffentlichen Gesundheitsrisiken und warnt deshalb vor lediglich kosmetischen Maßnahmen. »Libanon muss das Müllproblem konsequent angehen, ansonsten ist mit gravierenden gesundheitlichen Schäden zu rechnen«.
Doch Libanons Probleme mit der Abfallentsorgung sind nicht neu. Schon vor dem Bürgerkrieg (1975-1990) waren die Kommunen für die Müllabfuhr zuständig, und waren schon damals überfordert. Während des Krieges verschlechterte sich die Lage, als sich Milizen den Aufkauf toxischer Abfälle bezahlen ließen. Dieser Praxis wurde erst 1989 mit dem Beitritt zum »Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung« ein Ende gesetzt. Doch die Altlasten blieben. Asmar sagt, dass nach seinen Erkenntnissen die Müllhalde von Burj Hammud im Beiruter Nordosten noch immer mit Nuklearabfällen kontaminiert ist. Nach Kriegsende wurde die Abfallentsorgung im Libanon teilprivatisiert. Die Pläne für den Bau von Wiederaufbereitungsanlagen hingegen verstaubten weitgehend in Schubladen.
Es drohen Brechdurchfall und Typhus, Nervenstörungen und Krebs
Diese Versäumnisse potenzieren die Gefahr, die von den Deponien in Burj Hammud und »Costa Brava« ausgehe, weil beide Lagerstätten unmittelbar an der Küste liegen und Giftstoffe ungefiltert ins Meer sickern, warnt Gesundheitsforscher Hassan. Bislang wurde die Wasserbelastung im Zusammenhang mit Müllkrise jedoch nicht umfassend untersucht. Weil Daten fehlen, ist auch das Ausmaß der langfristigen Umwelt- und Gesundheitsschäden nicht absehbar, so Hassan, der stattdessen auf indirekte Indikatoren verweist: Ausbrüche von Brechdurchfall und Typhus. Dem Experten macht vor allem die Verunreinigung mit Schwermetallen wie Blei, Cadmium und Arsen Sorgen, die das Risiko für Nervenstörungen und Krebs erhöhen.
Zu Recht, auf dem Höhepunkt der Müllkrise im Sommer 2015 waren im Libanon etwa 400 Giftmülllagerstätten in Betrieb. Wadih-Al-Asmar schätzt, dass diese Zahl mittlerweile auf die Hälfte gesunken sei. Doch auch hier hat sich das Problem lediglich verlagert. Weil das Kanalisationssystem unzureichend entwickelt ist, landen Abfälle – sowohl Hausmüll als auch Industrieabwässer – direkt in Flüssen, merkt Hassan an. Bislang scheitern die Pläne für mehr Aufbereitungsanlagen meist an der Finanzierung und bürokratischen Details, sagt Bassam Kantar.
Bewegungen wie »You Stink!« und »Badna Nhasib« (»Wir fordern Rechenschaft«) setzen sich für mehr Transparenz und Verantwortungsbewusstsein in der Müllverarbeitung ein. »You Stink!« fordert ein dezentralisiertes System und eine Rekommunalisierung der Abfallentsorgung. Die Regierung wiederum soll ihre Aufsichtsfunktion besser wahrnehmen und per Strafandrohung, sicherstellen, dass Umweltstandards auch eingehalten werden.
Neben Umweltschutz-NGOs ergreifen auch Bewohner die Initiative. Nachbarschaftskomitees sammeln Müll und organisieren Aufräumaktionen an Stränden. Asmar erkennt noch keinen großen politischen Wurf in Sachen Umweltpolitik, doch immerhin hätten einige Gemeinden angefangen, in Müllaufbereitung zu investieren. In Beit Mery östlich von Beirut und Bikfaya im Libanon-Gebirge etwa hätten Sortier- und Kompostiermaschinen den Betrieb aufgenommen. Solche Sortieranlagen finden sich allerdings erst in etwa einem Dutzend der über tausend Kommunen im Libanon – viel zu selten, meint Asmar.
Diesen immerhin kleinen Fortschritt führt er auf das Bürgerengagement zurück, ist aber noch lange nicht zufrieden. »Die EU sollte ebenso Druck auf unsere Regierung ausüben, um die Müllsortierung zu gewährleisten.« Aus Sicht des Aktivisten ist das ein entscheidender Teil der Müllentsorgungskette. »Verbrennungsanlagen machen nur Sinn, wenn der Müll vorher getrennt wurde. Die Regierung setzt aber darauf, alles unsortiert zu verbrennen.«
Weil auf dem Müllberg von »Costa Brava« Methan gärt, riskieren überfliegende Flugzeuge Explosionen
Diese Defizite bei der Mülltrennung machen sich vor allen bei organischen Abfällen bemerkbar. Anstatt auf dem Kompost landet der Biomüll meist direkt auf den Müllhalden. Dort setzt die Zersetzung unter Luftabschluss Methan frei. Der Müllberg »Costa Brava« schafft so ein weiteres Risiko: Überfliegende Flugzeuge müssen im Falle von Kurzschlüssen mit Explosionsgefahr rechnen.
Die Lage der Müllhalden in Wassernähe sorgt auch im Bereich Biomüll für Probleme. Denn ungereinigte Abwässer fließen nicht nur in das Meer, sondern auch in Zuflüsse, die für die Bewässerung genutzt werden. »50 bis 60 Prozent unseres Mülls sind noch immer organische Abfälle«, kommentiert Aktivist Asmar. Immerhin: Die schiere Menge an Müll erhöht den Handlungsdruck, mit der Entsorgung hinterherzukommen. Dabei ließe sich gerade mit einer konsequenten Sortierungskette das Volumen erheblich reduzieren, ist sich Hussein Hassan sicher. »Wir müssen an der Quelle ansetzen: Recycling, inklusive Kompostierung, dann Verbrennung, dann die Müllhalden.«
Im Januar ordnete ein Gericht die Räumung der Müllhalde »Costa Brava« innerhalb bis spätestens Juni an. Die Kommunalbehörden der südlichen Vororte, die hier ihren Müll abladen, legten Einspruch gegen die Frist ein. Eine endgültige Entscheidung über den Status des stinkenden Schandmals steht aus. Unmittelbar nach Ende der Protestaktion zum »Tag der Erde« am 22. April laden die Trucks den unbehandelten und unsortierten Unrat an ihrem Zielort ab.