Das Assad-Regime spielt ein perfides Spiel mit den Angehörigen von verschleppten Aktivisten. Der Fall des Internet-Pioniers Bassel Khartabil zeigt aber auch, wie die Hoffnung auf ein besseres Leben selbst unter widrigsten Umständen weiterlebt.
Anm. der Redaktion: Der syrische Aktivist Bassel Khartabil wurde 2011 in seiner Heimat inhaftiert und zum Tode verurteilt. Wie im Sommer 2017 bekannt wurde, wurde er bereits 2015 hingerichtet. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir diesen Text, der zuerst in der Ausgabe 1/2016 des zenith-Magazins erschien.
Noura Ghazi Safadi lebt fürs Gefängnis. Hier hat sie vielleicht die meiste Zeit ihres Lebens verbracht. Hier sind die Menschen gewesen, die sie liebt. Hier ist ihr Lebensmittelpunkt, hat sie gearbeitet, geheiratet und Pläne geschmiedet. Dabei saß sie selbst noch nie im Gefängnis. Seit 22 Jahren geht die 34-Jährige dort ein und aus, um andere zu besuchen. Fast vier Jahre ist es her, dass Nouras Mann Bassel nicht nach Hause kam. »Wenn jemand in Syrien verschwindet, gehen wir automatisch davon aus, dass derjenige verhaftet wurde – das ist ganz normal hier«, sagt Noura. Was ihr dann bevorsteht, kennt die Menschenrechtsanwältin schon aus langjähriger Erfahrung mit Gefangenen, privat und beruflich. Um Familie, Freunde und Bekannte im Gefängnis kümmert sie sich, seit sie 13 Jahre alt ist. Seit zwölf Jahren vertritt sie politische Häftlinge vor Gericht.
Nach einigen Tagen erfährt Noura, dass ihr Mann in einem Militärgefängnis festgehalten wird. Von offizieller Seite gibt es keinerlei Erklärung über die Festnahme, so läuft das in Syrien nicht. Informationen über den Aufenthaltsort oder Status von politischen Häftlingen werden nicht einfach öffentlich gemacht oder wenigstens mit Angehörigen geteilt, sondern sickern durch, verbreiten sich über ein Netz von Leuten, die jemanden kennen, die jemanden kennen. Auch schon vor dem Bürgerkrieg wurden Dissidenten in Syrien verschleppt. Zehn Monate lang wird Bassel befragt und gefoltert, bevor man ihn in das Zentralgefängnis Adra in Damaskus verlegt und offiziell anklagt.
Informationen über den Status von politischen Häftlingen werden nicht einfach veröffentlicht
Was wird Bassel Khartabil vorgeworfen? Er ist politischer Aktivist, eine Gefahr für die Staatssicherheit – das reicht für eine lebenslange Haftstrafe. Schon vor dem Arabischen Frühling setzt sich der 34-jährige Softwareentwickler für ein freies Netz ein. Als Programmierer und »Hacktivist« entwickelte er Open-Source-Projekte wie Wikipedia oder Firefox mit und war syrischer Chef der Initiative für gemeinfreies Medienmaterial (»Creative Commons«). Hinter Gitter brachte ihn aber, dass er seine Ideale von einem freien Internet in den Dienst der friedlichen Revolution stellte und die Arbeit von anderen Aktivisten mit seinem technischen Knowhow unterstützte. Für seinen Widerstand wurde Bassel vom US-Magazin Foreign Policy im Jahr 2012 zu einem der einflussreichsten Köpfe der Welt gewählt.
Dass sich Menschen gegenseitig helfen und gegen Unterdrückung zusammenstehen, kann das Regime nur schwer ertragen, erklärt Mitaktivist Fadi das repressive Vorgehen der syrischen Staatsmacht gegen die Bevölkerung. Er kennt Bassel aus der Aktivisten-Szene und ist mit Noura befreundet. »Bassel stellte sichere Verbindungen für die digitale Kommunikation und den Informationsaustausch her und nutzte seine Verbindungen, um andere Aktivisten untereinander und mit Human Rights Watch oder Amnesty International zu vernetzen. Außerdem sprach er öffentlich auf Demonstrationen«, erläutert Fadi. Bassel wusste, worauf er sich einlässt, dass auch friedliche Opposition wie militanter Widerstand bestraft würde. Einmal soll er gesagt haben, dass es in Syrien weitaus gefährlicher sei, ein Handy bei sich zu tragen als eine Atombombe. Selbst Lebensmittel oder Medikamente für Mitmenschen in Not zu organisieren zählt zu jenen Verbrechen, die das Regime der Bevölkerung übel nimmt und als aktiven Widerstand gegen die Staatsgewalt wertet.
Weil die Zivilbevölkerung gut organisiert ist, erfährt Noura Anfang Oktober 2015, dass ein Militärgericht ihren Mann zum Tode verurteilt hat. In einem Prozess, der fünf Minuten dauerte. Seitdem fehlt von Bassel jede Spur, seit dem Sommer 2015 gibt es kein Lebenszeichen mehr. Das ist vielleicht das Schlimmste am Umgang von Assads Regime mit politischen Aktivisten: die quälende Ungewissheit. »Das zehrt einen auf«, so Fadi. Inzwischen floriere daher das Geschäft mit der Hoffnung der Angehörigen von Verschleppten: »Das System Assad vertreibt schwarz über Makler Informationen über Aufenthaltsort und Status von Gefangenen«, sagt Fadi. »Die Leute verkaufen ihr Hab und Gut, ihre Häuser und leihen sich noch Geld von Bekannten für eine einzige Information über ein verschwundenes Familienmitglied.« Auch Noura hat die Hoffnung nicht aufgegeben und möchte nicht an das Todesurteil glauben: »Bassel ist ein viel zu hochkarätiger politischer Häftling, es wäre ziemlich unklug, ihn jetzt nach vier Jahren hinzurichten.« Fadi beurteilt das anders: »Irrationale und unberechenbare Entscheidungen sind typisch für das Assad-Regime.«
Bezeichnend ist auch, wie sich Noura und Bassel kennen- und lieben gelernt haben: auf einer Demonstration in Duma nahe Damaskus im April 2011. In der Familie Ghazi hat das eine gewisse Tradition. Auch Nouras Eltern hatten sich so getroffen, vor mehr als 40 Jahren. Damals versteckte Nouras späterer Onkel den Vater in seinem Haus, als Hafez Al-Assads Schergen ihn nach einer Demo festnehmen wollten. Als Noura auf die Welt kam, verschwand ihr Vater Marwan Ghazi für neun Jahre, weil er sich als Oppositionspolitiker und Führer der Demokratischen Arabischen Sozialistischen Union (DASU) vor dem langen Arm des Regimes verstecken musste. Bis dahin hatte er bereits acht Mal als politischer Häftling im Gefängnis gesessen. Dann wurde er 1992 zum neunten Mal verhaftet. Da war Noura 13, besuchte ihren Vater und seine inhaftierten Mitstreiter regelmäßig und versprach, als gerade einmal wieder die politische Querulanz des Vaters vor Gericht verhandelt wurde, dass sie Anwältin werden und das unterdrückte syrische Volk vertreten würde.
»Das Regime vertreibt über Makler Informationen über Aufenthaltsort und Status von Gefangenen«
Die Hochzeit von Noura und Bassel sollte an ihrem ersten Jahrestag stattfinden. Doch zwei Wochen zuvor wurde der Aktivist verhaftet – an einem anderen Jahrestag: dem des Beginns der syrischen Revolution am 15. März 2011. Erst als er nach Adra verlegt wird, können die beiden die Ehepapiere unterzeichnen. Noura nutzt jede Möglichkeit, ihren Mann im Gefängnis zu besuchen, drei Mal die Woche, passiert Sicherheitskontrollen und lässt Durchsuchungen über sich ergehen. »Wenn wir uns dann sahen, verschwand alles andere: die Gitterstäbe zwischen uns, die Wachen um uns, die Kameras über uns, das ganze Gefängnis«, beschreibt die junge Frau ihre geteilte Zweisamkeit. Tausende von Liebesbriefen schrieben die beiden Aktivisten einander und schmuggelten sie hin und her. In Anbetracht der derzeitigen Lage waren das glückliche Zeiten.
Dennoch bleibt es ein gefährlicher Ort, wegen der Bomben und Raketen, wegen der Kämpfe zwischen Regime und Opposition. Erst im September 2015 wurde Adra nach heftigen Kämpfen von der islamistischen Gruppierung Jaish al-Islam gestürmt, zwei Gebäude im Frauenkomplex eingenommen. In dem größten Gefängnis von Damaskus werden rund 9.000 politische Gefangene festgehalten, Platz ist für 5.000. Die meisten von ihnen sind Aktivisten und politische Größen. Lange Zeit gelang es Bassel hier, gegen alle Widrigkeiten seine Moral hoch zu halten, durch Lesen, Schreiben oder Malen. Er brachte seinen Mitgefangenen Mathe und Englisch bei und kümmerte sich um sie, wenn es ihnen nicht gut ging. Am Ende wurde er selbst krank, baute physisch und psychisch mehr und mehr ab. In den letzten Monaten, in denen Noura ihn sah, war er zunehmend in Sorge über die Zukunft Syriens: »Mitansehen zu müssen, wie unser Land zerstört wird, wie die Bevölkerung gemetzelt und gespalten wird, und nichts dagegen tun zu können, das machte ihm schwer zu schaffen.«
Und auch in Freiheit wird das Leben in Damaskus immer beschwerlicher, Essen und Medikamente von Monat zu Monat teurer, die Gefahr durch Bomben und Häuserkämpfe größer. Doch die Hoffnung auf ein freies, demokratisches und friedliches Syrien lässt Noura unermüdlich weiter kämpfen. Obwohl sie schon fast nicht mehr daran glaubt: »Ich fürchte, dass Syrien geteilt wird und Assad noch lange im Amt bleibt.« Ob sie an Flucht gedacht habe? »Niemals könnte ich außerhalb von Syrien leben, hier ist alles, was mir etwas bedeutet: meine Familie und meine Arbeit für die Gefangenen und ihre Familien.«
Dabei lebt Noura in ständiger Gefahr, selbst verhaftet zu werden. Das System Assad hat in seinem Herrschaftsgebiet nie Augen und Ohren in der Bevölkerung verloren. »Das Regime ist eine Maschine«, muss Aktivist Fadi resigniert anerkennen – »eine Bürokratie des Todes, die immer noch funktioniert«. In den umkämpften Gebieten war die Überwachung das, was als letztes aufgegeben wurde. In Raqqa und anderen Städten hat das Regime demnach bis zum letzten Tag, bis zur Eroberung durch Rebellen, das öffentliche Leben mitgeschnitten, etwa in Moscheen: »Wer zum Gottesdienst erscheint, wer nicht, die Mitglieder der Baath-Partei und was sie dort taten, alles wurde aufgezeichnet«, so Fadi.
Inzwischen werden männliche Zivilisten für Assads Krieg zwangsrekrutiert. Männer bis 45 Jahre lernen im zweiwöchigen Schnellkurs Schießen, bevor sie an die Front in den sicheren Tod geschickt werden. Städte wie Latakia oder Damaskus seien nahezu männerleer, beschreibt Fadi das Ausmaß der Zwangsrekrutierungen. Für ihn ist das die Erklärung dafür, dass junge Männer die Flüchtlingsströme dominieren. »Niemand hier hat große Lust zu kämpfen«, sagt er. Auch aus diesem Grund besteht für Fadi kaum ein Unterschied zwischen dem Terror des »Islamischen Staates« und dem Staatsterror – außer dass Assad nach wie vor das viel größere Gebiet unter seiner Kontrolle hat und daher auch für den Tod von mehr Menschen verantwortlich sei.
Noura kämpft weiter für ihren Mann und für die syrische Sache, gegen alle Widerstände. Was soll sie auch anderes tun, nach so langer Zeit? Trotz schwindender Hoffnung sagt Noura auch heute noch: »Das Gefängnis bedeutet mir am meisten im Leben«.