Die ägyptische Feministin Nawal El Saadawi positionierte sich zu vielen kontroversen Themen. Darunter Jungfräulichkeit, sexueller Missbrauch und Prostitution. Nun ist sie im Alter von 89 Jahren gestorben.
Die Welt hat eine ihrer stärksten Verfechterinnen von Frauenrechten verloren. Die ägyptische Schriftstellerin, Ärztin und Aktivistin Nawal El Saadawi ist am 21. März, dem arabischen Muttertag, im Alter von 89 Jahren in Kairo verstorben. Menschen auf der ganzen Welt haben ihres Todes gedacht. Eine Leserin schrieb: »Du hast dieses Leben am Muttertag verlassen, als wolltest du uns versichern, dass du die geistige Mutter der Frauen und Mädchen unserer Generation bist.« Ein Gefühl, das von vielen geteilt wird, die sich von Nawal El Saadawi inspiriert fühlen.
Geboren am 27. Oktober 1931 in einem Dorf namens Kafr Tahlan im Nildelta, schloss El Saadawi 1955 ihr Medizinstudium ab. Sie behandelte vor allem junge Mädchen in ländlichen Regionen, die durch weibliche Genitalverstümmelung verletzt worden waren. El Saadawi selbst war im Alter von sechs Jahren beschnitten worden.
In »The Hidden Face of Eve«, das erstmals 1977 unter dem Titel »Das nackte Gesicht der arabischen Frau« veröffentlicht wurde, beschreibt sie, wie sie eines Nachts aus dem Bett gezerrt und ins Badezimmer getragen wurde. Wie sie die kalten Fliesen auf ihrem nackten Körper spürte und wie ihr Mund zugehalten wurde. Sie beschreibt den unglaublichen Schmerz sowie den Schock, als sie ihre Mutter unter den lachenden Zuschauenden sah. Es war der entscheidende Moment, der El Saadawi zu einer lebenslangen Kämpferin gegen Genitalverstümmelung machte, die in Ägypten zwar bereits 2008 verboten wurde, aber nach wie vor weit verbreitet ist.
Später notierte sie, dass sie schon früh merkte, dass das Wort bint, also Mädchen, fast immer mit einem skeptischen Blick ausgesprochen wurde
In vielen ihrer Schriften griff sie Momente ihrer Kindheit auf. Ihre Eltern waren gebildet und so hörte El Saadawi immer wieder, Jungen und Mädchen seien gleich. Sie selbst empfand sich allerdings weiterhin als weniger wert. Einst hatte sie beobachtet, wie ihre Tante geohrfeigt wurde, weil sie drei Mädchen zur Welt gebracht hatte. Ihr Onkel drohte dann, sich scheiden zu lassen, sollte sie ein weiteres Mädchen zur Welt bringen.
Später notierte sie, dass sie schon früh merkte, dass das Wort bint, also Mädchen, fast immer mit einem skeptischen Blick ausgesprochen wurde. Und erinnerte sich, wie ihre Großmutter einst sagte, es wäre besser gewesen, wäre sie wie ihr Bruder als Junge zur Welt gekommen. Anhand solcher Schilderungen zeigte die Aktivistin auf, dass Frauen nicht nur Opfer waren, sondern maßgeblich an der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung beteiligt.
El Saadawi schrieb zu vielen umstrittenen Themen wie Jungfräulichkeit, sexuellen Missbrauch und Prostitution. Sie zeigte, dass die Trennung der Geschlechter, Moralvorstellungen, religiöser Extremismus, finanzielle Nöte und begrenzter physischer Raum zu verschiedenen Formen des Missbrauchs führen können. Hierbei wies sie auf zwei Strömungen innerhalb der islamischen Tradition hin, die nahe beieinander liegen: eine positive Einstellung zu sexuellem Vergnügen und Erfüllung bei gleichzeitiger Bewertung der sexuellen Macht von Frauen als Quelle von fitna, also »Aufruhr« gegen die göttliche Ordnung.
Ihr Aktivismus führte zu Konfrontationen mit der ägyptischen Regierung und konservativen Kräften der Gesellschaft
Für El Saadawi werden Mädchen mittels Tabuisierung ihrer Sexualorgane erzogen und in dem Wissen groß, dass ihre Ehre und die ihrer Familie von ihrer Jungfräulichkeit abhängt: »Das Mädchen verliert ihre Ehre und ihre Jungfräulichkeit. Der Mann verliert nie etwas.« Eine Gesellschaft, in der sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe tabu sind, die ökonomischen Hürden für eine solche Ehe aber hoch bleiben, führen zu sexueller Frustration.
Ihr Aktivismus führte zu Konfrontationen mit der ägyptischen Regierung und konservativen Kräften der Gesellschaft. Als 1972 ihr erstes Buch »Frauen und Sex« veröffentlicht wurde, nachdem es über zwei Jahrzehnte lang verboten war, verlor El Saadawi ihren Job im ägyptischen Gesundheitsministerium. Während der Präsidentschaft von Anwar Sadat, der in den 1970er Jahren bewusst islamistische Akteure als Gegengewicht zur linken Opposition stärkte, wurde El Saadawi 1981 sogar kurzzeitig als Staatsfeindin inhaftiert.
Im Westen wurde sie unterdes gefeiert und als Rednerin von Universitäten eingeladen. Doch auch der westlichen Darstellung »der arabischen Frau« stand sie kritisch gegenüber. In einem Artikel für das Journal of Middle East Women's Studies kritisierte sie, ein Buch werde nur dann als vermarktbar angesehen, wenn es zeigt, dass »Tyrannei oder männliche Gewalt ein muslimisches Genre sind«.
Der Buchmarkt würde keine Vergleiche mit der Unterdrückung von Frauen im Christentum oder Judentum dulden und der Widerstand gegen westliche Intervention im Irak oder die Unterstützung für Palästina würde nicht ausgehalten. El Saadawi beklagte, dass Verleger in Deutschland oder den USA die Titel ihrer Werke änderten oder verschleierte Frauen auf dem Cover druckten.
El Saadawi betonte stets, dass die Unterdrückung von Frauen keineswegs nur für die Länder des Nahen Ostens charakteristisch sei
Sie kritisierte die Vorstellung, dass die Diskriminierung arabischer Frauen die Folge von Kultur und Religion sei und politische und wirtschaftliche Faktoren nicht berücksichtigen würden. El Saadawi entlarvte diese Haltung als verschleierten Imperialismus, der zu eben jener wirtschaftlichen Ausbeutung und Unterentwicklung beiträgt, von der auch Frauen maßgeblich betroffen sind.
Für die Ärztin, Autorin und Aktivistin bedeutete volle Emanzipation die Freiheit von allen Formen der Ausbeutung, sei es wirtschaftlich, politisch, sexuell oder kulturell. Sie betonte stets, dass die Unterdrückung von Frauen keineswegs nur für die Länder des Nahen Ostens charakteristisch sei, sondern ein weltweites Phänomen darstelle. Sie wurde nicht müde zu erläutern, dass »der Feminismus nicht von amerikanischen Frauen erfunden wurde«. Er sei kein Konzept des globalen Nordens, das vom globalen Süden lediglich rezipiert wurde; der Feminismus sei viel mehr aktiv im globalen Süden gestaltet worden.
Letztlich war ihre Bekanntheit in Europa und den USA auch der Tatsache geschuldet, dass sie über Themen schrieb, die mit gängigen Vorstellungen eines westlichen Publikums von »der arabischen Frau« übereinstimmten. So sei es eine Herausforderung gewesen, eine Balance zwischen radikaler Ehrlichkeit und kompromisslosen Darstellung zu finden, ohne Klischees zu reproduzieren.
El Saadawi plädierte für eine internationale Solidarität unter Frauen und setzte sich mit der Frage auseinander, wie eine solche Solidarität aussehen kann. Ihrer Meinung nach ist das Verständnis für den jeweiligen Kontext wichtig, in denen Menschen agieren. Ansonsten könnten »Enthusiasmus und der Geist der Solidarität dazu führen, dass feministische Bewegungen einen Standpunkt einnehmen, der gegen die Interessen der jeweiligen Befreiungsbewegungen gerichtet ist und daher auch schädlich für den Kampf für die Emanzipation der Frauen.«
Dass El Saadawi das Sisi-Regime verteidigte, wirken wie ein scharfer Bruch in ihrem jahrelangen Widerstand
Solidarität war und ist laut El Saadawi nur möglich, wenn sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede anerkannt werden. Wenn sich auf die tieferliegenden Ursachen von Unterwerfung und Diskriminierung konzentriert wird und man die Menschlichkeit des anderen anerkennt und sich auf Augenhöhe begegnet. Eine Mahnung, die nachklingt.
Viele der Themen, die sie ansprach, sind auch heute noch relevant – nicht nur in Ägypten. El Saadawi hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt nicht notwendigerweise zu Gleichberechtigung im Privatleben führen wird. Sie beobachtete, dass Frauen sowohl auf dem Arbeitsmarkt, als auch in der Politik Fuß gefasst hatten, aber letztlich im Familienrecht nicht gleich behandelt werden. Die Corona-Pandemie bestätigt diese These, als klar wurde, dass überwiegend Frauen die Kinder der Familien im Homeschooling betreuen.
Ihr Leben lang war El Saadawi politisch aktiv. 2011 schloss sie sich den Protesten auf dem Tahrir-Platz gegen die Mubarak-Regierung an, stand aber den folgenden politischen Entwicklungen kritisch gegenüber. Als die Muslimbruderschaft die ersten Wahlen nach Mubarak gewann, warf sie ihr vor, die Errungenschaft der Revolution für sich zu auszunutzen. Seit dem Militärputsch von Abdul Fatah Al-Sisi 2013 unterstützte sie sein Regime. In einem Interview mit BBC Arabic 2018 beschuldigte sie westliche Medien, ein negatives Bild von Sisi zu zeichnen.
Dass El Saadawi das Sisi-Regime verteidigte und es versäumte, die von ihm begangenen Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, wirken wie ein scharfer Bruch in ihrem jahrelangen Widerstand gegen illegitime politische Macht. So fragwürdig diese politische Haltung auch sein mag, sie negiert nicht ihre Errungenschaften und das beeindruckende Werk, das sie der Welt hinterlassen hat.