Von Proporzsystem bis Quetschlauten: Eine archaische Stammeskultur offenbart dem Orientalisten ihre Geheimnisse. Was Bayern und der Nahen Osten gemein haben – und ob sie Revolution und Demokratie draufhaben.
Das Jahr ist nicht mehr lang. Insofern kann ich mit einiger Gewissheit sagen, dass die anspruchsvollste Aufgabe 2018 nun bereits hinter mir liegt: Einem libanesischen Publikum zu erklären, was man von den Bayern lernen kann. Nicht von dem Fußballverein übrigens, das wäre vergleichsweise einfach. Nein, dem Freistaat, der in der vergangenen Woche sein 100-jähriges Demokratie-Jubiläum feierte. Gottseidank erhielt ich dabei Unterstützung von einer krachledernen, transbayrischen Blasmusikkapelle aus München, Rosenheim, Traunstein und Garmisch. Und das nicht etwa in einem Bierzelt, sondern in der Jeita-Grotte bei Beirut – eine spektakuläre Tropfsteinhöhle, die zu den schönsten Naturerbestätten des Nahen Ostens zählt.
Wie es dazu kommen konnte? Der Reihe nach. Mein bayrischer Freund Christian Springer, ein in Bayern weltberühmter und im restlichen Deutschland recht bekannter politischer Kabarettist, hat vor einigen Jahren im Libanon die Ärmel hochgekrempelt und eine Organisation zur Soforthilfe für syrische Flüchtlinge aufgebaut. Bei der Bundesregierung hat er ebenso Geld eingesammelt wie am Tisch der bayrischen Industriellen auf dem Oktoberfest. Feuerwehren zwischen Ulm und Passau haben gespendet. Auch der Uli Hoeneß war dabei. Das zehnköpfige Team der Orienthelfer verteilt unter anderem Mahlzeiten, Bücher und Schulzeug an syrische Schulkinder.
So wurden die Orienthelfer nebenbei auch so etwas wie die inoffizielle bayrische Landesvertretung im Nahen Osten. Ihnen kam es nun zu, dieses bayrische Demokratiefest auszurichten, gemeinsam mit der Hanns-Seidel-Stiftung, die so etwas wie der zivilgesellschaftliche Arm der CSU ist.
Das an und für sich ist schon bemerkenswert, denn der Springer macht den Seehofer im Fernsehen ziemlich oft zur Schnecke und den Söder regelrecht zur Sau. Auf dem Rücken von Flüchtlingen Politik zu machen und mit Kruzifixen rumzufuchteln, als hätte man es mit Vampiren zu tun, darauf steht der Springer überhaupt nicht.
Als wiederum der Stoiber noch die Staatskanzlei in Bayern leitete, flog der Springer von der Uni, weil er mal, als Linker, aber auch um seine Freundin zu beeindrucken, ein Ei auf den Strauß geworfen hat. Kilometerweit verfehlt wurde die Sache dennoch vom Freistaat als versuchtes Attentat behandelt. Um es kurz zu machen: Politisch sind sie sich nicht gerade grün. Aber wenn einer sich so ins Zeug legt wie der Springer, dessen bayrische Heimatliebe zudem auch kein Marketing, sondern aufrichtig empfunden ist, dann trinken sie mal einen und raufen sich zusammen. Zumindest ist das mein orientromantisches Bild von den Bayern.
Und beim Fest in der Jeita-Grotto hatten sie nicht nur Porträts vom letzten bayrischen Monarchen und von Kurt Eisner, des ersten Regierungschefs des Freistaats 1918 (auch eher links), sondern auch ein schönes, großes vom Söder aufgehängt.
Nun kam mir als Festredner die ehrenvolle Aufgabe zu, den Bogen zwischen den Bayern und dem Orient zu spannen. Und im Publikum saßen Prominente wie zahlreiche libanesische Notabeln, Bürgermeister, Regierungsdirektoren und der Geschäftsträger der Deutschen Botschaft. Sogar Dr. Christa von Siemens, die in Bayern lebt und im Libanon aufgewachsen ist, war angereist, um notfalls vermittelnd einzuschreiten, wenn mein Vortrag über dieses sensible Thema einen Eklat verursacht hätte.
Angeblich über tausend Menschen starben im Frühjahr 1919 im Bürgerkrieg auf den Straßen Münchens. Und niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Auch das dürfte der arabischen Welt bekannt vorkommen
Ich hatte mich vielleicht etwas zu schnell vom Springer überzeugen lassen, dass ich als Nicht-Bayer, Nicht-Katholik überhaupt dazu geeignet sei. Er sagte, weil wir Orientalisten uns mit exotischen Kulturen auseinandersetzen, die nach Meinung vieler ja aufgrund genetischer Prädisposition nicht zu Demokratie befähigt sind. Stattdessen: Stammesdenken, bäuerliches Brauchtum, Autoritätshörigkeit, politischer und religiöser Fanatismus. Warum also nicht Bayern, zumal die Baiuwaren im Hochmittelalter ja den Mythos in Umlauf brachten, sie seien aus dem Orient eingewandert. Wie das Christentum. Oder später Hummus.
Der offenkundigste Beleg dafür, dass es stimmen könnte, ist die Fähigkeit der Bayern, den arabischen Buchstaben »‘ain« mit einem Quetschlaut auszusprechen (Wie in ‘arabi, dem arabischen Wort für arabisch). Fragen Sie mal einen Bayern, was »Ente« auf Bayrisch heißt, und er wird »‘Antn« antworten. Mit Quetschlaut. Generationen von Arabisten scheiterten an dem, was so jeder Bayer und jede Bayerin in die Wiege gelegt bekommt.
Mir fielen dann doch einige Parallelen zum Nahen Osten ein: Als Ludwig II. sich mit seiner Prunksucht und seinem Schlösserbauwahn ruinierte, versagte ihm das bayrische Parlament nicht nur Kredite. Die Staatsregierung ließ ihn sogar für unmündig erklären. Hatten wir bei den Osmanen, aber bei den arabischen Monarchien auch schon. Die Bayern sind da ganz orientalisch. Sie lieben ihre Monarchen und machen den ganzen Zirkus mit. Aber nicht, wenn man ihnen ständig auf der Tasche liegt.
Als Kurt Eisner im Herbst 1918 den Freistaat als Republik ausrief, kamen hunderte Künstler und Intellektuelle nach München und wollten mitwirken an diesem revolutionären Staats- und Gesellschaftsexperiment. Die Sache scheiterte, dann wurde Eisner von einem revanchistischen degenerierten Adligen erschossen, die Kommunisten griffen nach der Macht und wurden dann von Freikorps und Kräften der Konterrevolution buchstäblich an die Wand gestellt. Ich muss gestehen, dass ich bis zur Vorbereitung meines Vortrags keine Ahnung hatte, dass angeblich über tausend Menschen im Frühjahr 1919 bei diesem Bürgerkrieg auf den Straßen Münchens starben. Und dass dafür niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Auch das dürfte der arabischen Welt bekannt vorkommen.
Am Ende saßen sie dann wohl doch wieder im Wirtshaus beieinander. Als ich in meiner Rede darauf abhob, wussten die Libanesen, was gemeint war, und stimmten nickend zu.
Im Grunde haben die Bayern ihren eigenen Stammesproporz nach nahöstlichem Vorbild geschaffen: Das Verhältnis zwischen Schwaben, Oberbayern, Niederbayern, Oberpfälzern, Unter-, Ober- und Mittelfranken erschließt sich Außenstehenden nicht immer. Noch nicht einmal den Orientalisten
Was aber ist es, das die Bayern im Inneren zusammenhält? Wenn man als Orientalist nicht mehr so recht weiterweiß, zitiert man Ibn Khaldun, den Vater der arabischen Soziologie im 14. Jahrhundert. Kommt immer etwas cooler als Weber oder Habermas. Der prägte den Begriff der »‘Asabiyyah«, der inneren Kohäsionskraft eines Stammes oder einer größeren sozialen Gruppe. Ich vermute, dass die Asabiyyah der Bayern vor allem darin besteht, dass sie einerseits eine Stammesföderation sind, die ihre inneren Spannungen dadurch kompensiert, dass sie sich etwas mehr nach außen abgrenzt. Wenn ein bayrischer Landesvater ständig sagt, wie großartig die Bayern sind und wie mittelmäßig die anderen, dann ist das nicht so sehr nach außen, sondern nach innen gerichtet.
Im Grunde haben die Bayern ja ihren eigenen Stammesproporz nach nahöstlichem Vorbild geschaffen: Das Verhältnis zwischen Schwaben, Oberbayern, Niederbayern, Oberpfälzern, Unter-, Ober- und Mittelfranken erschließt sich Außenstehenden nicht immer. Noch nicht einmal den Orientalisten, die sich auskennen mit Stämmen. Aber es ist fein und empfindlich austariert.
Außerdem ist es ihnen gelungen, die Herrschaft der Clan-Bosse (Arabisch zu’ama) erfolgreich einzudämmen, zugunsten einer Stämme-Solidarität: Es gab in Bayern der jüngeren Geschichte nur einen Za’im, nur einen Clan-Boss, der alle anderen plattwalzen konnte. Ich glaube, auch deshalb hatte Franz Josef Strauß zum Libanon ein besonderes Verhältnis, insbesondere zu den Maroniten, die er im Bürgerkrieg recht solidarisch unterstützte.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass diese Bayern tatsächlich aus dem Orient gekommen sind. Dunkel sehen sie oft aus, auf dem Land machen sie so seltsame Dinge wie Gockelholen, Eierrutschen oder aber Karfreitagsratschen, wenn sie mit Rasseln und Ratschen durch die Straßen laufen, weil die Kirchenglocken an diesem heiligen Tag angeblich nach Rom geflogen sind. Erinnert mich sehr an ein Dorf in Oberägypten, wo sie mit hölzernen Scheren schnippen, wenn sie über die Straße gehen. Weil sie glauben, dass dort unsichtbare, bösartige Dschinn, Dämonen, durch die Luft schweben.
Wenn eine derart komplexe, in Teilen archaische Stammeskultur wie die Bayern die Demokratie annehmen und zu einer Erfolgsgeschichte drehen kann, müsste das eigentlich auch allen anderen gelingen
Und überhaupt sind die Bayern auch etwas wie die Kurden: direkt, robust im Auftreten, rustikal und manchmal doch etwas reaktionär. Man muss da natürlich unterscheiden zwischen Oberkurden und Unterkurden. Haben Sie noch nie etwas gehört von der oberkurdischen Landesgruppe in Euphratshausen?
Oder doch eher wie die Ägypter? Sympathisch, gastfreundlich, politisch rätselhaft und ein bisschen zu sehr von der historischen Einzigartigkeit ihrer – zweifellos beeindruckenden – kulturellen Errungenschaften überzeugt.
Und dann, weil es unsere Zunft betrifft, die Tradition des bayrischen Pressewesens, die ihren Ursprung ebenfalls im Nahen Osten haben muss: Liberal, sofern man keine roten Linien überschreitet und die Würde der Gemeinschaft und des Glaubens nicht verletzt. Damit gemeint ist natürlich der FC Bayern, den man vielleicht nach innen kritisieren darf, aber sicher nicht nach außen. Zumindest nicht, wenn man nicht als Verräter sterben möchte.
Die Bayern werden es sportlich nehmen, und für die Libanesen und die anderen Bewohner der Levante mag der Schluss tröstlich sein, zu dem ich komme: Wenn eine derart komplexe, in Teilen archaische Stammeskultur wie die Bayern die Demokratie annehmen und zu einer Erfolgsgeschichte drehen kann, müsste das eigentlich auch allen anderen gelingen.