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Islamdebatte, Orientalistik und Expertentum

Der Islam hat einfach Pech gehabt

Analyse
Kolumne Daniel Gerlach

Der Disput in der Madrasa und wie man mit nur 64 Gramm eine große Lücke schließt.

Kennen Sie Fakhreddin Al-Razi? Oder Frank Griffel? Es muss Ihnen nicht peinlich sein. Bis vor kurzem ging es mir auch so. Und in meinem Fall ist das ein peinlicheres Eingeständnis: Ich weiß nicht, ob und was Sie studiert haben. Aber ich hätte beide wohl kennen sollen, denn ich habe im zweiten Hauptfach Islamwissenschaft studiert.

 

Ende letzten Jahres durfte ich einen Vortrag an der Universität Yale zum Thema Syrien halten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Frank Griffel kennen, einen deutschen Orientalisten und Fachmann für Islamische Geistesgeschichte, der, nach Stationen in Berlin, Göttingen, London und Beirut, gewissermaßen den Jackpot geknackt hat. Wie sonst sollte man es nennen, wenn jemand seiner Leidenschaft als Professor an der Fakultät für »Religious Studies« an einer der weltweit renommiertesten Universitäten nachgehen kann? Und das ohne fortwährend den Druck zu verspüren, sich einzumischen in die saisonalen Debatten unserer Tage: Ob nun der Islam zu Deutschland gehört (Winter), der Burkini ins Freibad (Sommer), oder ob man deutsche IS-Legionäre vom Euphrat an die Ems zurückholen sollte (gerade aktuell).

 

Im Nieselregen von New Haven, beim Spaziergang auf der Straße vor seinem Institut, erzählte mir Griffel von seiner Forschung, der nachklassischen islamischen Philosophie. Als ich salopp nachfragte, ob nicht der Theologe und Imam Al-Ghazali die islamische Philosophie um 1100 beendet habe, weshalb es mit der islamischen Aufklärung leider doch nichts wurde, funkelte es geradezu in Griffels Augen. Das könnte mir so passen, erwiderte er sinngemäß. Nur weil die westliche Orientalistik die nachklassischen Philosophen nicht kenne oder nicht verstehe, heiße das noch lange nicht, dass sie nicht existiert hätten. Ich würde mich noch wundern.

 

Einige Wochen später fand ich ein Kuvert in der Post, von dem ich zunächst dachte, er sei leer. Ich schüttelte es und fand dann doch noch etwas. »Den Islam denken – Versuch, eine Religion zu verstehen« ist ein Büchlein, das mit 90 Reclam-Seiten – abzüglich der Anmerkungen – und 64 Gramm Eigengewicht kaum schwerer ist als mein Reisepass. Es passte gut in die Innentasche meines Jacketts, wo es dann auch eine Zeitlang überwinterte. Bis mich ein Posting meines Facebook-Freundes Ruprecht Polenz – den wiederum kennen Sie vielleicht – daran erinnerte, nach diesem Buch zu suchen und es endlich auch zu lesen.

 

Um es gleich vorweg zu nehmen: Sie sollten das auch tun, denn es ist großenteils hervorragend. Aber es enthält nicht unbedingt, was draufsteht. Wer also gehofft oder befürchtet hat, hier würden zum 100. Mal die fünf Säulen des Islams erklärt – nach dem Valentin-Prinzip, »es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen« – der wird durch dieses Werk aus Griffels Feder überrascht. Der Islam als Religion kommt nur ganz am Rande zur Sprache, das Denken dafür aber umso mehr.

 

Griffel beginnt nicht mit dem Propheten Muhammad, sondern mit Tolstoi. Dort, wo andere Karl Martell oder den kranken Mann vom Bosporus auftreten lassen, kommt Griffel mit der Entwicklung der Geburtenrate. In der Geschichte von Napoleons Orient-Abenteuer in Ägypten dürfen die Seeschlacht von Abukir und Ermordung des Generals Kléber durch einen »Allahu akbar« schreienden Fanatiker nicht fehlen. Griffel aber berichtet lieber vom Eingriff der Franzosen in das Straßenbild von Kairo. Auch als halbwegs Orient-versierter Leser begegnet man in seinem Buch kaum bekannten historischen Figuren und Referenzen. Es liest sich angenehm und überraschend, wie Griffel gewissermaßen das Kamel von hinten aufzäumt.

 

Alles, um zwei Thesen zu belegen, die ich hier halbwegs frei widergeben möchte. Erstens: Es gab nach dem sogenannten goldenen Zeitalter des Islams keinen »Niedergang« der muslimischen Kultur, sondern nur einen aggressiven, expansiven Fortschritt in Europa. Zweitens: Wer den Islam und die muslimischen Gesellschaften verstehen will, also wissen will, wie letztere tickten, sollte sie nicht immer nur in Bezug zur eigenen Geschichte, Kultur und zum eigenen Erfahrungshorizont betrachten, sondern versuchen, sie einmal aus sich selbst heraus zu sehen.

 

Dabei ist es laut Griffel auch für die Wissenschaft von Vorteil, anderen Kulturen nicht bloß Kopfnoten für das zu vergeben, was wir in Europa gemeinhin unter Fortschritt und Leistungsfähigkeit verstehen. Von dem Gewinn, der sich aus einem solchen Paradigmenwechsel schöpfen lässt, präsentiert Griffel eine kurze Kostprobe aus seinem Fachgebiet, eben der nachklassischen islamischen – oder muslimischen – Philosophie.

 

In »Den Islam denken« begegnen wir nun diesen nachklassischen Denkern, zuvorderst aber Fakhreddin Al-Razi (spätes 11. und frühes 12. Jahrhundert), dessen Werke laut Griffel keine einfachen, logischen Antworten auf Fragen geben, sondern komplexe Disputationen abbilden sowie etwaige Widersprüche zu- und nebeneinander existieren lassen.

 

Haben Sie »Niedergang« gesagt?

 

Man möchte mehr davon lesen und – sofern es sie also tatsächlich gab – zahlreiche dieser nachklassischen Gelehrten kennenlernen. Auch eine Erörterung der Frage, inwiefern sich besonders die schiitische Theologie in den nachklassischen Jahrhunderten um das »Denken des Islams« verdient gemacht hat, wäre aufschlussreich gewesen.

 

An der einen oder anderen Stelle trifft Griffel stattdessen eher politische Äußerungen, die man nicht teilen muss und deren in der gebotenen Kürze vorgetragene Gedankengänge sicher auch Kritik verdienen. Etwa, wenn er vom islamischen Fundamentalismus als Antwort auf den herrschsüchtigen und fortschrittsgläubigen Expansionsdrang des Westens gegen die muslimische Welt erzählt. Oder wenn er die Anschläge vom September 2001 »pressewirksame Proteste gegen eine Übermacht ›des Nordens‹ oder ›des Westens‹« nennt.

 

In einigen Passagen erweckt Griffel gar den Eindruck, er wolle dem seiner Meinung nach nicht mehr haltbaren Narrativ vom selbst verschuldeten Niedergang der islamischen Welt nun eines entgegensetzen, in welchem die muslimische Welt ausschließlich Opfer und der Westen Täter ist.

 

Aber insgesamt zeigt er, wie sich Islamwissenschaftler doch ideengebend und begriffsbildend und eben auch einmal indirekt in die mediale Islamdebatte einbringen können. Es ist ja eine Debatte, deren Protagonisten besonders gern historische Begriffe des Niedergangs, der vermeintlichen Wissensfeindlichkeit und der mangelnden Aufklärung im Islam anführen.

 

Die Werke der nachklassischen Denker seien keine Bücher für den Hausgebrauch, sondern für das gemeinsame Studium in der Madrasa, warnt Griffel, was ihm zufolge auch erklärt, warum von Razis Werken kaum Übersetzungen in westliche Sprachen angefertigt wurden. Und weshalb die meisten Orientalisten sie, sofern Razi ihnen überhaupt bekannt war, eher mit Geringschätzung bedachten. »Das sind Werke, wo zumindest einer oder eine in der Gruppe einen Überblick über die Gliederung behalten muss«, schreibt Griffel. Von seinem eigenen, auch an dieser Stelle sehr kompakt geschriebenen Buch kann man das wirklich nicht behaupten.


Den Islam denken

Den Islam denken
Versuch, eine Religion zu verstehen.
Frank Griffel
Reclam, 2018
102 Seiten, 62 Gramm, 6 Euro


 

Von: 
Daniel Gerlach

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