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50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«

Der beste Kommentar zu Nahost und Antisemitismus

Feature
50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«
Pathé / Still aus »Rabbi Jacob« mit De Funès und Claude Giraud

Vor 50 Jahren feierte Louis de Funès Premiere mit einem bedeutenden Film. Dabei überschlugen sich die Ereignisse: Ein Krieg im Nahen Osten, eine dramatische Flugzeugentführung. Muss man gesehen haben.

Vielleicht wäre Danielle Cravenne nicht erschossen worden, wenn sie den Film gesehen hätte. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Am Vormittag des 18. Oktober 1973 landet eine Boeing 727 auf dem Flughafen Marseille Marignane – außerplanmäßig, denn die Maschine der Air France mit über 100 Passagieren an Bord sollte eigentlich von Paris nach Nizza fliegen. Fälle von Flugzeugentführungen sind zu dieser Zeit beinahe traurige Routine geworden, doch diese ist wie keine andere.

 

Kein arabisches Luftpiratenkommando, sondern eine 35-jährige Frau, mit – wie sich später herausstellen soll – einem ungeladenen Karabiner und einer Spielzeugpistole bewaffnet, hat die Maschine gekapert und verlangt nun, nach Kairo ausgeflogen zu werden. Die französischen Behörden verhandeln und vereinbaren mit ihr, dass das Flugzeug im Austausch für die an Bord befindlichen Passagiere in Marseille betankt wird.

 

Nur der Pilot und der Kabinenchef sollen als Geiseln zurückbleiben. Die Frau sei »einigermaßen bei Sinnen gewesen«, wird letzterer später zu Protokoll geben. Die Entführerin erkennt zu spät, dass die drei Monteure im Overall, die nun an Bord kommen, in Wahrheit einer Spezialeinheit der Police Nationale angehören. Einer, der Eliteschütze Paul Caparos, zieht seine Pistole und feuert der Frau aus wenigen Metern Entfernung ins Gesicht. Mindestens ein weiterer Schuss trifft sie ins Herz.

 

Als die Abendnachrichten die Identität der Luftpiratin bekanntgeben, ist das Erstaunen groß. Sie habe, so erklärt der Kabinenchef in einem Interview, offensichtlich eine »enge Beziehung zur Welt des Films« gehabt. Danielle Cravenne, Ehefrau von Georges Cravenne, einem bereits damals in der Szene bekannten PR-Agenten. Nicht geringer ist das Erstaunen der französischen Öffentlichkeit, als über das Motiv für die Entführung berichtet wird: Weder geht es ihr um die die Freilassung palästinensischer Freischärler noch um den Rückzug Israels aus besetzten Gebieten, wie bei früheren Akten von Luftpiraterie. Danielle Cravenne forderte die Absetzung eines Films der an diesem 18. Oktober 1973 im Pariser Kino Gaumont Alésia im 14. Arrondissement Premiere feiern soll: »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«. Manchmal bedeutet großes Kino, dass die Geschichte eines Films so abenteuerlich ist wie dessen Drehbuch. Und »Rabbi Jacob« reiht sich ein in die Story der größten Unterhaltungsfilme aller Zeiten.

 

Die Komödie mag in Teilen gealtert sein. Aber sie berührt Themen, die auch heute, 50 Jahre nach Ihrem überwältigenden Erfolg an den Kinokassen Frankreichs, aktuell und Gegenstand täglicher medialer Debatten sind: Antisemitismus, Rassismus, Nahostkonflikt. Aber auch die derzeit in der Branche virulente Frage, wer was spielen und sich worüber lustig machen darf.

 

50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«
Das Filmplakat für »Die Abenteuer des Rabbi Jacob« aus dem Jahr 1973

 

»Rabbi Jacob« ist ein Film, in dem niemand geschont wird und sich vor allem niemand schont, verewigt durch zwei Bilder, in denen Hauptdarsteller Louis de Funès, damals 59 Jahre alt, sich einmal mit einem Schtreimel – dem typischen Pelzhut orthodoxer jüdischer Chassiden – buchstäblich die Zunge aus dem Hals tanzt und ein anderes Mal kopfüber in einer Kaugummifabrik in eine schleimige grüne Tunke purzelt. Nach jeder Szene dauerte es Stunden, bis man de Funès wieder sauber hatte.

 

Der Plot: Ein ebenso wohlhabender wie unausstehlicher Unternehmer namens Victor Pivert (de Funès) ist bekennender Katholik und Chauvinist, der keine Gelegenheit auslässt, um seine Ressentiments gegen Juden, Araber, Schwarze und Ausländer im Allgemeinen auszubreiten. Er erfährt nun von seinem Fahrer Salomon, dass dieser Jude ist. (»Salomon – vous-êtes juif?«) Auf einen Streit folgt ein Autounfall. Die beiden landen am Rande der Landstraße in einem See und gehen getrennte Wege. In der Dunkelheit, auf der Suche nach Hilfe, gelangt Pivert in eine geschlossene Kaugummifabrik, in der sich zufällig der zweite Strang des Plots entfaltet.

 

Die Häscher eines arabischen Geheimdienstes haben einen im französischen Exil befindlichen Oppositionellen gefangen und wollen ihn nach vergeblichen Versuchen, ihm Details über einen bevorstehenden Aufstand durch Folter abzupressen, töten und verschwinden lassen. Dieser Oppositionelle namens Slimane nutzt die Verwirrung durch das Erscheinens von Pivert – weil dieser in Kaugummipaste gefallen ist, sieht er wie ein Marsmensch aus –, und Slimane gelingt nun ausgerechnet gemeinsam mit Pivert die Flucht. Inzwischen verfolgen nicht nur die arabischen Agenten die beiden unfreiwilligen Gefährten. Auch die Polizei fahndet nach ihnen. Als Pivert und Slimane am Pariser Flughafen Orly beinahe in die Falle gehen, beginnt der zweite Akt des Dramas, das seine entscheidende Wendung nimmt.

 

Auf der Flughafentoilette überfallen sie zwei ahnungslose Rabbiner, die aus New York angekommen sind, um der chassidischen Gemeinde einen Besuch abzustatten. Pivert und Slimane rauben ihnen ihre Kleidung und – nicht ganz logisch, aber egal – auch die Bärte – und verwandeln sich in Rabbi Jacob und Rabbi Seligman. Sie ahnen allerdings nicht, dass sie von Vertretern der Gemeinde am Flughafen erwartet und mit großem Aufgebot in das Schtetl von Paris gebracht werden: die Rue des Rosiers. Da die französischen Juden den echten Rabbi Jacob lange nicht gesehen haben, geht der Schwindel zunächst auf.

 

Nun werden alle Register der Shakespeare’schen Verwechslungskomödie (comedy of errors) gezogen. Denn der Antisemit Pivert muss sich so verhalten, wie er glaubt, dass es für Juden typisch ist. Nur mit seinem Chauffeur Salomon haben sie nicht gerechnet, der nicht nur in der Rue des Rosiers wohnt und seinen ehemaligen Chef sofort erkennt, sondern nach einem kurzen Debriefing auch den Ernst der Lage. Die falschen Rabbis Jacob und Seligman, der Katholik Pivert und der Muslim Slimane, sollen aus der Thora vorlesen und einen jüdischen Jungen zur Bar Mitzvah segnen. Als die Kriminalpolizei die Synagoge betritt, fasst sich der Fahrer Salomon ein Herz und ruft auf Hebräisch die Gläubigen auf, dass alle den Talit, also den Gebetsschal, in die Höhe halten, um die Rabbis vor dem Zugriff zu beschützen.

 

»Als der Film gelaufen war, bekam ich einen Anruf aus Israel. Man wollte mir eine Rolle anbieten, weil ich Hebräisch könne. Dabei hatte ich nur einen Satz«, erinnert sich lachend Henri Guybet, der damals als Sidekick von Louis de Funès in der Rolle des Salomon seine erste große Kinorolle hatte. Der 86-Jährige sitzt an einem warmen Septembertag in der Brasserie Zeyer im Pariser 14. Arrondissement nur wenige Meter von dem Kino entfernt, wo »Rabbi Jacob« vor 50 Jahren unter so denkwürdigen Umständen Premiere feierte.

 

50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«
Das Pariser Schtetl von einst: in der Rue des Rosiers dominieren heute Luxus-Boutiquen.

 

Guybet löffelt zufrieden einen Eisbecher und erinnert sich an die für ihn verrückteste Produktion aller Zeiten. Dank des Films wurde Guybet zu einem beliebten Nebendarsteller des französischen Kommerzkinos – auch wenn er es selten in die erste Reihe schaffte. Guybet spielte mit de Funès, Alain Delon, Jean-Paul Belmondo oder Bernard Blier. Nach Meinung vieler Franzosen spielte Guybet den Salomon offenbar so überzeugend, dass ihn jüdische Jungs am Vorabend des Schabbat auf der Straße fragten, ob er sie zur Synagoge begleite. Und auch das antisemitische Slang-Wort »Youpin« bekam er im Laufe seiner Karriere das eine oder andere Mal zu hören.

 

Als Gérard Oury, der Macher und Regisseur von »Rabbi Jacob«, ihn vor Drehbeginn fragte, ob er Jude sei, antwortete Guybet: »Nein, aber das lässt sich schnellstens arrangieren.« Weder Oury noch Hauptdarsteller de Funès lachten. Beide, die zu Recht als Dreamteam der großen Kinokomödie galten, waren am Set freundlich und konzentriert, aber nicht zum Scherzen aufgelegt.

 

»Rabbi Jacob« lässt kein landläufiges Klischee über Juden, insbesondere über die chassidisch-orthodoxe Spielart aus, wobei ein tatsächlicher Rabbiner, den man als Fachberater angeheuert hatte, darauf achtete, dass jeder Schenkelklopfer noch irgendwo in der Realität verankert war. Man habe sich das eine oder andere Mal gefragt, wie weit man mit Witzen gehen könne. Eine Frage, so erzählt Henri Guybet, habe man sich allerdings nie gestellt: Ob ein Nichtjude einen Juden spielen und darüber Witze machen dürfe. Und Guybet selbst wusste nichts über das besondere Verhältnis des Regisseurs zum Judentum. Und über dessen erstaunliche Biografie.

 

Gérard Oury wurde 1919 als Max-Gérard Houry Tennenbaum, Sohn des Geigers Serge Tennenbaum und der Kunstkritikerin Marcelle Houry, geboren. Er hatte gerade das Konservatorium der Darstellenden Künste absolviert, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und ein Jahr später – im Juni 1940 – die Vichy-Regierung die deutsche Besetzung des nordwestlichen Teils Frankreichs anerkannte. Laut Definition der NS-Behörden ist Oury »Volljude« und mit Dekret vom Oktober 1940, in welchem der »jüdische Einfluss auf die Kultur« gestoppt werden soll, mit einem Berufsverbot belegt.

 

Oury und seine Partnerin Jacqueline Roman fliehen an die Mittelmeerküste in die »Zone Libre« – eine Erfahrung, die er Jahre später in seinem ersten Opus Magnum, der Komödie »La Grande Vadrouille – Die große Sause« mit de Funès und Bourvil würdigt (deutscher Verleihtitel: »Drei Bruchpiloten in Paris«).

 

In Monaco trifft Oury eine schwere Entscheidung: Seine 1942 geborene Tochter Danièle wäre Jüdin mit zwei jüdischen Elternteilen. Sollten die Deutschen die Besetzte Zone nach Süden ausdehnen, wäre ihr Leben damit in Gefahr. Deshalb verweigert Oury die Anerkennung der Vaterschaft und lässt sie im standesamtlichen Register als »père: inconnu – Vater: unbekannt« vermerken.

 

Ihr Vater sei weder religiös gewesen, noch habe er sich dem Judentum sonderlich zugehörig gefühlt, sagt Ourys Tochter im Gespräch mit zenith. Es ist Danièle Thompson. Die 81-Jährige gilt als eine der bekanntesten Drehbuchautorinnen Frankreichs. Gerade ist die von ihr entwickelte Miniserie »Bardot« über das Leben der Lifestyle-Ikone Brigitte Bardot auf Netflix erschienen. Aus Danièle Thompsons Feder stammen spektakuläre Produktionen wie »Belphegor« (2001) oder die »Bartholomäusnacht« (1994). Vor allem aber wirkte Thompson bereits in ihren Zwanzigern im Autorenteam an den Erfolgen ihres Vaters mit, unter anderem den Blockbustern mit Louis de Funès.

 

»Rabbi Jacob« wurde das erste Drehbuch, das Vater und Tochter dann zu zweit entwickelten. Die Idee, einen chassidischen Rabbi – noch dazu einen falschen – zur Hauptfigur zu machen, war Oury gekommen, als er eines Tages mit einigem Befremden durch die Rue des Rosiers geschlendert war, wo sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts osteuropäische Schtetl-Juden auf der Flucht vor Armut und Pogromen angesiedelt hatten: eine Gemeinschaft, die einerseits durch Geschlossenheit Kargheit und Zurückgezogenheit auffiel, aber, wenn es etwas zu feiern gab, so ausgelassen tanzen konnte, dass es nur so eine Art war.

 

50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«
Der heute 86-jährige Henri Guybet wurde dank »Rabbi Jacob« zu einem beliebten Nebendarsteller des französischen Kommerzkinos – auch wenn er es selten in die erste Reihe schaffte. dge

 

Als spektakuläre Wendung im Drehbuch hatten Vater und Tochter eine Flugzeugentführung nach Israel im Sinn – »wobei wir weder mit dem Judentum noch mit Israel irgendwas am Hut hatten«, erinnert sich Thompson. In einer kreativen Pause unternahmen die beiden dann eine Urlaubsund Recherchereise ins Heilige Land, die sie touristisch begeisterte, aber auch davon abbrachte, den Plot nun auch noch nach Israel auszudehnen. Ob eine Flugzeugentführung – wie es sie damals häufig gab – nicht etwas pietätlos gewesen wäre? Im Gegenteil. Dieser Gedanke, erzählt Thompson, sei ihr nicht in den Sinn gekommen, gerade deshalb hätte es ja lustig werden können. Triggerwarnungen gab es 1973 nicht.

 

Bei allem Fantasie-Spektakel, mit dem der »Rabbi Jacob« aufwartet, ließ sich das Autorenduo Oury/Thompson doch von realen Ereignissen inspirieren: insbesondere der Affäre Ben Barka, einem beispiellosen Geheimdienstkomplott um die Ermordung eines linken marokkanischen Oppositionspolitikers in Paris. 1965 war Mehdi Ben Barka am helllichten Tag vor der berühmten Brasserie Lipp am Boulevard Saint-Germain entführt worden – und blieb seitdem für immer verschwunden. Wenngleich der Fall nie vollständig aufgeklärt wurde, gilt heute als gesichert, dass nicht nur der marokkanische, sondern auch der französische Nachrichtendienst in den Fall verwickelt waren – einer anderen Quelle nach war auch der israelische Mossad beteiligt, der bereits in den 1960er-Jahren diskret mit dem Regime des Monarchen Hassan II. in Rabat kooperierte.

 

Im »Rabbi Jacob« wird der Exilant »Slimane« von einem arabischen Kommando in die Telefonkabine einer Brasserie gelockt und im Kofferraum eines Autos in jene Kaugummifabrik geschleppt, wo Pivert ihm dann zufällig begegnet. Vor allem aber spielt die Story vor der Kulisse des Nahostkonflikts, der sich vor und während der Produktion immer weiter zuspitzte. In die Zeit zwischen den Nahostkriegen 1967 und 1973 fielen Dutzende Flugzeugentführungen in Europa sowie Abnutzungsgefechte und Frontscharmützel zwischen Israel und Ägypten. Dann das Münchener Olympia-Attentat 1972, bei dem zahlreiche israelische Sportler umgebracht wurden, aber auch der Beginn des Rachefeldzugs, in welchem Kommandos des Mossad die mutmaßlichen Drahtzieher von München jagten. Es war eine Zeit, in der der Nahostkonflikt spürbar nach Europa kam – und blutige Spuren hinterließ.

 

In den »Abenteuern des Rabbi Jacob« ist dieser Konflikt nicht nur Kulisse, sondern auch Gegenstand einer Botschaft, die wie die burleske Ausgabe von Lessings »Nathan der Weise« wirkt: Spätestens, als der allmählich geläuterte Antisemit und Rassist Pivert entdeckt, dass sein jüdischer Fahrer und sein neuer arabischer Gefährte Slimane ja fast den gleichen Namen tragen: »Salomon – Slimane?«

 

Alles kehrt sich um und fügt sich so zusammen, als Pivert schließlich mit großer militärischer Ehreneskorte – in Slimanes Heimatland hat inzwischen eine Revolution stattgefunden, und der verfolgte Exilant wurde vom Komitee zum Präsidenten ernannt – aber immer noch im gestohlenen Anzug des echten Rabbi Jacob zur Vermählung seiner eigenen Tochter erscheint. Nun tritt Pivert vergnügt vor die fassungslose dreinblickende, ziemlich spießige französische Schwiegerfamilie. Gedreht wurde im Hof des Invalidendoms – eine der prächtigsten Kulissen, die Oury für seine Filme je ausfindig machen konnte. Schließlich ist es so etwas wie das Heiligtum der laizistischen Französischen Republik.

 

50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«
Aus Danièle Thompsons Feder stammen spektakuläre Produktionen wie »Belphegor« (2001) oder die »Bartholomäusnacht« (1994). Georges Biard / Wikimedia Commons

 

Der Film ist bunt, schrill, artistisch, voller Knalleffekte, die 1973 gewiss hochmodern gewesen sind. Um de Funès und die Schergen des arabischen Geheimdienstes über mehrere Szenen in einer klebrigen giftgrünen, angeblichen Kaugummimasse herumturnen zu lassen, ohne dass diese sich Hautreizungen oder gar Vergiftungen zuzogen, wurde zu einer sehr französischen Lösung gegriffen: Man rührte mehrere Hundert Liter Crèpe-Teig an und versetzte ihn mit grüner Lebensmittelfarbe. Um Hauptdarsteller de Funès große Kaugummiblasen aus den Ohren wachsen zu lassen, wurden Kondome eingesetzt. Dumm nur: Als das Team nach dem Wochenende zum Studio zurückkehrte, war der Crèpe-Teig im Zuber, wo die Schlüsselszene spielte, leider aufgegangen. »Sie mussten stundenlang putzen und dann die ganze Soße neu anrühren – und finden sie mal genau den richtigen Farbton, um den Anschluss hinzukriegen«, erinnert sich lachend Schauspieler Henri Guybet.

 

De Funès gab alles für den Rabbi Jacob und studierte über Wochen mit dem israelischen, aus Algerien stammenden Choreographen Ilan Zaoui den chassidischen Tanz ein, der ihn in Sachen Fitness an die Grenzen gebracht haben dürfte. »La danse du Rabbi Jacob« wird auch heute noch in sozialen Medien gefeiert – im Jahr 2019 veranstaltete eine Gruppe sogar einen Flashmob zu diesem Thema. Streit am Set gab es, als de Funès, der kurz zuvor eine schlechte Kritik über sich gelesen hatte, sich weigerte, sein typisches Grimassenspiel zum Besten zu geben – obwohl dies für Regisseur Oury an einer Stelle unersetzlich war.

 

Als Komödie und Statement zu den oft unglücklich verwobenen Themen Nahostkonflikt und Antisemitismus ist »Rabbi Jacob« zeitlos. Zumal er trefflich darauf hinweist, dass Ressentiments und Chauvinismus keineswegs Merkmale des »kleinen Mannes« sind, sondern auch – oder sogar besonders – eines der Reichen. An einigen Stellen wirkt das Meisterwerk ein wenig schlecht gealtert: Zu Beginn des Films echauffiert sich Pivert über eine Eheschließung zwischen einem weißen Mann und einer schwarzen Frau, worauf er durch einen explodierenden rußigen Auspuff am vorausfahrenden Fahrzeug plötzlich selbst ein schwarzes Gesicht bekommt. »Blackfacing« ist hervorgegangen aus der Tradition des europäischen und amerikanischen Unterhaltungstheaters der Kolonialzeit, als weiße Darsteller sich die Gesichter mit Ruß einfärbten, um in meist despektierlicher Weise Schwarze lächerlich zu machen. Auch wenn es im Fall »Rabbi Jacob« antirassistisch gemeint ist, dürfte die Szene heute im Kino weniger Heiterkeit auslösen.

 

Ob man einen solchen Film heute überhaupt noch drehen würde? »Ich fürchte nicht«, sagt Danièle Thompson im Gespräch mit zenith. Die identitätspolitisch aufgeladene Debatte über die Frage, wer wen spielen und über wen Witze machen dürfe, überlagere derzeit vieles. Thompson räumt aber auch Unzulänglichkeiten ein. »Beim Thema Judentum waren wir trotz aller deftigen Witze recht sensibel«, erzählt sie. Über Araber und Muslime habe man sich weniger Gedanken gemacht. Das Thema der arabischen Migration und der damit verbundenen Stereotypen sei im Frankreich der frühen 1970er-Jahre nicht Gegenstand der Debatte gewesen.

 

Auch sei nur ein einziger arabischstämmiger Schauspieler an der Produktion beteiligt gewesen. Den schmierig-finsteren arabischen Oberschurken Colonel Farès aber gab der italienische Visconti-Schauspieler Renzo Montagnani. Slimane, der heldenmütige, gutaussehende Oppositionelle, wurde von Claude Giraud verkörpert, einem Charakterschauspieler der Comédie Francaise. »Heute hätten wir die Qual der Wahl, damals gab es noch keine – oder kaum – Muslime mit Starqualitäten in der Filmindustrie«, erinnert sich Danièle Thompson.

 

50 Jahre »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«
Henri Guybet hatte als Sidekick von Louis de Funès in der Figur des Chauffeurs Salomon seine erste große Kinorolle. Screenshot Youtube

 

Ob der Film eine Moral besitze? »Die Moral liegt in der Heiterkeit«, findet Henri Guybet, der heute Theaterstücke schreibt und mehr in der Gegenwart als in der Vergangenheit zu leben scheint – was für einen 86-Jährigen, der die große Zeit des Kinos miterlebt hat, nicht unbedingt typisch ist.

 

Dass diese Heiterkeit in bittersten Ernst umschlagen würde, ahnten die Macher des Films nicht. Doch dann, wenige Tage vor der Presse-Premiere, am 6. Oktober 1973, brach im Nahen Osten der Jom-Kippur-Krieg aus. Ägyptische und syrische Truppen überraschten Israel am höchsten jüdischen Feiertag mit einer koordinierten Attacke. Der Krieg brachte die Welt an den Rand einer globalen Konfrontation, da die USA für Israel und die Sowjetunion für die Araber Partei ergriffen.

 

War es pietätlos, in dieser Zeit mit einer Komödie an den Start zu gehen, die für Versöhnung plädiert und sich über Juden, Araber und französische Spießbürger gleichsam lustig macht? Danièle Thompson kamen Zweifel, als sie die Plakate sah, mit denen die Produktion die Litfaßsäulen von Paris zugekleistert hatte: darauf ein grinsender De Funès mit Bart, Schtreimel und Schläfenlocken.

 

»Nach einem Abendessen zogen wir los und rissen unsere eigenen Plakate ab«, erinnert sich Thompson. Georges Cravenne, der Promoter des »Rabbi Jacob«, der selbst als Sohn tunesischer Juden nach Frankreich eingewandert war, hatte ganze Arbeit geleistet. Dann, am Morgen des 18. Oktober, stieg seine Frau Danielle an Bord der Boeing der Air France. Laut dem Bericht einer Bekannten, die später im französischen Rundfunk ein Interview gab, sei sie verzweifelt gewesen: vom Kapitalismus, der Ungerechtigkeit im Nahen Osten, und der »Mauer des Schweigens«, der sie gegenübergestanden habe, als sie die Absetzung des Films verlangte.

 

Georges Cravenne prozessierte später vergeblich gegen den französischen Staat: Seine Frau sei verwirrt gewesen und erschossen worden, obwohl sie keinerlei Gefahr darstellte. Auch Danièle Thompson erinnert sich gut an die Details der Tragödie von Marignane. Aber die Familie Cravenne hat sie gebeten, den Fall ruhen zu lassen.


Dieser Artikel stammt aus der zenith-Ausgabe 2/23. Lust auf mehr? Bestellen Sie das neue Heft direkt in unserem Shop.

Von: 
Daniel Gerlach

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