Im Koran findet sich keine Basis für ein allgemeines Abbildungsverbot. Auch die ersten Kalifen hatten keine Probleme mit Portraits – bis die Christen ins Bild rückten.
Sie sind wieder da: geköpfte Schaufensterpuppen in afghanischen Bekleidungsgeschäften. Aber nicht nur Frauenbilder schänden die an die Macht zurückgekehrten Taliban. Auch bei Darstellungen von Männern werden die Köpfe entfernt oder geschwärzt, etwa auf Werbeplakaten für Sportstudios. Körperlichkeit an sich ist offenbar kein Problem, denn bis auf einen winzigen Slip sind die Männer auf den Werbetafeln nackt – nur die Köpfe fehlen nun.
Die Taliban wollen damit die strikte Einhaltung des vermeintlichen islamischen Bilderverbots demonstrieren. Tatsächlich gab es in islamischen Umgebungen von alters her Vorbehalte gegen die Darstellung beseelter Lebewesen, insbesondere von Menschen. In sunnitischen Moscheen gelten solche Darstellungen bis heute als unerwünscht, und Porträts des Propheten Muhammad und seiner Gefährten sind auch außerhalb von Moscheen problematisch, aber nicht unmöglich. Die generelle Abneigung gegen alles Bildliche, sofern sie jemals existiert hat, ist nach der Erfindung der Fotografie jedoch fast widerstandslos abgeschafft worden – sogar die frommsten Prediger lassen sich ablichten.
Im Koran findet sich auch kein solch allgemeines Verbot. Zwar wettert die Schrift gegen Götzenbilder (arabisch tamathil), aber das entspricht keinem generellen Bilderverbot. Die Hadith-Überlieferungen sind diejenigen Texte, in denen Bilder (suwar, auch tamathil) verpönt werden, freilich oft nur bedingt. Der Islamwissenschaftler Daan Van Reenen hat nicht weniger als 325 Hadithe zum Thema gesammelt und beispielhaft klassifiziert und analysiert. Darunter sind aber viele Dubletten und Varianten – letztlich handelt es sich um wenige Basistexte.
Nachfolgend einige Beispiele, die ich jeweils in der kürzesten Fassung zitiere:
»Der Prophet hat gesagt: Engel betreten kein Haus, in dem sich ein Hund oder eine bildliche Darstellung befindet« Die Erwähnung des Hundes macht deutlich, um was es hier geht: So ein Haus ist unrein, ungeeignet für das Gebet.
»Aischa erzählte: Eines Tages, als ich einen Vorhang mit Darstellungen von Lebewesen (tamathil) vor einer Nische aufgehängt hatte, kehrte der Prophet von einer Reise zurück. Als er ihn sah, zerriss er ihn und sagte: ›Diejenigen, die am Tag des Gerichts die schwerste Strafe bekommen, sind diejenigen, die Gottes Schöpfung nachahmen!‹ Wir machten daraus ein (oder zwei) Kissen.«
So musste das Gebet nicht vor solchen Abbildungen verrichtet werden und man konnte seine Verachtung ausdrücken, indem man sich auf sie draufsetzte.
»Ich habe Muhammad sagen hören: ›Wer in dieser Welt ein Bild macht, der wird am Jüngsten Tag beauftragt, ihm Leben einzuhauchen, und das wird er nicht können.‹«
Gemäß dem Koranvers 59:24 ist nur Gott muṣawwir, also »derjenige, der ein Bild macht«. Auch hier ist der Punkt, dass der Mensch sich nicht anmaßen sollte, Gottes Schöpferkraft nachzueifern. In einigen Hadith-Überlieferungen wird auch berichtet, dass der Prophet Bilder, die sich auf und in der Kaaba befanden, vernichten ließ. Manchen Texten zufolge durfte jedoch eine Madonna mit Kind verschont bleiben.
Unter den ersten Kalifen gab es das Bilderverbot offensichtlich noch nicht. Münzen lügen nicht: Im westlichen Teil des arabischen Reiches wurden weiterhin römische Münzen mit Kaiserbild verwendet, manchmal sogar mit drei Kaisern. In Persien kursierten persische Münzen mit Kaiserbild und einem Feueraltar mit zwei Priestern auf dem Revers. Bei Nachprägungen wurden Kreuze entfernt und islamische Formeln hinzugefügt, aber die Kaiserbilder blieben.
Der von 685 bis 705 regierende Kalif Abdul-Malik ließ sich als erster muslimischer Herrscher auf seinen Münzen darstellen: mit Schwert und Peitsche, damit jeder wüsste, was für eine Art Herrscher er sei. 696 ließ Abdul-Malik aber Golddinare nur mit Texten prägen. Sie enthielten einen Koranvers, das Glaubensbekenntnis und eine Jahreszahl. Woher dieser Sinneswandel kam? War der Kalif vielleicht verärgert, weil der (ost)römische Kaiser Justinian II. Münzen prägen ließ mit seinem eigenen Bildnis auf der einen und Jesus Christus mit dem Kreuz auf der anderen Seite? Das bleibt unklar, aber die neue Münze passte natürlich gut zu der Islamisierung, die der Kalif gerade in seinem Reich vorantrieb.
Viele der Hadithe entstanden in der Mitte des 8. Jahrhunderts, also in der heißen Phase des Bilderstreits unter den Christen. Aber die Bildlosigkeit des Islams ist älter. Sowohl im Felsendom in Jerusalem (692) als auch in der Großen Moschee von Damaskus (708-715) fehlen Abbildungen von Menschen oder Tieren gänzlich. Was hätte man auch abbilden können? Für die starken Symbolbilder des Christentums (Kreuz, Fisch, Gottesmutter, Apostel) hatte der Islam keine Entsprechungen.
Ob das islamische Bilderverbot mit dem Bilderstreit in der oströmischen Staatskirche in Verbindung steht? Streitpunkt für die Kirche war die Frage, ob und wie die Verehrung von Ikonen in Gotteshäusern zulässig sei. Gar nicht, sagte Kaiser Leo III. im Jahre 726. Der Staatsapparat und die Armee folgten ihm, während die Mönche und die einfachen Gläubigen die Verehrung der Ikonen verteidigten und weiterhin praktizierten.
Der bekannte Kirchenvater Johannes von Damaskus (etwa 675-750), der in der Nähe von Jerusalem lebte, also mitten im arabischen Reich, verfasste drei Traktate zur Verteidigung der Ikonenverehrung. Kaiser Leo ließ inzwischen Münzen nur mit Text prägen, was vermuten lässt, dass er Abdul-Malik nacheiferte. War das islamische Bilderverbot der Anlass für den christlichen Bilderstreit oder war es doch umgekehrt? So genau weiß es niemand, aber es ist klar, dass im Islam das Bilderverbot kein so wichtiges Thema war, während der christliche Bilderstreit dreißig Jahre lang die Gemüter erhitzte und im 9. Jahrhundert noch einmal aufflammte. Im Christentum haben am Ende die Ikonen gesiegt; im Islam eben nicht.
Das Bilderverbot galt jedoch nur im religiösen Kontext und wurde nicht einmal von allen Schriftgelehrten vertreten. In den Jagdschlössern der Umayyaden-Kalifen befanden sich profane Bilder und Statuen, sogar von nackten und halbnackten Frauen, und sie dürften auch sonst nicht gefehlt haben. Vereinfachend kann man sagen, dass an der Wand hängende oder hochstehende Bilder verboten sind, weil dann die Gefahr der Anbetung besteht; dass Bilder an öffentlichen Plätzen, wo gebetet wird, nicht erwünscht sind, da sie diese verunreinigen; und dass man an Gottes Stelle nichts schaffen wollen dürfe – was insbesondere die Bildhauerkunst verhinderte. Im privaten Bereich hingegen waren Abbildungen von Lebewesen normal.
Die Kirchen haben die Bildenden Künste im Laufe der Jahrhunderte stark gefördert, aber die Moschee hatte keine solche Funktion. Auch die Fürstenhöfe bestellten keine großen bildlichen Werke. Soweit ein Mäzenatentum existierte, förderte es Architektur und Arabesken; ansonsten nur kleinformatige Arbeiten.
Es finden sich traditionell viele Tier- und Menschenbilder als Dekoration auf Geschirr, als Illustrationen in Biologie- und Geschichtsbüchern, auf Textilien und Papier. Porträts und Gruppenszenen, sogar mit dem Propheten, unzählige Miniaturen in Büchern, Puppen für das Puppentheater und »Volkskunst«: Groschendrucke und Wandmalereien von der Pilgerreise nach Mekka. Je später, desto mehr Bildende Kunst, so scheint es; aber es kann auch sein, dass viel verlorengegangen ist. In späteren Jahrhunderten entstanden auch einzelne Malereien, vor allem in der Türkei, Persien und Indien.
Im 19. Jahrhundert ermöglichten die Lithografie und die Fotografie die Verbreitung von Bildern in großem Umfang. Die ältesten Fotos aus Konstantinopel und Kairo datieren von etwa 1850; die ersten Porträtfotos von der Arabischen Halbinsel von 1861. Von da an wollten alle geknipst werden und das Bilderverbot verschwand. Natürlich war es nötig, dies religiös zu begründen, aber das erwies sich als relativ leicht: Bei diesen neuen Bildern läge ja jeder Gedanke an Verehrung fern, und etwas kreieren taten die Fotografen ohnehin nicht, wo die Kamera das eigentliche Werk tat und das Abgebildete nur »wiedergab«. Das Fernsehen nahm die letzten Hemmungen weg. Nur in schwer islamistischen Kreisen wird das Bilderverbot noch durchgesetzt: Bis vor kurzem etwa bei extremen Wahhabiten – und nun wieder unter den Taliban in Afghanistan.
Der Arabist Dr. Wim Raven schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch-islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com