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Arabische Klassik

Ziemlich vulgär!

Feature
Grammophon
Foto: Foto: Jad Bechara

Im Libanon versucht eine Handvoll Klassikfreunde, ihre Landsleute für das musikalische Kulturerbe der Region zu begeistern. Puristen und Klangbastler sind sich indes nicht immer einig, was authentische ­arabische Musik eigentlich ausmacht.

Ein gut besuchter, schlicht gehaltener Klub im Industriegelände Beiruts. Im Inneren hievt ein träger Lastenaufzug nach und nach größere Gruppen junger Menschen in die von Stahlträgern gestützte Halle der »Grand Factory« mit Blick auf Beiruts nächtlichen Hafen. In einer Ecke führt ein unauffälliger Gang in einen weiteren, kleineren Raum. Auf der Bühne stehen drei junge Musiker Anfang 20, mehrere Dutzend Zuhörer tanzen davor. Die Luft steht, der Schweiß rinnt: eine Szene, die sich genauso in Berlin abspielen könnte, würden sich draußen nicht die chaotischen Straßen der libanesischen Hauptstadt winden und drinnen eine Vielzahl klassischer arabischer Musikinstrumente ertönen.

Mithilfe der Rohrflöte Nay, der Kurzhalslaute Oud und der Kastenzither Kanun, ergänzt durch ein modernes Mischpult und mehrere Verstärker, erzeugen die jungen Männer von Tarabeat einen Klangmix, der die Zuhörer nachhaltig zu beeindrucken scheint. Immer freier bewegen sie sich zu der Musik, lachen, tuscheln, tanzen. Was keiner im Publikum ahnt: Hinter der ungewöhnlichen Mischung aus elektronischen und klassischen arabischen Elementen steht mehr als ein musikalisches Experiment.

Flötist
Foto: Jad Bechara

Mit dem neuartigen Einsatz der traditionellen Musik betreiben die jungen Künstler kulturelle Aufklärung. Sie wollen eine Alternative zur Pop- und Volksmusik bieten, die der Großteil der Libanesen als repräsentativ für die eigene Musikkultur hält – ein Phänomen, das sich in vielen arabischen Ländern beobachten lässt. Was der arabischen Musikkultur wirklich zugrunde liegt, ist den meisten weitestgehend unbekannt: eine umfangreiche Tradition der Klassik, die in vorislamischen Zeiten entstand. Nicht viele Libanesen wissen um diese vergessenen Lieder und sind dementsprechend erstaunt, wenn sie in einem Beiruter Klub zufällig auf deren ungewohnte und doch entfernt vertraute Klangelemente stoßen.

Kamil Feghali hat es genau auf diesen Effekt angelegt. Er ist einer der drei jungen Männer von Tarabeat, die die klassischen Klänge so ungewohnt in ihre elektronische Musik integrieren. »Wir kreieren modernen Sound, der aber die Kultur und Theorie der klassischen arabischen Musik respektiert«, sagt er. Mit Leichtigkeit wechselt Feghali zwischen dem Mischpult und der arabischen Flöte Nay, die beim Spielen in seinem dunklen Vollbart versinkt. »Für mich spiegelt klassische arabische Musik die Großartigkeit und das Potenzial der arabischen Kultur wider«, sagt er.

Während die klassische Musik heute großen Raum in seinem Leben einnimmt, spielte sie noch vor einigen Jahren keine Rolle für ihn. Wie viele libanesische Christen verschuldeten sich seine Eltern, um ihren Sohn auf eine französische Privatschule zu schicken. Auf das Erlernen von Hocharabisch wurde dort wenig Wert gelegt, umso mehr dafür auf die ehemalige Mandatssprache Französisch. »Arabische Kultur hatte damals etwas Vulgäres für mich«, erinnert er sich. Erst als Feghali gegen den Willen seiner Familie Film statt Wirtschaft studierte, traf er an der Universität in Beirut Menschen, die anders dachten – und glaubten. Nach wenigen Wochen lernte er nicht nur neue Ansichten zur arabischen Kultur und Politik, sondern auch seine ersten muslimischen Freunde kennen.

Einer von ihnen ist Mustafa Said. Er komponiert und interpretiert selber seit Jahren moderne klassische arabische Musik. »Wenn die Menschen diese Musik vergessen, entgeht ihnen nichts Geringeres als die eigene Kultur«, meint er. 2009 gründete er daher gemeinsam mit dem libanesischen Geschäftsmann und Musiksammler Kamal Kassar die private Musikstiftung »Amar«. Die meisten arabischen Länder hätten Archive, in denen Aufnahmen und Aufzeichnungen klassischer arabischer Musik gelagert seien, so Said. Forschung und Digitalisierung blieben dort jedoch auf der Strecke. Amar hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, solche Aufnahmen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sammeln, digital zu speichern und später öffentlich zugänglich zu machen. Während der millionenschwere Geschäftsmann Kassar für die Finanzierung des Privatprojekts sorgt, übernimmt der Künstler Said die wissenschaftliche Leitung.

Da Said zu sehr leidenschaftlicher Musiker ist, um es bei der wissenschaftlichen Arbeit zu belassen, lädt er nach Feierabend oft befreundete Musiker in die Stiftungsräumlichkeiten im kleinen Dorf Qurnet Al-Hamra in den Hügeln über Beirut ein. Neben alten Tonaufnahmen ertönt dort auf diese Weise ab und zu auch Live-Musik. Wenn die Freunde erst einmal mit ihren Instrumenten zwischen den Archivschränken sitzen, kann es sofort losgehen.

Vinyl
Die private Musikstiftung »Amar« hat es sich zur Aufgabe gemacht, Aufnahmen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sammeln, zu digitalisieren und später öffentlich zugänglich zu machen. Kamal Kassar, Naji Zaha

Die Musiker brauchen keine Noten, sie einigen sich auf eine der verschiedenen Makamat der arabischen Musik, welche am ehesten als Skalen von sieben ausgewählten Tönen beschrieben werden können. Die Makamat dienen den Künstlern als eine Art Improvisationsrahmen, den sie mit Leidenschaft bis an seine Grenzen austesten. So breitet sich in den Stiftungsräumen schon bald ein dynamischer Klangteppich aus, gewebt aus nuancierten, kleinsten Tonschritten, immer wieder ergänzt von spontanem Gesang der Musizierenden oder vereinzelten Solo-Improvisationen. Stellt sich einer der Musiker besonders gut an, wird dies von Zuhörern und Mitmusizierenden prompt belohnt. Eine gute Improvisation scheint für sie nicht nur hörbar, sondern auch zu schmecken zu sein: Mitten im Stück wird geschmatzt, geseufzt und gejubelt. Wie sich die Anerkennung auch äußert – an einem gelungenen Abend ist während des Konzerts nicht nur die Musik selbst zu hören.

Doch außerhalb der kleinen Musikszene messen nur noch wenige Libanesen der klassischen arabischen Musik einen solch hohen Stellenwert bei – ein Umstand, unter dem die kleine einheimische Szene leidet. Einer der größten Kritikpunkte der wenigen Musiker und Liebhaber ist die unzureichende Förderung von staatlicher Seite. Wie hoch diese aktuell ausfällt, ist auch auf mehrmalige Anfrage beim libanesischen Kulturministerium nicht in Erfahrung zu bringen. ­Allerdings gibt die Behörde an, das nationale Musikkonservatorium in Beirut zu finanzieren. Dieses unterhält eine westliche und eine »orientalische« Abteilung klassischer Musik, jeweils mit einem Orchester und einem Konzert pro Woche. Zum Vergleich: Dem stehen in Deutschland bei 16-mal so vielen Einwohnern rund 60-mal so viele staatlich finanzierte Orchester gegenüber. Im Jahr 2013 brachten diese 9.132 – größtenteils klassische – Konzerte zur Aufführung.

Unabhängig von der Finanzierung haben Verfechter klassischer arabischer Musik ein weiteres, ganz grundsätzliches Problem mit der staatlichen Förderung: die Authentizität. So geht die Ausgestaltung der arabischen Abteilung des libanesischen Konservatoriums auf eine Tradition arabischer Klassik zurück, die Mitte des 20. Jahrhunderts von einer Gruppe einflussreicher arabischer Intellektueller geprägt wurde. Diese sahen die europäische Kultur als der eigenen überlegen an und veranlassten eine systematische »Verwestlichung« der eigenen Musik, die sich unter anderem darin äußerte, dass arabische Musik nunmehr hauptsächlich durch Orchester mit westlicher Instrumentation aufgeführt wurde.

Allerdings unterscheidet sich die authentische klassische arabische Musik von ihrem westlichen Pendant nicht nur in ihrer Monofonie, dem eigenen Tonsystem oder der prominenten Rolle von Improvisation und Gesang. Sie wird außerdem in kleinen Ensembles, den Tacht, und mit traditionellen Instrumenten gespielt. Große Besetzungen und westliche Instrumente hingegen sind ihr fremd, was die kritische Einstellung einiger klassischer Musiker zum »orientalischen« Orchester erklärt. Da sich Ensembles, die sich um eine authentische Interpretation arabischer klassischer Musik bemühen, im Libanon komplett selbst finanzieren müssten, bleibe die Zahl wirklich authentischer Aufführungen im einstelligen Bereich pro Jahr, kritisiert Komponist und Stiftungsleiter Said. Die meisten klassischen Musiker seien daher darauf angewiesen, mit einem Zweitberuf zusätzliches Geld zu verdienen.

Viele Araber wird es verwundern, dass Puristen wie Said selbst überregionalen Ikonen wie der ägyptischen Sängerin Umm Kulthum (1904 – 1974) vorwerfen, die arabische Klassik nicht authentisch genug zu interpretieren. Die stimmgewaltige Ägypterin ließ ihren klassisch-arabischen Gesang nicht selten von Orchestern begleiten und entfernte sich mit wachsendem Erfolg auch auf anderen Gebieten immer mehr vom authentisch-klassischen Lied. An dieser Stelle trennen sich, wie so oft, die Ansichten von Modernisten und Konservativen. Während strenge Verfechter jegliche Veränderung als nicht authentisch verurteilen, begrüßen Musiker wie Kamil Feghali die Mittlerrolle von Interpreten wie Umm Kulthum. Ähnlich wie die große Sängerin setzt der junge Musiker da­rauf, klassisch arabische Klänge in einem neuen Kontext aufzubereiten und sie so einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Vertreter des konservativen Lagers wie Mustafa Said hingegen halten sich streng an Theorie und Praxis des traditionellen Tacht.

So viel beide Seiten auch trennen mag, sie haben eines gemeinsam: In erster Linie liegt ihnen der Erhalt der klassischen arabischen Musik am Herzen. So ist neuerdings auch Kamil Feghali in Saids Stiftung »Amar« tätig. Zu seinen Aufgaben gehört es, alte Tonträger wie Kassetten, Schallplatten, aber auch Phonographenwalzen aus Wachs einzulesen und zu digitalisieren, die Aufnahmen tontechnisch zu verbessern und schließlich zu katalogisieren. Wenn er mit seinen großen Kopfhörern an einem der kleinen Schreibtische der Stiftung sitzt und den alten Aufnahmen lauscht, vergisst er schnell alles andere um sich herum. Die neu gewonnenen Eindrücke, Melodien und Rhythmen finden später nicht selten Eingang in seine eigenen Kompositionen.

Feghali ist sich dabei durchaus bewusst, dass Stiftungschef Said wenig für seine elektronische Interpretation klassischer Musik übrig hat. »Mustafa setzt auf strikt klassische Kompositionen, ob die Leute das nun hören wollen oder nicht«, meint er. Doch trotz aller Gegensätze respektieren sich die Musiker – und so landet auch Kamil Feghali das ein oder andere Mal am Ende eines Arbeitstages mit seiner Nay in Saids Runde musizierender Freunde.

Mit von der Partie sind dort oft auch Ghassan Sahhab und seine Kanun. Der Dozent für arabische Musikgeschichte an der Beiruter Antonin-Universität musiziert nicht nur, sondern beschäftigt sich auch aus der Perspektive des Historikers mit klassischer Musik. Sahhab sieht die musikalische »Verwestlichung« klassischer arabischer Musik und das Vergessen um ihre Wurzeln unter anderem als Resultat eines starken westlichen Einflusses auf die arabische Kultur. »Es fing mit ausländischen Schulen an und zog sich bis zum französischen Mandat und westlichen kulturellen Innovationen wie dem Tonkino hin. Viele Libanesen denken seitdem, dass ihre Kultur nichts wert sei«, sagt er.

Allerdings erwies sich in der Geschichte klassischer arabischer Musik nicht nur ihr westliches Pendant als Herausforderung. Aus Saids und Sahhabs Sicht stagnierte die arabische Kunst schon unter der 400 Jahre währenden Herrschaft der Osmanen. Und nach einer Phase der Wiedergeburt zwischen der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts hätten arabische Nationalisten wie General Gamal Abdel Nasser die Kunstform in den 1950er Jahren abermals kleingehalten. »Die Nationalisten verurteilten die Klassik als Musik der alten Königshäuser und versuchten, sie aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen«, sagt Stiftungsleiter Said. Heute sind es nicht zuletzt extreme Formen des Islam, die die alte Musiktradition durch Verbot gefährden. So wurde zum Beispiel unter der Herrschaft der Taliban in Afghanistan die Aufführung von Musik unter Strafe gestellt.

Mustafa Said geht es nicht bloß um den Verlust von Kulturgut: »Klassische Musik ist ein wichtiger Faktor, um Identität zu bilden und Menschen zu vereinen«, findet er. Die libanesische Dozentin und Journalistin Jana Nakhal stimmt ihm zu: »Unsere Kultur, unsere Zugehörigkeit – das machen zu einem bedeutenden Teil die Bildenden Künste aus.« Mit dieser identitätsstiftenden Kraft verbinden Said, Nakhal und andere libanesische Kulturschaffende eine konkrete Hoffnung: »Die Rückbesinnung auf eine gemeinsame kulturelle Identität würde dieser Region eine Möglichkeit bieten, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln«, so Nakhal. Tatsächlich ist die arabische Klassik über Grenzen hinweg sehr homogen und weist zahlreiche Parallelen zur türkischen und persischen Musiktradition auf.

Doch noch ist die klassische Musik, ob streng ausgelegt oder neu interpretiert, lange nicht bekannt genug, um solch eine friedensstiftende Kraft zu entfalten. Initiativen, etwas daran zu ändern, sind bisher Mangelware. »Wir selbst sind der Grund, warum es so schlecht um die klassische arabische Musik bestellt ist«, resümiert Musikhistoriker Ghassan Sahhab. Bis sich auf anderen Ebenen etwas bewege, sei die einfache Antwort auf ein komplexes Problem daher erst einmal: »Einfach mehr Musik machen! Wir müssen die neue Generation dazu bringen, diese Lieder wieder zu hören, zu singen und zu spielen«, so Sahhab.

Musiker
Die jungen Männer von Tarabeat erzugen mit Hilfe von klassisch arabischen Instrumenten einen Klangmix, der die Zuhörer im Beiruter Club »Grand Factory« nachhaltig zu beeindrucken scheint. Jad Bechara

Kamil Feghali nimmt sich diese Devise zu Herzen und kann mit seiner Band schon erste Erfolge verbuchen. Nach dem Konzert im Beiruter Industriegebiet sei ein junger Mann aus dem Publikum auf ihn zugekommen. »Er meinte, dass er jetzt anfangen würde, sich mehr mit klassischer arabischer Musik zu beschäftigen«, sagt Feghali ein wenig stolz. Ob seine Bemühungen das Verhältnis der Libanesen zu ihrer klassischen Musik eines Tages nachhaltig verändern oder gar die zerrissene Region näher zusammenbringen können, weiß er nicht. Doch zumindest gibt es jetzt einen Hörer mehr – und vielleicht ein vergessenes Lied weniger.

Von: 
Clara Neubert
Fotografien von: 
Jad Bechara

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