Der Londoner Fotograf Kalpesh Lathigra erkundet in einer Berliner Ausstellung Fragen von Identität und Heimat.
Wie hätte das Leben sein können, wenn seine Familie nicht im Laufe von drei Generationen von Indien nach Ostafrika und dann nach Großbritannien ausgewandert wäre? Wo und wie würde er leben, wen lieben, oder sich auf der sozialen Leiter in der streng hierarchischen indischen Gesellschaft einordnen?
Für die Austellung »Mémoire Temporelle« begab sich der Londoner Fotograf Kalpesh Lathigra auf eine intime Reise nach Indien und auf die Suche nach dem Kern des eigenen Seins. Die Ausstellung in der Berliner Galerie Anahita Contemporary ist Lathigras erste Solo-Schau in Europa.
In großförmigen Porträts, Stadtszenen und atmosphärischen, verspielten Stillleben, deren mannigfaltige Bedeutungsebenen sich erst nach und nach erschließen, nährt sich Lathigra den komplexen Themenfeldern Identität, Heimat und Herkunft aus Indien heraus an. Einen britischen Blickwinkel hatte der mit dem »World Press Photo Award« ausgezeichnete Fotograf angesichts des Brexits schon vor vier Jahren im Auftrag der ZEIT mit einer Porträtreihe gefunden, die subtilen Brüchen britischer Normalität nachspürte.
Obwohl seine Familie ursprünglich aus dem im äußersten Westen Indiens gelegenen Bundesstaat Gujarat stammte, suchte sich Lathigra die Millionenmetropole Mumbai für sein künstlerisches Gedankenexperiment aus. »Ich wollte, dass es ein Ort ist, an dem ich das Gefühl habe, dass ich dort hätte geboren werden und leben könne«, sagt Lathigra dazu im Gespräch mit zenith.
»Und Mumbai repräsentiert das. Es ist wie New York. Ein Ort, an dem diese kaum greifbare Last des Nicht-Zugehörens aufgehoben ist und man träumen kann. Es ist eine romanhafte Vorstellung, die mit ihrer eigenen Melancholie gefüllt ist. Die Verbindung ist also nicht greifbar, aber sie fühlt sich an wie ein Zuhause. Ein Ort, an dem ich mit mir selbst im Reinen bin.«
Doch wie sich annähern an ein vertrautes und doch fremdes Land? Wo einordnen in einer vielschichtigen, auch harten Millionenmetropole? Und wie fotografieren? »Ich bin mit diesem westlichen Bild von Indien – ich nenne es den National-Geographic-Blick – in Mumbai angekommen«, sagt Lathigra. Ein einfach guter Schnappschuss lauere in der Stadt an jeder Ecke. Doch das interessierte den preisgekrönten Fotografen nicht.
Stattdessen einen eigenen Blick finden, aufgehen in scheinbar profanen Alltäglichkeiten wie der Flasche der berühmten indischen Cola-Marke »Thumps Up«, die sich bis heute dem globalen Siegeszug von Pepsi und Coca-Cola widersetzt und so zu einem Symbol Indiens geworden ist (mittlerweile allerdings von Coca-Cola aufgekauft wurde). Doch einen alternativen Alltag zu imaginieren, stellte den Künstler vor ungeahnte Herausforderungen.
Aufgewachsen sei er als ein stolzer Ost-Londoner Arbeiterjunge, doch in Indien musste Lathigra sich auf einmal auch mit der Frage der sozialen Zugehörigkeit konfrontieren. Denn, auch wenn er stolz von einem Trip mit einer befreundeten Hip-Hop Crew in die Slums von Dharavi erzählt, Street Credibility, die hatte er in Mumbai nicht. Stattdessen öffneten sich dem Londoner Fotografen in Mumbai die Pforten der luxuriösen Apartments der liberalen und kulturellen Elite.
Ob das auch so gewesen wäre, wenn seine Vorfahren in Indien geblieben wären? Wo hätte sich die alte Juweliersfamilie im aufstrebenden, hyperkapitalistischen Moloch Mumbai eingeordnet – als reiche Juweliere der Bollywood-Stars oder als Polierer in den Werkbänken der Stadt? Es sind Fragen nach der eigenen Positionalität, mit denen sich Lathigra bei seinen Aufenthalten konfrontiert sah.
Und so schwingt in seinen Fotografien im Hintergrund auch ein Gefühl von Verlust durch. Eine tieftraurige und doch lebensbejahende Melancholie, welche weltgewandten Hafenstädten so eigen ist. Städten, die gerade angesichts ihrer wohlinformierten Weltverbundenheit ahnen, dass es immer nur ein richtiges Leben im Falschen geben kann. Ein Gefühl, das an anderen Ufern – etwa als Hüzün in Istanbul oder Saudade in Lissabon – ganze kulturelle Gattungen geprägt hat.
Doch am Ende gefiel es Lathigra in Mumbai so gut, dass die Grenzen zwischen Kunst und Realität irgendwann zu verschwimmen begannen. Er könne sich durchaus vorstellen, ganz nach Indien zu ziehen. Neulich, erzählt der Künstler, habe er sich bereits dabei ertappt, nach Schulen für seine Tochter zu suchen.
Die Austellung »Kalpesh Lathigra – Mémoire Temporelle« ist noch bis zum 5. Juni 2021 in der Galerie Anahita Contemporary in Berlin zu sehen.