Die Linken und der Nahe Osten, das war schon ein immer kompliziert. Liegt das an den Vordenkern des Kommunismus?
Die deutschsprachige Beschäftigung mit dem Nahen Osten, der lange Zeit mit dem Osmanischen Reich gleichgesetzt wurde, war im 19. Jahrhundert vor allem auf den akademischen wie literarischen Bereich beschränkt. Einen wichtigen Grund für die zeitgenössische Stagnation des Nahen Ostens sahen Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) im Islam und dessen Geboten. Der sei, wie jegliche Religion, ohnehin »Opium des Volkes«.
Am 26. Mai 1853 schreibt Engels an Marx: »Was den Religionsschwindel angeht, so scheint aus den alten Inschriften […] (hervorzugehen), dass Mohammeds religiöse Revolution, wie jede religiöse Bewegung, formell eine Reaktion war, vorgebliche Rückkehr zum Alten, Einfachen. […] Andrerseits hat der Islam, durch Beibehaltung seines spezifisch orientalischen Zeremoniells, selbst sein Ausbreitungsgebiet auf den Orient und das eroberte und von arabischen Beduinen neu bevölkerte Nordafrika beschränkt: hier konnte er herrschende Religion werden, im Westen nicht.«
Im Jahrhundert des europäischen Kolonialismus vermochten sich Marx und Engels allerdings nicht vorzustellen, dass nach dem Zusammenbruch der britischen und französischen Herrschaft in Asien und Afrika neue, differenziertere Formen der Ausplünderung der »Dritten Welt« gleichzeitig den Siegeszug des Islam im Westen begünstigen würde.
Wie die Abenteuerschriftsteller ihres Jahrhunderts spannen Marx und Engels nicht nur an neuen Mythen und Fälschungen mit, sondern fielen gleichermaßen auf die alten herein.
Insbesondere durch Engels’ Literaturstudien war ihnen zwar bewusst, dass Länder- oder ethnische Grenzen an sich kein Hindernis für die Lehre Mohammeds darstellen, denn der »Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige.« Das alles glaubten sie allerdings auf den traditionellen islamisch geprägten Kulturkreis beschränkt.
Die Darlegungen von Marx und Engels fußten auf jahrzehntelangen akribischen Studien in Archiven und Bibliotheken, wobei ihre klassische Bildung und ihre permanente Lernbereitschaft sie selten im Stich ließen. Das bewahrte sie natürlich nicht vor gravierenden Irrtümern und Fehleinschätzungen.
Marx, ein ansonsten scharfzüngiger Kritiker sozialer Missstände, unterschätzt vor allem die ökonomische und politische Rolle der Sklaverei im Islam. In seinem Hauptwerk »Das Kapital« wird sie lediglich am Rande als Haussklaverei zur Luxusparade verharmlost. Wie die Abenteuerschriftsteller ihres Jahrhunderts spannen Marx und Engels zudem nicht nur an neuen Mythen und Fälschungen mit, sondern fielen gleichermaßen auf die alten herein.
Vergeistigte Vorreiter schöner neuer Welten waren plötzlich nichts weiter als bezahlte Lohnarbeiter. So schweifte ihre romantische Sehnsucht in zeitlich oder räumlich weit entfernte Regionen, ins Mittelalter, den Wilden Westen oder den Orient.
Wie zum Beispiel Karl May glaubten auch sie noch an das »Testament Peters des Großen«. In diesem Papier, die Erfindung eines französischen Autors, das noch bis in die NS-Zeit zu antisowjetischer Propaganda benutzt wurde, hatte der Zar angeblich die Zerschlagung des Osmanischen Reiches und die Erhebung Konstantinopels zur neuen russischen Reichshauptstadt als vornehmste Aufgabe seiner Erben verfügt. Marx reduziert die »orientalische Frage« ohnehin ganz auf die russischen Ambitionen: »Der Zar […] verfolgt den Plan seiner Vorfahren, Zutritt zum Mittelmeer zu bekommen. Nacheinander trennt er die entferntesten Teile des Ottomanischen Reiches vom Körper ab, bis endlich Konstantinopel, das Herz, zu schlagen aufhören.«
In eindrucksvoller Prägnanz bringen Karl Marx und Friedrich Engels hingegen im 1848 erschienenen »Manifest der kommunistischen Partei« die damalige politische Situation auf den Punkt: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹.«
Die nackte Realität des weltumspannenden Siegeszuges des Kapitals hatte fortan Auswirkungen auf das Schreiben über den Nahen Osten. Autoren, vor allem im ökonomisch rückständigen Deutschland, waren verunsichert über den Einbruch des schnöden Kommerzes in kleinstädtische Biedermeierwelten, pommersche Rittergüter oder verschlafene Erzgebirgsnester. Vergeistigte Vorreiter schöner neuer Welten waren plötzlich nichts weiter als bezahlte Lohnarbeiter. So schweifte ihre romantische Sehnsucht in zeitlich oder räumlich weit entfernte Regionen, ins Mittelalter, den Wilden Westen oder den Orient.
»Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.«
Für dessen reale Bewohner hatten der Sieg des Kapitalismus und die Effizienz seiner Schwertträger wesentlich unangenehmere Folgen als die Zerstörung von Wolkenkuckucksheimen oder Mondschlössern. Über Inder oder Malayen, Chinesen oder die indigenen Völker Amerikas raste ein Orkan entfesselter Profitsucht, denn: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« Verließen sich die Völker des Orients auf die Überlegenheit ihrer altehrwürdigen Kultur, die Tapferkeit ihrer Krieger und weit zurückliegende Siege über Europa, so mussten sie den verderblichen, ja tödlichen Irrtum solcher Illusionen bald genug einsehen.
Denn erst die Bourgeoisie »hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge. […] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt.«
»Immer, wenn der revolutionäre Sturmwind für einen Augenblick sich gelegt hat, kann man sicher sein, eine ständig wiederkehrende Frage auftauchen zu sehen: die ewige ›Orientalische Frage‹.«
Im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts prallten die Sendboten der Bourgeoisie, gleich ob als Militärs, Händler oder Abenteurer, ja tatsächlich frontal auf eine Gesellschaft buntscheckigster Feudalbande, auf eine Fülle persönlicher Verpflichtungen und Abhängigkeiten und auf einen den Europäer faszinierenden, mittelalterlich scheinenden, Ehrenkodex. Patriarchalische Verhältnisse, die sich seit den Zeiten des Alten Testaments kaum geändert hatten, kollidierten nun mit schnödem Profitdenken.
Antibritische Aufstände auf dem indischen Subkontinent und Versuche politischer Einflussnahmen auf die Geschicke des »kranken Mannes am Bosporus« boten Stoff für eine völlig neue Art von Literatur. Vor allem die Barden des Empire – das Paradebeispiel ist Rudyard Kipling – verherrlichten den Heldenmut seiner Offiziere, Forscher und Entdecker. Deutsche Autoren, wie Sir John Retcliffe, das Pseudonym von Hermann Goedsche, unterzogen das vorgeblich »perfide Albion« und seine Praktiken im Gegenzug härtester Kritik.
In den 1880er Jahren schickte schließlich der fabulierende Sachse Karl May seinen Helden Kara Ben Nemsi auf eine Abenteuerreise, die ihn quer durchs Osmanische Reich, von Nordafrika bis auf den Balkan führt. Seit diese zunächst in einer Zeitschrift veröffentlichten Geschichten ab 1892 in Romanform erscheinen, prägten Titel wie »Durchs wilde Kurdistan« oder »Von Bagdad nach Stambul« für Generationen das Bild des islamischen Kulturkreises im deutschsprachigen Raum.
Das 19. war aber nicht nur das Jahrhundert der »orientalischen«, sondern auch der »sozialen« Frage, das Jahrhundert der Revolutionen. Zwangsläufig standen die Ereignisse im Nahen Osten in enger Beziehung zu den politischen Umbrüchen in Europa. Karl Marx vermerkt am 22. März 1853: »Immer, wenn der revolutionäre Sturmwind für einen Augenblick sich gelegt hat, kann man sicher sein, eine ständig wiederkehrende Frage auftauchen zu sehen: die ewige ›Orientalische Frage‹.«
Die »Orientalische Frage« spitzte sich vor dem Hintergrund des Krimkrieges einmal mehr zu. Der eigentliche Hintergrund war das Tauziehen der Großmächte um Einflussbereiche im schwächelnden Osmanischen Reich.
Und die spitzte sich vor dem Hintergrund des Krimkrieges (1853-1856) einmal mehr zu. Wenige Jahre zuvor waren die großen revolutionären Bestrebungen zerschlagen worden. Der äußere Anlass ähnelt dem des Ersten Kreuzzuges: Wieder ging es um den Zugang zur Grabeskirche, die über der vermutlichen Kreuzigungsstätte Jesu errichtet ist. Der eigentliche Hintergrund war aber das Tauziehen der Großmächte um Einflussbereiche im schwächelnden Osmanischen Reich.
Der Streit zwischen dem neonapoleonischen Frankreich und dem zaristischen Russland weitete sich schnell zum Krieg zwischen der Türkei, Frankreich, England sowie Piemont-Sardinien auf der einen und Russland auf der Gegenseite aus. Schauplätze des Ringens waren der Balkan, der Kaukasus und die Halbinsel Krim.
Auf russischer Seite war als heute prominentester Kriegsteilnehmer 1854 ein damals noch völlig unbekannter Artillerieoffizier namens Lew Tolstoi dabei. Seine Erlebnisse wird er später in den »Sewastopoler Erzählungen« reflektieren. Für ein sensationshungriges deutsches Publikum schilderte Sir John Retcliffe, als Journalist ein Kollege Theodor Fontanes, in seinem Epos »Sebastopol. Historisch-politischer Roman aus der Gegenwart« die Ereignisse mit den starken Pinselstrichen des Sensationsromans. Im Unterschied zu Tolstoi stützte er sich wie Marx und Engels nur auf Quellen aus zweiter Hand.
1897 veröffentlichte Marx’ Tochter Eleanor die den Krimkrieg betreffenden Teile der Zeitungsbeiträge von Marx und Engels. Aktuell hatte ja das Engagement des jungen deutschen Kaisers Wilhelm II. im Osmanischen Reich die europäischen Interessenkonflikte um die Region erneut verschärft.
Mit Ausbruch des Krimkrieges widmeten sich nämlich auch die beiden Denker dem Konflikt. Viele europäische Zeitungen sperrten sich allerdings gegen Beiträge der beiden, die das von ihnen propagierte System stürzen wollte. So schrieben Marx und Engels zwischen 1854 und 1861 eine Reihe von Beiträgen für die liberale New York Daily Tribune. Die Tribune war nicht irgendein Emigrantenblatt, sondern das einflussreichste Sprachrohr des liberalen US-Bürgertums. Sein Begründer Horace Greely machte die Losung »Go West!« populär, indem er den Aufruf zur Besiedlung des »Wilden Westens« jahrelang auf der ersten Seite seiner Zeitung prangen ließ.
Mit ihren Kolumnen prägten Marx und Engels die Meinung maßgeblicher Kräfte der Nordstaaten-Bourgeoisie. Die den Krimkrieg betreffenden Teile der Zeitungsbeiträge von Marx und Engels wurden 1897 von Marx’ Tochter Eleanor und seinem Schwiegersohn zusammengefasst und in einem separaten Band unter dem Titel »The Eastern Question« veröffentlicht. Deren Aktualität war noch immer ungebrochen. Aktuell hatte ja das Engagement des jungen deutschen Kaisers Wilhelm II. im Osmanischen Reich die europäischen Interessenkonflikte um die Region erneut verschärft.
Engels weist bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nach, dass das Konzept der Großmächte nach dem Wiener Kongress, das Osmanische Reich wie das Europa der Monarchien in einer Art Gleichgewicht zu halten, von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Zu gewaltig waren die ökonomischen Umwälzungen, die vor Ländergrenzen keinen Halt machten.
Die Beschreibung der Untertanen des Sultans erinnert an die Stereotype eines Karl May. Wie bei dem phantasievollen Sachsen wimmelt es auch in den Artikeln der beiden Rheinländer von brutalen Arnauten und verbrecherischen Griechen.
Auf wenigen Seiten gibt er den amerikanischen Lesern am 7. April 1853 einen Überblick über die Entwicklung der Konflikte über die Jahrhunderte und erläutert insbesondere die konkurrierenden Interessen Großbritanniens und Russlands im Streit um den wohl demnächst anfallenden Nachlass der Pforte. Engels schließt sich der vorherrschenden Meinung vom »kranken Mann« – er vergleicht das Osmanenreich noch drastischer mit einem Pferdekadaver – vorbehaltlos an.
Die Beschreibung der Untertanen des Sultans erinnert an die Stereotype eines Karl May. Wie bei dem phantasievollen Sachsen wimmelt es auch in den Artikeln der beiden Rheinländer von brutalen Arnauten und verbrecherischen Griechen – »die verschlagenen Zwischenträger zwischen zwei Parteien […] die korrupteste Bande gewissenloser […] Söldling.« Dazu gesellt sich eine träge Masse und der fanatisierte Mob Istanbuls. Schließlich stützte man sich – weder Marx und Engels noch ein Karl May schrieben mit Ortskenntnis – auf ähnliche Quellen, wie den Assyrologen Austen H. Layard.
Marx und Engels hielten nichts von russischen Großmachtträumen, die sie als Haupthindernis europäischer Revolutionen ausgemacht hatten. So begrüßten sie regelrecht die sich aus der »orientalischen Frage« ergebenden Komplikationen zwischen den Großmächten, da dies die Eskalation beschleunigte: »Die revolutionäre Partei kann sich zu diesem Stand der Dinge nur gratulieren.«
»Es sind alles religiös verkleidete Bewegungen, entspringend aus ökonomischen Ursachen; aber, auch wenn siegreich, lassen sie die alten ökonomischen Bedingungen unangerührt fortbestehen.«
In seinem Aufsatz »Zur Geschichte des Urchristentums« analysiert Friedrich Engels die großen religiösen Umwälzungen und Kriege im Zeichen des Kreuzes. In einer Fußnote bemerkt er: »Der Islam ist eine auf Orientalen, speziell Araber zugeschnittene Religion, also einerseits auf handel- und gewerbetreibende Städter, andrerseits auf nomadisierende Beduinen. Darin liegt aber der Keim einer periodisch wiederkehrenden Kollision. Die Städter werden reich, üppig, lax in Beobachtung des ›Gesetzes‹. Die Beduinen, arm und aus Armut sittenstreng, schauen mit Neid und Gier auf diese Reichtümer und Genüsse. Dann tun sie sich zusammen unter einem Propheten, einem Mahdi, die Abgefallnen zu züchtigen, die Achtung vor dem Zeremonialgesetz und dem wahren Glauben wiederherzustellen und zum Lohn die Schätze der Abtrünnigen einzuheimsen.«
»Nach hundert Jahren stehn sie natürlich genau da, wo jene Abtrünnigen standen: eine neue Glaubensreinigung ist nötig, ein neuer Mahdi steht auf, das Spiel geht von vorne an. So ist’s geschehn von den Eroberungszügen der afrikanischen Almoraviden und Almohaden nach Spanien bis zum letzten Mahdi von Chartum, der den Engländern so erfolgreich trotzte. […] Es sind alles religiös verkleidete Bewegungen, entspringend aus ökonomischen Ursachen; aber, auch wenn siegreich, lassen sie die alten ökonomischen Bedingungen unangerührt fortbestehen. Es bleibt also alles beim alten, und die Kollision wird periodisch.«
Diese Zeilen schrieb Engels 1894. Vier Jahre später stürzten britische Truppen unter Lord Kitchener mit dem »Kalifat von Omdurman« den ersten islamisch-fundamentalistischen Gottesstaat neuerer Geschichte. Heute ist der Sudan erneut Schauplatz blutiger Bürgerkriege. Marx und Engels irrten also insbesondere in der Einschätzung des Islam als eine vor allem auf den arabischen Halbmond beschränkte, regional begrenzte, Religion. Ihr Zeitgenosse Karl May erwies sich in diesem Falle übrigens als weitsichtiger:
»Der Riese Islam, dessen mächtige Gestalt auf europäischer, asiatischer und afrikanischer Erde ruht, fürchtet sich nicht vor der scheinbaren Übermacht des Abendlandes. Das Kismet, an welches er glaubt, ist unwiderstehlich im Angriff und von unendlicher Ausdauer. Es wiegt die Übermacht der europäischen Waffen auf. Gebt dem Morgenland gute Führer, so wird es siegen. Und siegt es nicht, so wird sein Untergang zugleich der eure sein.«
Dr. Thomas Kramer, Literaturwissenschaftler und Ausstellungsgestalter, lehrt als Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.