Sunnit – Schiit. Geht nicht auch beides zusammen? In Zeiten des Hasses werden gemischte Ehen schnell zu einer politischen Aussage.
Am Ende finden Niamh und Sofia, wonach sie so lange gesucht haben: die perfekte Harmonie zwischen Sunniten und Schiiten. Die beiden Mädchen sind quer durch Großbritannien gereist, um herauszufinden, warum es Sunniten und Schiiten derzeit so schwer miteinander haben. Sie haben Geistliche befragt, Gelehrte und gewöhnliche Passanten in der »Speakers’ Corner« am Hyde Park in London.
Schließlich kommen sie zu einem jungen Paar. Sie ist Schiitin, er Sunnit – sie sind glücklich verheiratet und frisch gebackene Eltern. Die beiden erzählen viel von Gemeinsamkeiten. Über kleine Unterschiede etwa beim Gebet können sie lachen: »Ich glaube ja nicht, dass Gott am Jüngsten Tag sagt: ›Tut mir leid, Leute. Falsche Tür, ihr hattet die Hände beim Gebet an der falschen Stelle‹«, erzählt die Frau. Auf Sofias Frage, was denn der kleine Sohn sei, Sunnit oder Schiit, antwortet ihr Ehemann: »Wir wollten ihm kein Label geben.«
Die achtjährige Sofia und ihre zwei Jahre ältere Schwester Niamh sind die Protagonistinnen eines Dokumentarfilms der britisch-irakischen Regisseurin Hoda Elsoudani: »Wenn man ein so komplexes, heikles Thema durch die Augen zweier unschuldiger Kinder sieht, kann man vielleicht einfacher Verhaltensweisen und Denkmuster hinterfragen«, sagt sie.
»Why can’t I be a Sushi?« – Warum kann ich nicht beides sein, Sunnitin und Schiitin gleichzeitig? »Mich hat es immer gestört, wenn Menschen mich als Erstes fragen, ob ich Schiitin oder Sunnitin bin. Wenn ich dann geantwortet habe: ›Ich bin einfach eine Muslimin‹, war das anscheinend nicht ausreichend«, sagt die Filmemacherin. 2014 wurde der Begriff Sushi populär.
Ursprünglich stand wohl einfach nur »Muslim« auf dem Blatt des Kindes
Als Reaktion auf die Gewalttaten des selbst ernannten »Islamischen Staats« (IS) tauchte im Internet das Bild einer dreiköpfigen irakischen Familie auf. Die Frau hält einen Zettel mit der Aufschrift »I AM SUNNI« in der Hand, der Vater einen mit den Worten »I AM SHIA« – in der Mitte sitzt die Tochter. Auf ihrem Blatt steht »I AM SUSHI«. Später stellte sich heraus, dass das Foto nicht ganz originalgetreu im Netz gelandet ist.
Ursprünglich stand wohl einfach nur »Muslim« auf dem Blatt des Kindes. Das änderte aber nichts daran, dass das Bild in sozialen Medien millionenfach geliked und weitergeleitet wurde. Mit Wortwitz und Liebe gegen den Wahnsinn der konfessionellen Gewalt. »Ich finde den Begriff Sushi spaßig, ich benutze ihn auch häufiger in meinen Vorträgen«, sagt Nadje Al-Ali, es könne doch nur helfen, ein ernstes Thema mit ein bisschen Humor aufzulockern.
Al-Ali forscht und lehrt als Professorin an der Londoner School of Oriental and African Studies über Frauen und Geschlechterfragen im Nahen Osten. Gemischte Ehen kennt sie aus der eigenen Familie ziemlich gut: Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Iraker – die Großeltern lebten in einer sunnitisch-schiitischen Beziehung. Im Irak, sagt sie, sei das nichts Ungewöhnliches, um dann hinzuzufügen »gewesen«. Seit dem Einmarsch der US-Amerikaner und ihrer Alliierten im Jahr 2003 ist die Sushi-Liebe zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit geworden.
»Auch vorher gab es natürlich Spannungen, Saddam Hussein hat ja ebenfalls die konfessionelle Karte gespielt, aber Eheschließungen waren eher eine Klassen als eine Konfessionsfrage«, sagt Al-Ali. In der städtischen Mittelschicht lebten Sunniten und Schiiten nebeneinander – über gemischte Paare wurde wenig Aufhebens gemacht. Das änderte sich spätestens in den Jahren 2006 und 2007, als die konfessionelle Gewalt im Irak bürgerkriegsähnliche Dimensionen angenommen hat.
Viele sunnitisch-schiitische Paare sind aus dem Irak ins Ausland geflohen
Einst gemischte Stadtteile wurden zu ausschließlich sunnitischen oder schiitischen Vierteln. Viele sunnitisch-schiitische Paare sind dann ins Ausland geflohen. Manche hatten Morddrohungen erhalten, andere wollten wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage einfach nur raus aus dem Land. Wie viele Sushi-Familien heute noch im Irak leben, ist unklar. Auch Zahlen über frühere Zeiten sind mehr als unzuverlässig.
Das gilt vielleicht noch in stärkerem Maße für den Libanon. Das Land steht wegen seiner konfessionsorientierten Politik ohnehin auf Kriegsfuß mit Statistiken, die nur im Entferntesten mit der Religionszugehörigkeit zu tun haben. Ehen zwischen Schiiten und Sunniten seien aber durchaus üblich und eigentlich kein großes Problem, sagt Lama Faki. Die Juristin arbeitet für Human Rights Watch in Beirut und hat sich mit Frauenrechten im Libanon befasst.
Natürlich sei es von den einzelnen Familien abhängig, ob Liebesbeziehungen über Konfessionsgrenzen akzeptiert würden. Ob Paare sich, wenn dieses Hindernis überwunden ist, in einer schiitischen oder einer sunnitischen Zeremonie trauen, hängt meistens von der Konfession des Mannes ab – danach richtet sich auch die Zugehörigkeit der Kinder.
Wenn die Ehe im Libanon anerkannt werden soll, ist das nur durch die religiöse Gerichtsbarkeit möglich.
Da es im Libanon so gut wie keine Möglichkeiten der zivilen Eheschließung gibt, entscheiden sich gerade viele gemischte Paare für eine Trauung im Ausland. Letztlich ändere das aber nicht viel, meint Faki: »Wenn die Ehe im Libanon anerkannt werden soll, ist das nur durch die religiöse Gerichtsbarkeit möglich. Und die benachteiligt Frauen, insbesondere im Falle einer Scheidung.« Aber – darauf legt Faki Wert, das gelte im Libanon auch für Paare, in denen beide Partner der gleichen Religion und Konfession angehören.
Grundsätzlich sei es für Frauen schwieriger als für Männer, außerhalb der eigenen Gemeinschaft zu heiraten, sagt die Genderforscherin Al-Ali. Das sei nicht auf Schiiten und Sunniten beschränkt: »Weltweit werden Frauen als Hüterinnen der Grenzen der eigenen Gemeinschaft gesehen, gerade weil sie die Verantwortung für die biologische Reproduktion der gesamten Gruppe tragen.«
Wenn junge Leute diese Gemeinsamkeit auch in ihre persönliche Lebensführung übertragen, dann wäre das vielleicht ein Zeichen.
In Zeiten, in denen sich Menschen zunehmend auf die eigene Gemeinschaft berufen, gehört Mut zur Sushi-Ehe. »Wenn sich Paare offen dazu bekennen, ohne Angst vor Urteilen und Ausgrenzung, dann ist das beeindruckend«, findet die Filmemacherin Elsoudani. »Ganz privat vereinen sie die beiden Konfessionen, einfach indem sie ihr Leben leben.« Das Private wird so ziemlich schnell politisch.
Nadje Al-Ali warnt jedoch vor zu schnellen Schlüssen. Konfessionalismus und Vorurteile werden sicherlich nicht einfach so verschwinden – vor allem, wenn sie im Irak durch korrupte und konfessionalistische Politiker geschürt werden – darüber kann sie sich ziemlich aufregen. »Und nur weil plötzlich Menschen im Internet über Sushis diskutieren, kann man nicht erwarten, dass eine Bewegung daraus entsteht.«
Die Londoner Professorin hat aber dennoch ein wenig Hoffnung: An den Protesten gegen Korruption im Irak in den vergangenen Monaten haben Schiiten und Sunniten gleichermaßen teilgenommen: »Und wenn junge Leute diese Gemeinsamkeit auch in ihre persönliche Lebensführung übertragen, dann wäre das vielleicht ein Zeichen.«
Moritz Behrendt ist einer der zenith-Herausgeber. Er arbeitet als Journalist außerdem für Zeitungen und das Deutschlandradio.