Für die Musik in Libyen war die Revolution von 2011 eine kreative Explosion. Wie geht es den Musikerinnen und Musikern heute?
Selten war Musik in Libyen so öffentlich und politisch wie im Verlauf des Jahres 2011. Professionelle Musiker und Hobby-Künstler erlebten einen Aufschwung. Besonders zwischen 2011 und 2013 waren Live-Musik und virale Musikvideos ein wichtiger Teil der Veränderungen und schafften Räume für eine neue Form von künstlerischem Ausdruck in Libyen.
Unter Gaddafi war Kunst, wie auch alles andere, stark monopolisiert. Wer Musik spielen oder gar professionell aufnehmen wollte, brauchte eine Erlaubnis, geknüpft an strenge Kontrollen der Liedtexte. Bereits seit den 1970ern nahmen daher viele Musiker ihre Alben im Ausland auf. Größen wie die Rocklegende Ahmed Fakroun oder der Vater des libyschen Reggaes, Ibrahim Al-Hasnawi, reisten nach England, Frankreich und Italien. Mit den US-Sanktionen im Jahr 1986 schwanden diese Möglichkeiten.
»Einige sind dennoch mit dem Boot nach Italien übergesetzt, um dort ihre Songs aufzunehmen«, erzählt Alaa Elawani. Der seit den 1990ern aktive Blues- und Softrock-Musiker arbeitet als Produzent in Tripoli und erinnert sich noch gut an das, was 1986 als Reaktion auf die Sanktionen folgte: »Das Regime zerstörte alle westlichen Instrumente, einfach alles, was man finden konnte, auch öffentlich, auf dem Grünen Platz«. Alles, was nicht als libysche Musik identifiziert wurde, wurde untersagt. Aber wie so oft fanden die Künstler Wege, sich freizuspielen. In den 1990ern lockerte das Regime die Musikverbote, doch die Verteufelung sogenannter westlicher Musik wirkt bis heute nach.
Umso unvorhersehbarer waren die zahlreichen Live-Auftritte und Konzertaufnahmen während der Revolution. »Ich war geschockt. Auf einmal kamen so viele Menschen und wollten Lieder aufnehmen«, erinnert sich der seit den 1990ern in Benghazi lebende bosnische Musiker und Produzent Dado.
Auch die libysch-serbische Amazigh-Sängerin Dania Ben Sassi ist Teil dieser Bewegung. Mit dem Erklingen ihrer Stimme nahm eine Sprache und Identität Raum für sich in Anspruch, die zuvor Jahrzehnte lang verboten gewesen war. Ben Sassis Performance im Zuge der ersten öffentlichen Feier des Amazigh-Neujahrs 2013 sowie die Herausgabe der ersten libyschen Tamazight-Schulbücher verdeutlichen den Wunsch nach Anerkennung einer vehement unterdrückten Kultur. Lange haben Amazigh-Künstler ihre Musik heimlich aufnehmen oder in gefälschten Kassettenhüllen verkaufen müssen, da der Gebrauch ihrer Sprache gesetzlich untersagt war.
2011 endete das Versteckspiel. Noch bevor das Gaddafi-Regime stürzte, sang Dania Texte, die ihr Vater gedichtet hatte. Diese Lieder fanden ihren Weg über CDs über die libyschen Flüchtlingsunterkünfte auf Djerba nach Tripolis, wo sie schnell so populär wurden, dass sie auch viele arabischsprachige Fans fanden.
Während immer mehr Millennials auf Tamazight schreiben können, konnten ihre Eltern die Sprache zwar sprechen, durften aber nicht lernen, sie zu lesen und zu schreiben.
Viele junge Libyerinnen und Libyer hinterfragen seither ihre Identität neu. Während immer mehr Millennials auf Tamazight schreiben können, konnten ihre Eltern die Sprache zwar sprechen, durften aber nicht lernen, sie zu lesen und zu schreiben. Für viele war Musik Ausdruck einer Überlebensstrategie in solchen Phasen der Repression. Dass nun ausgerechnet eine junge Frau aus der libyschen Diaspora die Revolution mit ihren Liedern öffentlich auf Tamazight unterstützte, glich einem lauten Knall, der sich gegen die Unterdrückungskultur erhob.
Bereits vor 2011 hatte die libysche Rockszene eine etablierte Konzertstruktur. Eine der vielen bekannten Gruppen war die Band Guys Underground aus Benghazi. Während die Stadt im Verlauf der Revolution monatelang unter Beschuss geriet, unterstützten die Musiker die Bevölkerung auf ihre Weise. Ihr Song »We Will Not Surrender« war an der Front häufig zu hören. Der Titel ist eines der berühmtesten Zitate von Omar Al-Mokhtar, dem Widerstandskämpfer im Krieg gegen die italienische Besatzung und Symbol der nationalen Einheit.
Mit der Aufnahme war Dado damals nicht zufrieden: »Wir haben die Gitarre von Rami nur einmal aufgenommen, er war sehr gut, aber es war noch nicht perfekt. Ich habe ihm gesagt, dass er am nächsten Tag wiederkommen müsse. Aber dann war er zur falschen Zeit am falschen Ort und kam nie wieder«. Seit Ramis Tod erklingt die erste Aufnahme des Gitarrensolos im Lied.
Dado öffnete sein privates Studio seither vielen motivierten jungen Künstlern. Die anfängliche Euphorie klang jedoch schnell wieder ab. Radikale islamische Milizen wie Ansar Al-Scharia schüchterten weite Teile der Zivilbevölkerung erfolgreich ein.
Die Entscheidung, in die Hauptstadt zu ziehen, scheint für viele Musiker aus dem Süden Libyens der einzige Ausweg aus ihrer Misere.
Für Musiker wie Judge änderte dies jedoch nichts. »Für mich hat die Revolution keinen Unterschied gemacht, ich mache mein eigenes Ding«. In einem bekannten Café in Tripolis spielte seine Band Black Schnack seit 2008 jeden Donnerstag zur Vorbereitung auf größere Gigs. Unbeeindruckt von den Musiktrends der vergangenen Jahre und enttäuscht über die Abwesenheit von professionellen Produktionsmöglichkeiten, arbeitet der Musiker und IT-Fachmann heute an neuen Liedern – er möchte Beats aus verschiedenen Teilen Libyens zusammenbringen.
Für andere Künstler wie Abdulhafeez Albosife eröffneten sich aber ganz neue Möglichkeiten. 2015 kam er aus dem südlibyschen Sabha in die Hauptstadt, um dort als Kameramann zu arbeiten. »Das Problem ist, dass wir hier in Libyen keine Struktur für Musikschulen haben, die meisten Künstler haben sich die Instrumente selbst beigebracht oder es durch ihre Freunde und Familien gelernt«. Auch Albosife kam so zur Musik, schließlich hatte bereits sein Vater die Oud gespielt.
Die Entscheidung, in die Hauptstadt zu ziehen, scheint für viele Musiker aus dem Süden Libyens der einzige Ausweg aus ihrer Misere. Die Kämpfe der vergangenen Jahre haben ihre Spuren im Fezzan hinterlassen, andauernde Stromausfälle und Versorgungsengpässe bestimmen den Alltag. Professionell Musik zu produzieren ist unter diesen Umständen nahezu unmöglich.
2015 begann der damals 17-jährige MC Hamza dennoch seine Rap-Karriere in Sabha. Von der Politik hält er sich fern, aber er thematisiert die sozialen und ökonomischen Missstände. Für einige Zeit rappte er in einer größeren Gruppe, arbeitete mit Tuareg-Bands zusammen und gewann schließlich einen Rap-Battle gegen einen Künstler aus Tripolis. Daraufin wurde der international bekannte Hip-Hop-Produzent Ahmed Kwifya auf ihn aufmerksam, produzierte den Song »16 bar« und nahm ihn in seine »Adrenalin Show« auf.
Wenn sich allerdings keine Produktionsmöglichkeiten auftun, heißt es für Künstler im Fezzan, auf unbestimmte Zeit abzuwarten. Wie Hamza schreibt auch der Reggae-Musiker Walid immer weitere Songs, schreibt sich alles von der Seele und hofft auf seine Chance. »Ich wünschte, die Menschen würden das Talent der jungen Künstler im Fezzan erkennen. Ich bekomme so viele Konzertanfragen, aber niemand unterstützt Reggae-Musiker finanziell. Die Älteren mögen unsere Musik nicht, wir sollten doch etwas Ordentliches spielen, traditionelle Musik eben«.
Obwohl libyscher Reggae inzwischen seit über 40 Jahren eine sehr spezielle Nische besetzt, stehen Künstler wie Walid außerhalb der Metropolen oft in der Kritik für ihre »zu westliche Musik«. Alaa Elwani aus Tripoli schmunzelt liebe-voll: »Libyscher Reggae, das ist romantischer Reggae, über Politik durften wir ja nicht singen«.
Das Finanzierungsproblem betrifft nahezu die gesamte libysche Musiklandschaft, denn nur wer über ausreichend finanzielle Kapazitäten verfügt, kann seine Lieder aufnehmen. Die Zahl der Produktionen ist überschaubar, und die wenigsten kümmern sich um Copyrights. Meist werden die Lieder einfach auf Youtube, Facebook und Instagram geteilt.
Einer der wenigen professionellen Musikproduzenten ist der 24-jährige Ahmed Debani. Ursprünglich stammt er aus Derna. Während seines Ingenieurstudiums in Malaysia ging er weiter seiner Leidenschaft für Musik nach. Seine Debütsingle »Sky« mit zwei sudanesischen Rappern erschien im Sommer 2020. Das Video drehte er in zwei Tagen ab, bevor er wieder nach Libyen zog. Seither lebt er in Benghazi.
Dort arbeitet er zusammen mit der 25-jährigen Dada für den Sender DO FM an der wöchentlichen Show »Music Fabric« und präsentiert noch unbekannte libysche Künstler. Debani produziert R&B, Trapsoul und Lofi Hip-Hop. Er teilt die Lieder über alle größeren Streamingportale und erreicht damit ein breites Publikum auch außerhalb Libyens.
Nicht weit von ihm entfernt, aber dennoch in einer komplett anderen musikalischen Welt lebt Hassan Elbijou, der vor allem traditionelle Merskawi-Musik spielt. 2010 lernte Hassan Akkordeon zu spielen, 2011 nahm er sein erstes Album auf – unterbrochen durch die militärischen Auseinandersetzungen. Um seine Stimme weiter zu schulen, studierte er von 2012 bis 2016 am Ali-Shaliya-Institut in Benghazi, das nach einem der bekanntesten libyschen Sänger benannt ist.
Die Institution existiert seit den 1960ern und bildet junge Menschen in verschiedenen Kunstbereichen aus. Hassan spielt mit seiner Band Alzaman Aljamil (zu Deutsch: Die schöne Zeit) im ganzen Land auf privaten Feiern. »Wir haben schon sieben Alben produziert, aber dadurch generieren wir keine Einnahmen, wir verdienen unser Geld über die Konzerte«. Neben Merskawi spielt die Band auch Moushahat, eine weitere Form traditioneller libyscher Musik.
Die bekannteste traditionelle Musikform Libyens ist jedoch Malouf. Nachdem andalusische Flüchtlinge nach der Reconquista ihre Musik nach Nordafrika mitgebracht hatten, entwickelten sich die Stile in unterschiedlichen Regionen Libyens weiter: Merskawi im Osten, Malouf und Moushahat besonders im Westen des Landes.
Aber auch der traditionellen Musik musste sich schon des Vorwurfs der Verwestlichung erwehren. In den 1960ern waren bei den Auftritten vermehrt auch Streichensembles dabei – was anfangs eine kontroverse Debatte entfachte. Der Musikethnologe Philip Ciantar hat beschrieben, wie schon lange vor der Revolution Elemente von Tradition und Moderne in Libyens Musiklandschaft ineinandergegreifen haben.
Eine Essenzialisierung von Genres und Künstlern auf »libysch versus westlich« oder »traditionell versus modern« greife daher zu kurz und sei auf politische Rhetorik zurückzuführen. Auch vor der Revolution war libysche Musik von Wandel und lokaler Transformation geprägt, doch erst mit dem Ende der Diktatur brachen öffentliche Räume für etablierte und neue Künstler auf.
Aus Angst vor Missgunst gegenüber ihren Familien fügen sich viele dem gesellschaftlichen Druck. Wer wirklich professionell Musik machen möchte, muss außerhalb Libyens eine Karriere aufbauen.
2011 verschwand der alte Rahmen staatlicher Zensur über Nacht, aber die Grenzen sozialer Restriktionen blieben bestehen. Während libysche Rapper in den Sozialen Medien Rekorde bei ihren Followerzahlen verzeichneten, plante Fawz über Wochen hinweg, heimlich eine Gitarre zu kaufen. Die 31-jährige Innenarchitekturstudentin aus Tripoli ist inzwischen nach mehreren Live-Auftritten eine lokale Größe in der Kulturszene der Hauptstadt. Im März 2020 kam ihre Debütsingle heraus.
Sie erinnert sich an 2011: Nach kurzer Freude über den Sieg der Revolution zog sie sich in ihr Zimmer zurück und spielte heimlich Musik. »Wir sind endlich frei, also können wir jetzt tun, was wir möchten? Nein! Das war ihre Revolution, meine wird noch kommen«. Viele Musikerinnen wie Fawz halten ihre Instagram-Profile privat. Das verringert die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. Trotz ihrer starken Stimmen müssen sie ihre Musikkarrieren heimlich aufbauen, oft ohne das Wissen ihrer Familien.
Nahezu alle Künstler können von ähnlichen Problemen erzählen. »Es war eine Schande, ein Musiker zu sein, inzwischen ist immerhin die Akzeptanz gestiegen«, so der Merskawi-Sänger Hassan. Doch für Frauen fallen die Restriktionen oft noch schärfer aus.
Aus Angst vor Missgunst gegenüber ihren Familien fügen sich viele dem gesellschaftlichen Druck. Wer wirklich professionell Musik machen möchte, muss außerhalb Libyens eine Karriere aufbauen, so der Konsens der meisten Musikerinnen und Musiker. Sie arbeiten trotzdem weiter – in Libyen –, schreiben neue Songs und machen Gebrauch von neuen Möglichkeiten. So nutzten sie während der Corona-Pandemie freie Räume und teilten ihre Werke online mit der Welt. Dado sieht in der Kunst viel Hoffnung für Libyen: »Musik bleibt Musik, hier teilen wir nicht in Regionen auf«.