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Offenbarung und Recht im Islam

Stoßt das islamische Recht vom Thron

Essay
»Diwan« des persischen Dichters Hafiz
Doblüre aus dem »Diwan« des persischen Dichters Hafiz. Foto: University of Indiana Collection

Wie göttliche Gebote auszulegen sind, darüber entschieden nicht immer alleine Juristen. Der Interpretationsspielraum zeichnete den Islam über Jahrhunderte aus – und geht in der Moderne immer mehr verloren.

Was ist Islam? In Zeiten, in denen manche den Islam in seinem Wesenskern als politische Ideologie und Feindbild sehen, ist dies weder eine unschuldige noch banale Frage. Nichts weniger, als darauf umfassend und abschließend zu antworten, versuchte Shahab Ahmed, ehemaliger Professor an der Universität Harvard, der im Sommer 2015 überraschend im Alter von nur 48 Jahren verstarb. Zu diesem Zweck holt sich der Islamwissenschaftler unerwartete Verbündete ins Boot. Sein ambitionierter Gegenentwurf »What is Islam? The Importance of Being Islamic« verwebt Poesie, Miniaturmalereien, Weinkelche und Münzen zu einer großen Erzählung menschlicher und historischer Auslegungen.

 

Auf gut 600 Seiten bricht er die einseitige, aber in Wissenschaft und öffentlicher Meinung oft bevorzugte Verbindung des Islams mit normativen arabischen Texten auf. In Ahmads Narrativ begegnen dem Leser unzählige mystische Aussagen, laszive Epigramme und philosophische Lehrmeinungen in solch unterschiedlichen Sprachen wie Osmanischem Türkisch, Persisch, Paschtu, Urdu, Pandschabi, und Malaiisch. Das alles tut Ahmed, um unseren Blick weg zu lenken von der vermeintlich allentscheidenden Frühzeit des Islams, die für Salafisten eine so wichtige Rolle spielt.

 

Stattdessen widmet er sich des muslimischem Nachdenkens über die Religion und ihrer Grenzen in Zeiten seiner höchsten Komplexität von circa 1350 bis 1850. Der Fokus verschiebt sich dabei von der arabischen Welt auf einen stark von der persischen Sprache durchdrungenen Gesellschaftsraum, welchen Ahmed als den »Vom-Balkan-bis-Bengalen-Komplex« bezeichnet. Von den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches bis an die östlichen Ränder des indischen Subkontinents zeichnet er eine Welt der offensichtlichen Widersprüche. Widersprüche freilich, die alle in sich Bedeutung haben als Ausdruck einer von der Elite und vielen einfachen Musliminnen und Muslimen geteilten islamischen Lebens- und Denkweise.

 

Philosophie, mystische Konzeptionen des Islams und Literatur waren gerade nicht auf die Durchsetzung einer bestimmten Orthodoxie bedacht

 

Was bedeutet es nun, dass in diesem riesigen geografischen Gebiet das meistverbreitete Buch nach dem Koran die Gedichtsammlung des persischen Poeten Hafiz war, der gemeinhin als »Verkünder des Transzendenten« bezeichnet wird? Was ist davon zu halten, dass Hafiz’ Verse, die nahezu auf eine Stufe mit der Offenbarung gehoben werden, weltliche, zutiefst menschliche Liebe als Essenz des Muslimseins definieren? Wie ist zu verstehen, dass vom Balkan bis nach Bengalen die ergreifende Schönheit zeichnerischer Darstellungen von Menschen und Tieren gefeiert wurden, trotz unmissverständlicher Aussagen des Propheten Muhammads, die genau solche verdammten? Wie kann es islamisch sein, dass der indisch-muslimische Mogulherrscher Dschahangir Anfang des 17. Jahrhunderts auf seinem Weinpokal eingravieren ließ, dass er die »Perle auf der Treppe der kalifalen Nachfolge« und ein echter »Muslim-Krieger« sei?

 

Ahmed konfrontiert uns mit diesen und anderen Ungereimtheiten, um eines aufzuzeigen: Islamisches Recht genoss niemals die dominante Bedeutung, die Muslime wie Nichtmuslime ihm heute im Zeitalter von Islamisten, Daesh und den Taliban zuschreiben. Es als Essenz des Islams zu begreifen ist vielmehr ein Ergebnis der Moderne und des Aufkommens von Nationalstaaten. Da sich diese in erster Linie als Rechtsstaaten verstehen, gewinnen möglichst islamische Gesetze eine nie dagewesene Dringlichkeit als Ausdruck einer islamischen Identität. Islamisches Recht mogelt sich so in den Vordergrund gesellschaftlicher Diskurse.

 

Philosophie, mystische Konzeptionen des Islams und Literatur boten jedoch über Jahrhunderte ernstzunehmende und einflussreiche Alternativen. Sie waren gerade nicht auf die Durchsetzung einer bestimmten Orthodoxie bedacht, nicht vorschreibend, sondern explorativ und kreativ im besten Sinne. Im Gegensatz zu islamischem Recht haben sich muslimische Mystiker und Philosophen nie mit dem bloßen Text der Offenbarung, die ja nie die unerschöpfliche und unbeschränkte Wesenheit Gottes abbilden kann, begnügt. Vielmehr haben diese Stimmen stets Wert auf das gelegt, was Ahmed als »Pre-Text« bezeichnet, nämlich die Gesamtheit der übernatürlichen Wirklichkeit hinter und jenseits der konkreten, zu einem bestimmten Zeitpunkt geschehenen Offenbarung in Form des Korans und der Aussprüche des Propheten Muhammads.

Das Wissen um Gottes Wahrheit ist ein grenzenloses Meer. Wir sind nur Leute der Küste

Solche Ansätze, die weit über den Zuständigkeitsbereich des islamischen Rechts hinausgingen, wurden mitunter auch von dessen Auslegern akzeptiert. Als wichtiges Beispiel dient Ahmed eine Anfrage in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an den damals ranghöchsten Rechtsgelehrten im Osmanischen Reich, Ebussuud Effendi. Er wurde gebeten, Stellung zu beziehen zu bestimmten mystischen Zeremonien, die dem Fragesteller offensichtlich ein Dorn im Auge waren. Ebussuud erklärte sich aber als für schlicht nicht zuständig: »Das Wissen um Gottes Wahrheit ist ein grenzenloses Meer. Wir sind nur Leute der Küste. Die großen mystischen Meister des Islams hingegen durchtauchen diesen schrankenlosen Ozean. Wir streiten nicht mit ihnen.«

 

Das von Shahab Ahmed angeführte Zitat unterstreicht nicht weniger als die Überzeugung eines führenden islamischen Juristen seiner Zeit in Bezug auf die beschränkte Relevanz islamischen Rechts. Es gibt demnach eine Wahrheit, die tiefer reicht als das von Menschen identifizierte göttliche Gebot. Das sicher am Ufer verankerte Gesetz und die Rechtsgelehrten haben damit nichts zu schaffen. Islamisches Recht beschränkt sich eben nahezu ausschließlich auf den Text. All dies, was Dichter, Philosophen und Sufis als »Pre-Text« beschäftigt, hat aber keinen öffentlich und sozial sanktionierbaren Wert und ist deswegen von der rechtlichen Warte aus unerheblich.

 

Neben den »Pre-Text« stellt Ahmed in seinem Modell der Definition von Islam den »Con-Text«. Damit meint er die Gesamtmenge der seit dem 7. Jahrhundert akkumulierten muslimischen Auseinandersetzung mit der Offenbarung und ihrer Bedeutung. Diese schlägt sich nicht nur im geschriebenen Wort wie in Korankommentaren nieder, in Strukturen von Autorität oder Symbolen. Auch individuelle und kollektive Praktiken wie Begräbnisriten, das Schlachten von Tieren oder spezielle Grußformeln sind Teil des »Con-Texts«.

 

Muslime waren durch intensiven Umgang mit Literatur und Poesie geschult, mit Metaphern zu arbeiten und sich an Paradoxien zu erfreuen

 

Eine echte hermeneutische Auseinandersetzung mit dem Islam muss immer die drei Aspekte von »Pre-Text«, »Text« und »Con-Text« berücksichtigen, so Ahmed. Nur so gelinge es uns, Widersprüche wie die eingangs erwähnten Fragen der Malerei oder des Weingenusses als islamisch zu verstehen. Muslime vom Balkan bis nach Bengalen genossen beides als Symbole, als Vorschattungen der echten göttlichen Wahrheit. Sie taten das meist nicht in aller Öffentlichkeit, sondern in speziellen halb-privaten Räumen. Dort war es möglich, im Kreise Gleichgesinnter explorativ Islam zu denken. Solche Zusammenkünfte schufen den Rahmen, Konzeptionen von Islam zu formulieren, die ansonsten destabilisierend auf die Gesellschaft gewirkt hätten.

 

Ahmed ist es wichtig zu betonen, dass es sich dabei um ein durch und durch islamisches Nachdenken handelt – und nicht etwa um einen heimlichen Flirt mit Säkularität oder anti-religiösem Gedankengut. Muslime waren durch ihren intensiven Umgang mit Literatur und den hohen Stellenwert, den die Poesie genoss, geschult, mit Metaphern zu arbeiten und sich an Paradoxien zu erfreuen. Nur so ist zu erklären, dass in vielen Gedichten aus der Zeit die Rede davon ist, dass, falls richtig verstanden, sich Gottes Einheit vor allem in der Anbetung von Götzenstatuen manifestiert.

 

Shahab Ahmeds Weigerung, eine einfache Unterscheidung zwischen religiösen und säkularen Diskursen vorzunehmen, ermöglicht es ihm auch, einen neuen Blick auf die Praxis muslimischer Politik über Jahrhunderte zu werfen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es keineswegs so, dass allein die Rechtsgelehrten das islamische Recht auslegten. Muslimische Herrscher schöpften selbst solches und setzen beispielsweise den offiziellen Zinssatz fest. Sie begriffen das, was sie taten, nicht als »weltliches« Recht, das dem islamischen Recht bewusst entgegenstünde. Ihr Nachdenken war laut Ahmed eine durch und durch islamische Tätigkeit. Zu ihren Ergebnissen gelangten sie freilich anders als die Rechtsgelehrten. Während letztere vom Text der Offenbarung ausgingen, diesen auslegten und in die Welt hineinlasen, verhielt es sich bei vielen Herrschern gerade umgekehrt. Sie fokussierten auf »Pre-Text«, auf Gottes Absichten, beispielsweise auf »Sein Streben nach Gerechtigkeit«. Dieses lasen sie aus den Weltläufen und der unsichtbaren Welt in die textlichen Quellen hinein – und erließen dementsprechend Gesetze.

 

Muslimische Gesellschaften verfügen heute über ein weit weniger komplexes Offenbarungsverständnis als in der Vergangenheit

 

Ahmed nimmt den Leser mit auf eine intellektuell herausfordernde, nahezu atemlose Reise. Bei all seiner Brillanz und der eindrucksvoll von vielsprachigen Primärquellen unterfütterten Argumentationslinie bleibt aber dennoch ein gewisser Eindruck von Nostalgie zurück, auch wenn sich Ahmed gegen diese Vorwurf in seinem letzten Kapitel ausdrücklich verwahrt. Der Autor selbst weist allerdings darauf hin, das muslimische Gesellschaften nicht nur ihr persisch-literarisches Erbe sondern auch ihr philosophisch-sufisches Fundament verloren haben. Darauf Bezug nehmend ließen sich heute kaum innermuslimische Auseinandersetzungen gewinnen. Die direkte Auseinandersetzung mit dem »Pre-Text« wurde bewusst als unislamisch entwertet, die Reichhaltigkeit des »Con-Texts« hat sich stark verringert. Kurz gesagt: Muslimische Gesellschaften verfügen heute über ein weit weniger komplexes Offenbarungsverständnis als in der Vergangenheit.

 

Dem modernen Muslim als homo juridicus ist die Fähigkeit abhandengekommen, mit Ambiguität, Ambivalenz und Widerspruch umzugehen. Mit dieser Analyse macht sich Ahmed eine Diagnose zu eigen, die so bereits von Thomas Bauer 2011 in seinem Buch »Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams« gestellt wurde. Während Bauer vor allem die arabische Welt untersucht, weitet Ahmed indes unseren Blick. Aber gerade aus diesem Grund wirkt die Verkümmerung, die er für die Moderne beschreibt, umso bedrückender. Der in Singapur als Sohn pakistanischer Eltern geborene Ahmed, der später in England zur Schule ging, in Malaysia und Ägypten studierte, in Afghanistan als Journalist arbeitete und schließlich an der Universität Princeton seinen Doktortitel erwarb, erscheint geradezu als letzter polyglotter muslimischer Kosmopolit seiner Art.

 

Der Leser bleibt trotz aller Faszination auch dahingehend etwas ratlos zurück, was Ahmeds Begeisterung für verfeinerte, private Elitendiskurse anbelangt. Was kann die intensive Auseinandersetzung mit Metaphern und Widersprüchen in Zeiten bedeuten und leisten, in denen oftmals totale Öffentlichkeit an die Stelle einer gut gehüteten Privatheit mit ihren Möglichkeiten des gedanklichen Experimentierens getreten ist? Ahmeds gelehrtes Manifest mag als Ansporn dienen, die Flinte gerade nicht ins Korn zu werfen. Vielmehr ermutigt sie, sich auf die Suche nach Komplexität im heutigen Islam zu machen, jenseits von Saudi-Arabien und den Salafisten. Denn gerade unter Muslimen in Europa, Südasien oder Indonesien ist die Aushandlung darüber, was Islam genau ist, nicht widerspruchslos, reduzierend und nur textbasiert abgeschlossen.


 

»What is Islam?« von Shahab Ahmed

What is Islam?
The Importance of Being Islamic
Shahab Ahmed
Princeton University Press, 2015
624 Seiten, 27,99 Euro

 

 

 


Dr. Simon Wolfgang Fuchs ist »Research Fellow in Islamic Studies« am Gonville and Caius College der Universität Cambridge.

 

Von: 
Simon Wolfgang Fuchs

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