Schiiten, Sunniten, Kurden, Alawiten – bisher fehlte im Deutschen ein passender Begriff für ein Problem, das nicht die Ursache, aber der Brandbeschleuniger politischer Konflikte ist.
Die Erörterung der Frage, was es eigentlich mit den Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten auf sich hat, ist mehr als abendfüllend. Man fühlt sich beinahe an den Trojanischen Krieg erinnert: nicht etwa, weil die Schlachtfelder mit gefallenen Helden übersät wären – sunnitisch-schiitische Kriege wurden in der Geschichte gar nicht so oft geführt –, sondern weil mancher, selbst unter den Beteiligten, doch eine Weile überlegen müsste, wie die Sache eigentlich angefangen hat. Und warum sie eskalierte.
Aus nahöstlicher Perspektive lässt sich die Ausgangslage heute in etwa so beschreiben: Es herrscht dort heute vielerorts die Überzeugung, dass, wenn es zum Schwur kommt und wenn Entscheidungen auf Leben und Tod anstehen, ein Sunnit nur mit einem Sunniten solidarisch sein könne, ein Schiit nur mit einem Schiiten, ein Kurde nur mit einem Kurden. Daraus folgt das Bestreben, potenziell feindselige Taten vonseiten anderer Gruppen schon im Voraus zu vereiteln: Angriff scheint auch hier die beste Verteidigung.
Im Englischen bezeichnet man dieses Weltbild und das daraus resultierende Verhalten mitunter als sectarianism, abgeleitet von sect für voneinander abweichende Glaubensgruppen. Der spalterische Drang kommt darin gut zum Ausdruck, ebenso das gewissermaßen Faktenschaffende und Normative: Sectarianism ist keine Organisationsform eines Gemeinwesens, sondern vor allem eine von Vorurteilen, Ressentiments oder sogar Hass geprägte Geisteshaltung.
Die Araber sprechen von ta’ifiya, tatayuf oder tatif, wobei Ersteres für den Zustand steht, das Zweite eher dafür, dass das Problem Überhand nimmt (etwa ein Konflikt wie der syrische »konfessionaliert« sich) und das Dritte für dessen aktiven Gebrauch, indem man nämlich ein politisches Problem absichtlich »konfessionalisiert«: Man spaltet Gemeinschaften innerhalb eines Staatswesens, spielt sie gegeneinander aus und macht sich konfessionelle oder ethnische Ressentiments machtpolitisch zunutze. Jemand, der die Menschen einer nahöstlichen Gesellschaft nur als Sunniten und Schiiten, Drusen, Alawiten oder Christen betrachtet und die Identität dahingehend überbetont, gilt als tai‘fi.
Besonders ist dabei, dass die tai‘fa (Plural tawa‘if) heute im Sprachgebrauch anscheinend nicht nur religiöse Gemeinschaften umfasst, sondern auch kulturelle oder sogar ethnische, je nachdem, worin man die stärkere innere Kohäsionskraft sieht: In Syrien oder im Irak etwa spricht man von Alawiten, Christen, Schiiten und Sunniten ebenso als tawa‘if wie etwa von Armeniern, wobei Letztere weniger als eine Nation, sondern mehr als eine – christliche – Konfessionsgemeinschaft betrachtet werden.
Das Prinzip der ta‘ifiya vermengt das Religiöse, Konfessionelle mit dem Sozialen und Politischen
Tai‘fa bedeutet ursprünglich so etwas wie »Schwarm« oder »Strömung«. Das Konzept der tai‘fa, eigentlich wohl einfach als Gemeinschaft oder community zu verstehen, war zunächst eher religiös konnotiert, vor allem aber deshalb, weil in der arabischen und islamischen Geschichte die religiösen Zugehörigkeiten weitgehend identisch mit sozialen oder kulturellen waren.
Ethnische Kategorien oder Volksgruppen kennt die arabische Sprache eher als qaumiyat, was dem Begriff der Nation nahekommt, allerdings im ethnischen, nicht im staatsbürgerlichen Sinne. Es scheint eine jüngere Entwicklung zu sein, aber inzwischen liest man manchmal in arabischen Medien (wohl fälschlicherweise), dass etwa Kurden und Turkmenen als tawa‘if bezeichnet werden, wobei diese beiden Gemeinschaften ethnische und nicht konfessionelle Gruppen bilden und mehrheitlich dem sunnitischen, aber auch teilweise dem schiitischen Islam angehören.
Die ta‘ifiya kann sich implizit in diskriminierenden Verhaltensweisen des Staates oder von Teilen der Bevölkerung gegen andere äußern oder aber, wie im besonderen Fall des multikonfessionellen Staates Libanon, explizit der politischen Ordnung und den Normen zugrunde gelegt werden, was wiederum dem deutschen Konzept vom Konfessionalismus näherkommt. Denn dieser stellt die Rechte der Gemeinschaft über die Rechte des Individuums, schreibt das Individuum zwangsweise der Gemeinschaft zu – und zwar völlig unabhängig davon, ob es sich dieser zugehörig fühlt.
In jedem Fall aber vermengt das Prinzip der ta‘ifiya das Religiöse, Konfessionelle mit dem Sozialen und Politischen. Und diese Denkweise sowie der historisch gewachsene Sprachgebrauch werden durchaus kritisiert, weil sie mitunter Identitäten konstruieren. In einigen Teilen der arabischen Welt, etwa im Maghreb, ruft das Konzept der ta‘ifiya sogar verständnisloses Kopfschütteln hervor. Aber die meisten Menschen im multiethnischen und multireligiösen Nahen Osten wissen recht genau, was damit gemeint ist. Ob sie es gutheißen oder nicht.
Im deutschen Sprachgebrauch fehlt ein Begriff, der diesen Sachverhalt abbildet, obwohl die deutsche Geschichte viel von solcher Geisteshaltung zu erzählen hat. Man behilft sich stattdessen mit einem ungefähren, aber letztlich unzureichenden Wort, dem »Konfessionalismus«, und wendet ihn auf die Verhältnisse im Nahen Osten an.
Der Begriff Konfessionalismus geht natürlich aus der deutschen Religionsgeschichte hervor: Er bezeichnet den Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten, die Reformationskriege und den im Augsburger Reichs- und Religionsfrieden 1555 vereinbarten Grundsatz cuius regio, eius religio. Damit wurde das Recht der Fürsten verbrieft, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen – wer sich dem nicht beugen wollte, durfte immerhin auswandern.
Sektarismus klingt nicht griffig, bezeichnet aber genauer die spezifische Gemengelage in Nahost
Dieser später als »Konfessionalisierung« bezeichnete Prozess mündete bekanntlich in den Dreißigjährigen Krieg. Einiges von dieser deutschen Erfahrung mag mit den Realitäten in den nahöstlichen Gemeinschaften vergleichbar sein. Aber es besteht doch ein Unterschied, der erstaunen mag, wenn man bedenkt, dass der Orient allgemein im Ruf steht, er nehme die Religion übermäßig wichtig: Anders als im Konfessionalismus deutscher Prägung geht es dort nämlich weniger darum, in theologischen Belangen recht zu haben, sondern um das, was der Vater der arabischen Soziologie, Ibn Khaldun (1332–1406), die ‘asabiya nannte: die innere Kohäsionskraft einer Gemeinschaft im Nahen Osten, die aus der Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Clan erwachsen kann. Manchmal auch aus einem gemeinsamen Mythos und durchaus, aber eben nicht zwingend, aus einer Religion.
Im Bewusstsein dieser Nuancen haben manche deutschsprachige Journalisten versucht, den passenden englischen Ausdruck sectarianism mit »Sektierertum« zu übersetzen. Das trägt zwar dem Umstand Rechnung, dass viele fanatische und gewalttätige Gruppen, die gegen Minderheiten hetzen, Merkmale einer Sekte aufweisen – allen voran der sogenannte Islamische Staat. Es bildet auch das Ansinnen ab, die Wahrnehmung der Differenzen zwischen den Gemeinschaften mutwillig zu vertiefen. Gleichwohl können »Sektierer« auch Eigenbrötler sein, die sich von dem, was sie als Mainstream ansehen, entfernen, ohne anderen dabei Schaden zuzufügen. Das, was man im Deutschen gemeinhin unter »Sekten« und »Sektierern« versteht, ist im Arabischen allerdings eher durch einen anderen Begriff besetzt, nämlich firqa. Zudem fehlt dem Begriff Sektierertum die politische Komponente, die in ta‘ifiya enthalten ist.
Am ehesten würde man dem Phänomen wohl mit einem Lehnwort gerecht: »Sektarismus«. Man liest es hin und wieder als behelfsmäßige Formel in deutschen Übersetzungen aus dem Französischen (sectarisme), die großenteils aus dem 19. Jahrhundert stammen und deren Autoren wohl nicht wussten, wie sie es anders nennen sollten. Und wenngleich es nicht sehr griffig klingt, bezeichnet es genauer als die gemeinhin verwendeten Begriffe die spezifische Gemengelage in Nahost.
Auf den Nahen Osten bezogen, ließe sich der Sektarismus künftig wie folgt definieren: eine von Ressentiments geprägte Geisteshaltung, die sich in einer Überbetonung der ethnischen oder religiösen Identität von Einzelnen oder Gruppen innerhalb eines staatlichen Gemeinwesens äußert. Sie verfolgt nicht die Überwindung der Gräben, sondern deren Vertiefung. Sie sieht keine Perspektiven für Integration oder ein friedliches Zusammenleben und strebt daher nach Verdrängung oder Beherrschung der jeweils anderen Seite.
Am Ende ist der Sektarismus also »identitär«. Und das wiederum dürfte uns aus dem aktuellen europäischen Kontext sehr bekannt vorkommen. Womöglich mehr noch als der Konfessionalismus.
Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung eines Auszugs aus Daniel Gerlachs neuem Buch