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Assads langer Arm in Osteuropa

Kolshi tamam fi Dimashq

Essay
Kolshi tamam fi Dimashq
Foto: Daniel Gerlach

Als Halb-Bulgare, Halb-Syrer sah sich Ruslan Trad immer als Mittler. Der Krieg in Syrien brachte seinen Glauben an die Regierung ins Wanken. In diesem Essay beschreibt der Polit-Analyst, wie Damaskus die öffentliche Meinung in Europa beeinflusst.

Ich bin ein Verräter. Das begriff ich zum ersten Mal, als die bulgarische Botschaft im Libanon mich warnte, nicht nach Beirut zu reisen. Mein Name stünde auf einer Liste, welche die Hizbullah im Auftrag des syrischen Regimes führt: gesucht wegen staatsfeindlicher Aktivitäten. In Syrien würde mich ein Prozess vor einem Militärgericht erwarten.

 

Aus ideologischer Sicht ist alles, was ich heute tue, Verrat. Dass ich in den Augen des Regimes ein Verräter bin, ist einerseits ein Symbol für die Lügen, an die ich früher selbst glaubte. Andererseits treibt mich der Vorwurf heute an. Denn in Wirklichkeit habe ich ein System verraten, das von innen heraus tief verrottet ist.

 

Ich wurde in Sofia geboren. Mein Vater arbeitete viele Jahre in der Konsularabteilung der syrischen Botschaft. In meiner Jugend habe ich viel Zeit im Botschaftsgebäude und der Residenz des Botschafters verbracht. Später wurde ich aktiver Teil des syrischen Studentenwerks in Bulgarien. Die Machthaber in Damaskus sahen in jemandem wie mir zweifellos eine nützliche Ressource. Mit dem Studentenwerk stellten wir Treffen, Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen auf die Beine. Ich war stolz auf diese Aktivitäten und blind gegenüber jeder Kritik am System in Syrien.

 

Im November 2010 begegnete ich Baschar Al-Assad in Sofia. Assad besuchte Bulgarien zu der Zeit auf Einladung des damaligen Präsidenten Georgi Parvanov. Seine Familie, inklusive seiner Kinder, waren ebenfalls mitgereist. Ich unterhielt mich mit seinen Leibwächtern und vereinbarte für die bulgarische Zeitschrift TEMA ein Interview mit seiner Frau Asma. Assad war in voller Mannschaftsstärke angereist, seine Entourage umfasste unter anderem Außenminister Walid Al-Muallem, Chef-Beraterin Buthaina Schaaban, Wirtschafts- und Handelsminister Lamia Assi sowie den stellvertretenden Außenminister Abdul-Fatah Ammura. Einige der Personen, die Assad in Sofia traf, sitzen heute am Kabinettstisch, in den Ministerien oder in der Präsidialverwaltung.

 

Die Machthaber in Damaskus sahen in jemandem wie mir zweifellos eine nützliche Ressource.

 

Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Mann, dem ich in Sofia gegenüberstand, höchstpersönlich Befehle zur Bombardierung von Wohngebieten unterzeichnet haben könnte. Ich hätte nicht gedacht, dass das, was die Welt in Libyen und Ägypten verurteilte, in Syrien in einem viel größeren und blutigeren Ausmaß geschehen könnte.

 

Heute, im Jahr 2019, über Syrien zu sprechen, ist schwierig. Für viele Menschen ist das, was in Syrien geschieht, ein Mysterium, eine Verschwörung, ein Kampf um Einflusssphären. Heute beinhaltet jedes Gespräch über Syrien die Worte »Terrorismus«, »Islamischer Staat«, »Geopolitik«. Nichts davon war jedoch Teil des Diskurses, als 2011 die Proteste in Syrien ausbrachen. Deswegen müssen wir einen Blick zurückwerfen, um zu verstehen, wie sich die Debatte über Syrien so sehr gewandelt hat, dass es jemandem wie Assad und seinen Untergebenen gelungen ist, sich vor der internationalen Gemeinschaft zu rehabilitieren.

 

Warum ausgerechnet nach Sofia blicken? Die bulgarische Hauptstadt ist aus geopolitischen Gründen wichtig. Als Land mit EU-Außengrenze in unmittelbarer Nachbarschaft zur Türkei spielt Bulgarien in den strategischen Überlegungen der Regionalmächte eine zentrale Rolle. Bulgarien ist auch für Syrien wichtig. Die Beziehungen zwischen Sofia und Damaskus waren über mehrere Jahrzehnte eng, die Länder standen lange auf derselben Seite des Eisernen Vorhangs. Ob Landwirtschaftserzeugnisse, Maschinenexporte oder Waffenhandel: Ihren Höhepunkt fanden die Beziehungen in den 1980er Jahren.

 

Das bulgarische Kulturinstitut in Damaskus war damals einer der wenigen kulturellen Hotspots der Stadt. Und viele Syrer studierten in Bulgarien, einige blieben in ihrer neuen Heimat, andere gingen zurück und stiegen in Führungspositionen auf. Das jeweils schwierige Verhältnis zum gemeinsamen Nachbarn Türkei machte beide Länder zu strategischen Partnern.

 

Noch nie war die syrische Botschaft in Sofia so umtriebig wie heute. Sie sammelt Daten und koordiniert eine ganze Reihe geheimdienstlicher Aktivitäten. Ich würde sogar so weit gehen, dass die Botschaft in der bulgarischen Hauptstadt seit 2011 weltweit einer der Schlüsselstandorte für das Regime ist. Die wichtigsten Botschaftsmitteilungen und Befehle der syrischen Behörden laufen über Sofia. Die Botschaft, insbesondere der örtliche Abgesandte der Baath-Partei, überwacht von hier aus auch die syrische Exil-Opposition, und dafür gibt es einen guten Grund.

 

Eines der ersten Treffen der syrischen Opposition fand 2012 in Bulgarien statt. An der Tagung im Kurort Pravets, etwa 45 Minuten von Sofia entfernt, nahmen eine ganze Reihe prominenter Persönlichkeiten teil, darunter etwa Burhan Ghalioun, der erste Vorsitzende des Syrischen Nationalrats. Der damalige Außenminister und spätere UN-Sonderbeauftragte für Irak, Nikolaj Mladenov, war federführend an der Organisation beteiligt.

 

Ab 2012 begannen syrische Geschäftsleute in Varna und Plovdiv, die Trommel für das Assad-Regime zu rühren.

 

Um der sich daraufhin abzeichnenden öffentlichen Unterstützung für die syrische Revolution entgegenzuwirken, gab das Regime der Botschaft in Sofia die Aufgabe, lokale Verbündete zu finden. Die beiden wichtigsten Kriterien: eine antiamerikanische Einstellung und ein guter Draht zu Moskau. Der Plan: eine umfassende Kampagne, die die öffentliche Debatte schließlich in die entgegengesetzte Richtung lenkt. Was damals in Bulgarien geschah, ist ein Experiment, das sich in vielen anderen Ländern, auch in Westeuropa, wiederholt hat. Überall tauchen mittlerweile prominente Schergen des Regimes in der Öffentlichkeit auf, um dessen Ansichten zu verbreiten.

 

Aber um die volle Bedeutung dieser Image-Kampagne zu verstehen, müssen wir nach Syrien zurückkehren. Ausländer, darunter vor allem Arabisch-Studenten, bekommen bei ihrem ersten Besuch in Syrien oft zu hören, dass sie im Gespräch mit Taxifahrern Vorsicht walten lassen sollten, denn häufig arbeiteten diese als Informanten für den syrischen Geheimdienst – ein willkommenes Zubrot in einem Job, der sonst nicht viel abwirft.

 

Damals, vor dem Ausbruch der Proteste, war die Paranoia vieler Syrer, die überall Spitzel wittern, noch sehr weit entfernt. Ich lebte nicht dauerhaft in Syrien und durch meinen Status als Diplomatensohn und Aktivist im Syrischen Studentennetzwerk in Bulgarien war ich überzeugt, dass niemand versuchen würde, mir mit zufälligen Fragen auf der Straße Informationen zu entlocken.

 

Nur wenige Monate vor Beginn der Proteste 2011 reiste ich mal wieder nach Syrien, im Taxi entspannte sich dann der übliche Dialog:

»Woher kommst du?«

»Aus Bulgarien«

»Ah, aber du sprichst ein wenig Arabisch?«

»Ja, mein Vater ist Syrer, und meine Mutter Bulgarin.«

Der Fahrer lächelte. »Ich kenne Bulgarien, ich kenne Plovdiv, Varna. Wohin sind eure Produkte verschwunden – der Käse? Ein unglaublicher Käse, sehr teuer, aber lecker!«

 

Der Mann verband so gute Erinnerungen mit Bulgarien, weil das damals noch kommunistisch regierte Land in den 1980er Jahren enge Handelsbeziehungen mit Damaskus pflegte. Für ihn klangen Namen wie Plovdiv und Varna vertraut. Über diese Wirtschaftszentren kamen syrische Produkte in Bulgarien auf den Markt und bulgarische Waren wurden hier für den Export nach Syrien verladen. In Varna und Plovdiv ließen sich einige der ersten syrischen Studenten in Bulgarien nieder, in den 1990er Jahren folgten Handelsunternehmer.

 

Ab 2012 sollten syrische Geschäftsleute in den beiden Ballungsräumen anfangen, die Trommel für das Assad-Regime zu rühren. Noch heute stehen sie fest an der Seite des Regimes. Zurück zum Taxi: »Was hältst du von Syrien? Bist du für den Präsidenten?« schob der Taxifahrer nach, als wir gerade in der Altstadt von Damaskus ankamen. Früher oder später kommt diese Frage immer. Damals konnte ich nichts Falsches sagen – für mich war Syrien das, was ich aus den Botschaftskreisen mitbekam.

 

Kurz gesagt, ich glaubte, dass Syrien mit Baschar Al-Assad sich aus einer langen Isolation befreite und sich nun festen Schrittes auf den Weg in Richtung Moderne machte. Verhaftungen und Einschränkungen von Menschenrechten und Meinungsfreiheit? Ja, das war mir schon bewusst, aber das waren ja notwendige Reaktionen auf die Bedrohung durch äußere Feinde, allen voran Israel. So denken viele Syrer, die bis heute das Regime unterstützen.

 

»Du weißt, dass dein Onkel noch in Syrien ist.« Dann bot der Botschafter mir einen Deal an.

 

»Kolshi tamam fi Dimashq – In Damaskus ist alles in Ordnung.« Dieser Satz ist seit Beginn der bewaffneten Rebellion im Land zu einem Mantra für die Anhänger des Regimes geworden. Es gibt Syrer, die aus Angst so antworten, wenn sie über die Lage in ihrem Land befragt werden. Andere voller Selbstbewusstsein. In jedem Fall sind sich viele Syrer sicher, dass die syrische Armee ausschließlich gegen Terroristen kämpft. Sie würden nie von Krieg reden, sondern von »Anti-Terror-Operationen«. In Sofia war dieser Zustand der Realitätsverweigerung in den ersten Jahren der Rebellion deutlich zu erkennen.

 

Der Teil der syrischen Gemeinschaft, der die Assad-Regierung unterstützte, organisierte Demonstrationen und Versammlungen, zu denen bulgarische Gäste, Freunde und sogar Vertreter der lokalen Behörden eingeladen waren, um die »Einheit des syrischen Volkes« zu demonstrieren. Natürlich ist damit die Einheit unter dem Banner des Regimes gemeint. Die Tatsache, dass sich ein großer Teil desselben Volkes gegen die Regierung erhoben hatte, ignorierten die Assadisten konsequent, und als das nicht mehr möglich war, reagierten sie mit Häme und Verzerrung. Die Richtung war eindeutig: Die Rebellion musste als terroristischer Angriff auf den säkularen Staat dargestellt werden.

 

Es ist kein Geheimnis, wer in Bulgarien die syrische Regierung unterstützt. Ich kenne viele dieser Menschen, seit den Tagen, als ich mich im syrischen Studentenwerk engagierte und mein Vater in der Botschaft arbeitete. Diese Bekanntschaften datierten lange vor dem Ausbruch der Rebellion. Stück für Stück gingen diese Beziehungen seit 2011 in die Brüche. Für viele Syrer in Bulgarien wurde ich zum Verräter – andere verhöhnten mich als verwöhnten Jungen, der sich gegen seinen Vater und den Staat auflehnt.

 

Seit 2011 nehmen Druck und psychologische Schikanen zu. Das betrifft keineswegs nur meine Person, sondern richtet sich gegen all jene, die öffentlich ihre Ablehnung der Politik der syrischen Regierung zum Ausdruck bringen, egal ob im Land selbst oder Tausende Kilometer entfernt. Beleidigungen, Anschuldigungen, Faktenverdrehung – das sind nur einige der Methoden, mit denen Zwang ausgeübt wird, ohne direkt Gewalt anzuwenden.

 

Vor Beginn der syrischen Revolte hatte Damaskus überwiegend erfahrene Diplomaten entsandt. Aber da Bulgarien sich nun eben zum wichtigen Bezugspunkt für das Assad-Regime in Europa entwickelte, verändert sich auch das Profil der Botschaftsmitarbeiter. Die Neuen waren nur auf dem Papier Diplomaten. Ihr eigentlicher Zweck war es, Informationen über die Aktivitäten der Opposition in der syrischen Gemeinschaft und die öffentliche Meinung in Bulgarien zu sammeln.

 

Diese Taktik fand natürlich auch in anderen Ländern Anwendung, in denen das Regime seine diplomatischen Vertretungen weiter betreibt. Mit Hilfe von Zuwendungen syrischer Geschäftsleute, die in Bulgarien leben, konnten regimefreundliche Kundgebungen und andere Veranstaltungen schnell und effizient auf die Beine gestellt werden. Einige dieser Geschäftsleute sind auch als Großspender für Medienhäuser und politische Parteien in Bulgarien bekannt.

 

2013 wurde ich von Botschafter Baschar Safia vorgeladen. Ich war mir fast sicher, was folgen würde. Der neue Vertreter des syrischen Regimes in Sofia kam bekanntlich aus den Reihen des Geheimdiensts. Das Gespräch war eher ein Monolog. Der Botschafter hielt einen Vortrag über die Situation in Syrien, die ich seiner Meinung nach nicht richtig verstanden hatte. Safia ließ niemanden in den Raum und da es um mein Arabisch nicht zum Besten bestellt war, begann er auf Englisch.

 

Das Gespräch folgte schnell den allseits bekannten Mustern, nach denen solche Treffen eben stattzufinden haben. Safias vielseitiges Repertoire an Phrasen reichte von: »Auch ich habe die Proteste anfangs unterstützt, aber ...« über »Ich glaube, Baschar Al-Assad hat Fehler gemacht, aber ...« zu »In Syrien ist ein Komplott am Werk, wenngleich die Lügen sehr gut aufgezogen sind.« Nicht fehlen durfte auch die Aufforderung: »Sie sind jung und können das gar nicht verstehen – lassen Sie sich nicht manipulieren!« Wer nach diesem Sermon immer noch nicht weichgekocht ist, der muss sich auf direkte Drohungen gefasst machen. In meinem Fall dauerte das nicht lange. Ich erinnere mich noch genau an die Worte des Botschafters: »Du weißt, dass dein Onkel noch in Syrien ist.«

 

Die Botschaft hatte offensichtlich ein Problem mit meinen Veröffentlichungen in bulgarischen Medien und mit den Thesen, die ich im Fernsehen verteidigte. Der Botschafter bot mir einen Deal an: »Veröffentliche ein Interview mit mir auf deinem Blog.« Dabei öffnete er eine Schublade an seinem Schreibtisch, »und dieser Ordner geht nicht nach Syrien. Verstehe mich nicht falsch: Ich möchte gar nicht so weit gehen, also musst du etwas dafür tun, sie zu beruhigen.« Mit »sie« meinte er seine Vorgesetzten in Damaskus. Mir blieb keine andere Wahl. Widerwillig willigte ich ein.

 

Die Schlacht um die Deutungshoheit fiel aus – und das Narrativ des Assad-Regimes dominiert die öffentliche Meinung.

 

Ich erzähle diese Geschichte aus gutem Grund. Die in diesem Interview in der Zeitschrift Standard 2013 geäußerten Positionen werden zwei Jahre später von kremltreuen Kommentatoren aufgegriffen und in den Massenmedien in Bulgarien wiederholt: ein Land im Krieg auf Leben und Tod gegen den Terrorismus; ein Führer, der eine politische Lösung anstrebt; eine Opposition, die aus Islamisten besteht, die aufs Töten von Christen aus ist und gegen die Armee zu Felde zieht, anstatt sich an den Verhandlungstisch zu setzen; dass es keine Flüchtlinge gibt, sondern nur illegale Einwanderer.

 

Diese Argumentationsstützen wurden unter russischer Mithilfe in Syrien ersonnen und verbreiteten sich in Ländern, in denen die öffentliche Meinung beeinflusst werden konnte, so wie Bulgarien. Spätestens mit dem Aufkommen des sogenanntes Islamischen Staats (IS) hatte sich dann das Narrativ über den Syrien-Konflikt grundlegend verschoben: weg vom Regime und seiner Verantwortung für Repressionen gegen seine Bürger hin zum Krieg gegen den Terrorismus.

 

Schon 2012 ließ Assad verlautbaren, dass sein Land auf dem Weg sei, sich zu einem zweiten Afghanistan zu entwickeln. Die Welt müsse sich also zwischen den Dschihadisten oder seiner Regierung entscheiden. Nur wenige Monate später tauchten Gruppen wie die Nusra-Front auf der Bildfläche auf und lieferten den Assad-Apologeten neue Argumente. Dass Dschihadisten bereits 2012 gegen Aktivisten und Rebellen vorgingen, ist dabei eine Nuance, die zumindest in bulgarischen Medien meist unberücksichtigt blieb.

 

In dieser Atmosphäre des Ringens um Deutungshoheit und Einflussbereiche spielten Analysten, Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine große Rolle. Einige von ihnen gingen in der syrischen Botschaft in Sofia ein und aus, andere pflegten Freundschaften, die auf gemeinsame Studienzeiten in den 1980er Jahren in Damaskus zurückgingen oder aus der früheren Geheimdienstzusammenarbeit während des Kalten Kriegs erwuchsen.

 

In jeden Fall hat Baschar Safia seine Mission erfüllt. Der Preis: Ein schmutziges Bündnis mit der rechtsextremen Partei Ataka und deren Sprachrohren in Bulgarien – allen voran der gleichnamigen Zeitung und dem Fernsehsender Alpha TV. Ataka und ihrem Gründer Volen Siderov wird im Übrigen eine besondere Nähe zu Russland nachgesagt. Seine aktuelle Wahlkampagne führt Siderov direkt aus Moskau.

 

Im Fernsehen wurden Stichwortgeber des Regime-Narrativs aus der syrischen Gemeinschaft mitunter als »Mitglied der Vereinigung der Syrer in Bulgarien« angekündigt – eine Organisation, die sich 2011 nach Beginn der Proteste fast umgehend spaltete und sich kurz danach de facto auflöste und nur noch auf dem Papier existiert. Das Gros der Mitglieder waren natürlich Assadisten. Der Rest versuchte, sich ebenfalls zu organisieren, bekam aber nie die öffentliche Bühne wie die Regime-Anhänger. Und so blieb die öffentliche Schlacht um die Deutungshoheit aus.

 

Aus Geheimdienstkreisen heißt es, dass die bulgarischen Behörden das syrische Regime bei seinen Aktivitäten möglicherweise aktiv unterstützt. Bisher konnte das Regime zumindest ungestört im Land agieren. Eine Gruppe von Parlamentariern der bulgarischen Sozialisten besuchte im Jahr 2014 Damaskus und sorgte damit für einen handfesten diplomatischen Skandal. Laut Insidern sollen damals auch Waffendeals mit dem Regime besprochen worden sein. Die syrische Botschaft tut derweil ihr Bestes, um das Image des Regimes weiter aufzubessern und zeigt selbst auf Weihnachtsmärkten in Sofia Präsenz. Mindestens seit Ende 2017 soll die Botschaft sogar die einst einflussreiche syrische Opposition in Bulgarien allumfänglich infiltriert haben. Aktivisten schildern, dass die Botschaft über jegliche Planungen der Opposition bestens informiert sei.

 

Nach dem Ausbruch der Proteste im Jahr 2011 konnten Geschäftsleute durch die Finanzierung von teils aus ausländischen Kämpfern zusammengestellten Milizen auf ordentliche Profite hoffen. Dabei bewaffnete das Regime insbesondere kriminelle Gruppierungen, sogenannte Schabiha, die heute in Hama, Homs, Tartus oder Aleppo zu den einflussreichsten Milizen gehören. Einige dieser regimetreuen Geschäftemacher, wie der berüchtigte Samer Foz, unterhalten über Mittelsmänner auch enge Geschäftsverbindungen nach Bulgarien.

 

Warum das alles noch heute zählt? Im Jahr 2019 sind 5 Millionen Syrer auf der Flucht, rund 11 Millionen benötigen humanitäre Hilfe. In vielen Dörfern fehlt sauberes Trinkwasser, teils auch weil das Regime die Trinkwasserversorgung als bewusste Strafmaßnahme gekappt hat, so etwa im Dorf Madaya. Aleppo, einst pulsierende Handelsmetropole, ist noch immer weitgehend zerstört, die Hälfte der Bevölkerung vertrieben. In Homs oder Daraa sieht es nicht viel anders aus. Selbst in Damaskus sind ganze Vororte einfach vom Erdboden verschwunden.

 

In den Gefängnissen des Regimes sitzen 200.000 Menschen ein, weitere 1,5 Millionen Menschen werden per Haftbefehl gesucht, häufig nur deshalb, weil sie nicht zum Militärdienst angetreten sind. Mindestens 13.000 Menschen sind bisher allein im berüchtigtsten Folterknast Sednaya ums Leben gekommen. Mehr als 4.000 Frauen sitzen gerade ohne Urteil im Gefängnis. Laut Angaben mehrerer Menschenrechtsorganisationen sind sie systematisch Vergewaltigungen ausgesetzt.

 

Mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass ein Krieg in Syrien wohl unausweichlich war. Früher oder später musste das System, auf das sich das Regime stützte, so ausgehöhlt sein, dass es sich nur noch mit offener Gewalt am Leben halten konnte. Das Regime brach den Bürgerkrieg in Syrien in dem Moment vom Zaun, als der Sicherheitsapparat aktiv intervenierte und Assad und seine Clique deutlich machten, dass sie unter keinen Umständen zum Rückzug bereit sind. Seitdem gab es kein Zurück mehr.

 

Doch bevor ich zu dieser Analyse kommen konnte, mussten mir die Augen geöffnet werden. Bei den Demonstrationen gleich zu Beginn des syrischen Aufstands verlor ich einen guten Freund. Er wurde niedergetrampelt, als die Demonstranten in Panik gerieten, nachdem Soldaten auf den Protestzug losstürmten. Und dann sah ich die Bilder aus Homs. Im Mai 2011 ließ das Regime Panzer in der drittgrößten Stadt des Landes auffahren. In diesen Moment verlor das Regime in meinen Augen jegliche Legitimität.

 

Acht Familienmitglieder und unzählige Freunde sind seitdem Assads Krieg zum Opfer gefallen. Während der schwierigen Momente seit Beginn des Krieges in Syrien habe ich mir eine Frage immer wieder gestellt: Was wäre, wenn ich nicht auf der Seite der Opposition stehen würde, sondern weiterhin die syrische Regierung unterstützen würde? Ich denke, ich bin nicht der einzige Syrer, dem dieser Gedanke durch den Kopf geht.

 

Was 2011 begann, hat alles verändert. Die politischen Gräben sind tief. Viel gravierender aber fühlt sich der innere Bruch an. Das Gefühl der Leere und die Erkenntnis, dass man sich ein Leben lang belügen ließ. Man fühlt sich wie ein Trottel, weil man den Lügen so lange aufgesessen ist. Selbstgeißelung ist typisch für Menschen, die erkennen, dass sie Teil des Problems waren und einen Weg suchen, sich davon freizumachen. Und doch denkt man an seine Freunde, an die scheinbar heile Welt vor dem Krieg, an das, was man verloren hat – und sehnt sich nach diesen Zeiten zurück. Es ist ein verlockendes, aber überaus gefährliches Gefühl von Freiheit. Man fühlt sich in der Gegenwart so eingeschränkt, dass man das Gefängnis der Vergangenheit glorifiziert.

 

Ich habe Freunde und Verwandte verloren, meine Familie wurde unter Druck gesetzt, ich bin Beleidigungen und Unterstellungen ausgesetzt. All das wäre mir vielleicht erspart geblieben, wenn ich weiter in meiner Blase gelebt hätte. Und dennoch: Heute, acht Jahre später, würde ich mich wieder so entscheiden.


Ruslan Trad ist ein syrisch-bulgarischer Analyst und Journalist. Er beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit den politischen Entwicklungen in der MENA-Region, der Türkei und dem Balkan. Er ist Mitgründer des Blogs De Re Militari und Autor des Buches »The Murder of a Revolution« (2017).

Von: 
Ruslan Trad

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