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Das Assad-Regime und das Captagon

Eine Pille, sie zu knechten

Feature
Das Assad-Regime und das Captagon
Im Jahr 2022 wurden in der gesamten Region rund 370 Millionen Captagon-Tabletten beschlagnahmt. Saudi Press Agency

Jordanien setzt alles daran, den Drogenschmuggel einzudämmen, führt wöchentlich Militäroperationen auf syrischen Territorium durch – und droht in den Regionalkonflikt vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs gezogen zu werden. Wer hinter dem Captagon-Handel steckt und was auf dem Spiel steht.

Mitte Januar hat der syrisch-jordanische Konflikt einen neuen Höhepunkt erreicht: Bei einem Drohnenangriff kamen mindestens zehn Bewohner der syrischen Provinz Suwaida ums Leben. An der Nordgrenze führt das Haschemetische Königreich einen Drogenkrieg und greift immer härter durch. Zuletzt mehrten sich Berichte, dass auch immer mehr Waffen geschmuggelt werden – und nach dem Drohnenanschlag durch den Milizenverbund »Islamische Widerstandsfront« am 28. Januar, bei dem drei US-Soldaten auf jordanischem Boden starben, droht das Grenzgebiet auch in den regionalen Konflikt vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs hineingezogen zu werden.

 

Über die Hintergründe des Captagon-Schmuggels hat zenith in diesem Beitrag im Syrien-Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe 2/23 berichtet.

 

Mehr als tausend Lastwagen stehen im Sommer 2023 in der prallen Sonne am syrisch-jordanischen Grenzübergang Nassib. Der Wind wirbelt Sand auf, Händler sitzen auf Klappstühlen vor ihren Lastwagen und warten darauf, von den Zöllnern nach Jordanien durchgewunken zu werden. Der Weg vieler Fahrer führt weiter nach Al-Haditha in Saudi-Arabien. Doch die Jordanier legen mit ihren Kontrollen den Grenzverkehr lahm. Zehn Tage warten die Lkw. Trotz Kühlaggregaten schmort die Fracht: Tomaten, Wassermelonen und Blumenkohl. Nach zermürbenden Tagen kehren viele Fahrer um. Sie haben Angst, dass ihre Ladung verdirbt.

 

Der Grund für den Stau liegt in der saudischen Hauptstadt Riad. Vordergründig geht es um strengere Sicherheitsvorschriften für Fahrzeuge, die ins Land kommen – sie dürfen jetzt zum Beispiel nicht älter als 20 Jahre sein. Tatsächlich zielen die Maßnahmen auf den Schmuggel von Captagon. Denn weil die wenigsten Lastwagen aus Syrien den neuen Vorschriften entsprechen, dürfen sie nicht mehr einreisen und können, so die Logik, auch keine Drogen mehr nach Saudi-Arabien schmuggeln. Gemeinsam mit Jordanien fährt das saudische Königshaus also schwere Geschütze auf im Kampf gegen die Pillen.

 

Die Droge ist ebenso beliebt wie geächtet. Captagon, auch bekannt als »Abu Hilalain – Vater der Halbmonde«, wird mittlerweile überall in der Region konsumiert. Ob Bauarbeiter in Jordanien, Studentinnen in Saudi-Arabien oder Söldner in Syrien. Ihnen allen hilft Captagon durch den Alltag. Und so ist längst ein Drogenkrieg entbrannt: Luftwaffe gegen Drogenbarone, Zöllner gegen Schmuggler, Drohne gegen Drohne. Die jordanisch-syrische Grenze ist einer der Dreh- und Angelpunkte dieses Katz-und-Maus-Spiels.

 

Im internationalen Drogenhandel spielte Captagon lange Zeit keine Rolle. In den 1960er Jahren von der deutschen Degussa als Medikament entwickelt, wurden die Tabletten bereits ab den 1980er-Jahren verboten. Sie halfen zwar gegen ADHS, machten aber auch süchtig. In den folgenden Jahren wurden die Pillen unter dem bekannten Markennamen Captagon im Untergrund weiter produziert, vor allem in Bulgarien und der Türkei. Als die Behörden auch dort durchgriffen, verlor sich die Spur der Tabletten, bis sie im syrischen Bürgerkrieg wieder auftauchten.

 

In den Kriegswirren seit 2011 ist die syrische Wirtschaft zusammengebrochen. Das Regime um Präsident Baschar Al-Assad suchte damals dringend nach neuen Einnahmequellen, um den Krieg und den eigenen Machterhalt zu finanzieren. Schon früh setzte Assad auf ein Geschäft, in dem sich sein Machtzirkel bestens auskennt: die Produktion und den Verkauf von Drogen. Wie im benachbarten Libanon spülte auch in Syrien der Anbau von Opium lange Zeit viel Geld in die Kassen. Die Produktion auf den Plantagen in der Bekaa-Hochebene im Osten des Libanon, der sogenannten Obst- und Gemüsekammer des Landes, brachte 1992 nach
Angaben einer Expertenkommission des US-Repräsentantenhauses bis zu einer Milliarde US-Dollar ein.

 

Zwischen der Bekaa und der syrischen Hauptstadt Damaskus entstand in diesen Jahren ein Netzwerk, das das Regime seit Beginn des Krieges 2011 reaktiviert hat. Syrische Geheimdienstler und Militärs schützen Drogenbanden, Produktionsstätten und Transportwege und werden dafür am Gewinn beteiligt – während die Regierung öffentlich jede Verbindung zu den Kriminellen abstreitet. Aus kleinen Labors in den Kellern von Wohnhäusern sind so ganze Industrieanlagen erwachsen – geschützt von Söldnern, privaten Sicherheitsfirmen, der syrischen Armee und Luftwaffe.

 

Die vierte Division der syrischen Streitkräfte bildet laut Medienberichten und Einschätzung westlicher und arabischer Geheimdienste gewissermaßen das Rückgrat des Captagon- Handels in Syrien. Unter dem De-Facto-Kommando von Assads jüngerem Bruder Maher ermöglichen die Soldaten die Nutzung von Transportwegen, die sonst dem Militär vorbehalten sind, etwa am Mittelmeerhafen Latakia. Aber auch im eigenen Land wächst seit 2011 die Nachfrage. Der Amphetamin-Cocktail, der längst nicht mehr den Wirkstoff des namensgebenden Medikaments aus den 1960er-Jahren enthält, soll gegen Depressionen und Langeweile helfen. Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS), der syrischen Armee, der Demokratischen Kräfte Syriens, der Freien Syrischen Armee oder der Miliz Hayat Tahrir Al-Scham nehmen Captagon, weil es ihr blutiges Handwerk erträglich macht.

 

Dass das syrische Regime die Drogenproduktion in den letzten Jahren hochgefahren hat, ist mittlerweile gut dokumentiert. So zeigen Satellitenbilder Labore in vom Regime kontrollierten Gebieten. Auch die Zahlen zeichnen ein eindeutiges Bild: Laut dem aktuellen Jahresbericht der UN-Behörde für Drogen- und Verbrechensbekämpfung wurden im Jahr 2021 rund 85 Tonnen Amphetamine in der Region beschlagnahmt. Zehn Jahre zuvor waren es noch 20 Tonnen.

 

Besonders die Statistik in Jordanien fällt ins Auge: 2011 entdeckten die Behörden dort 3,5 Tonnen an Amphetaminen, fünf Jahre später waren es bereits 13,5 Tonnen – also die vierfache Menge. Der amerikanische Think Tank »New Lines Institute« schätzt, dass 2022 in der gesamten Region rund 370 Millionen Captagon-Tabletten beschlagnahmt wurden. Die Höhe der Einnahmen ist hingegen schwer abzuschätzen.

 

Der Preis pro Tablette schwankt stark zwischen 0,5 und 15 US-Dollar, je nach Qualität der Inhaltsstoffe und Länge des Transportweges. Fest steht, dass die Sicherheitsbehörden in der Region jährlich Captagon mit einem Straßenverkaufswert in Milliardenhöhe beschlagnahmen. Die Dunkelziffer liegt naturgemäß höher. Caroline Rose, Forschungsleiterin am »New Lines Institute«, hält es für unmöglich, genau zu errechnen, wie viel Captagon tatsächlich im Umlauf ist. Die Schmuggelrouten sind vielfältig und erstrecken sich über das gesamte Mittelmeer und den Suezkanal. Gut dokumentiert ist hingegen, wo sich die größten Absatzmärkte befinden: in Jordanien und den Golfstaaten.

 

Das Assad-Regime und das Captagon
Die jordanisch-syrische Grenze ist einer der Dreh- und Angelpunkte des Katz-und-Maus-Spiels im Drogenkrieg.Foto: Boaz Yoffe / boazyoffe.com

 

Bei Deraa, der Hochburg des Widerstands zu Beginn der Revolution, beginnt die Grenze zwischen Jordanien und Syrien. Sie zieht sich über 362 Kilometer und ist damit die längste, die das Haschemitische Königreich mit einem Nachbarland teilt. Seit 2018 kontrollieren Assad-treue Soldaten wieder die syrischen Provinzen entlang dieses Streifens. Gefechte mit einzelnen Milizen gingen jedoch weiter, bis sich 2021 nach heftigen Kämpfen in der Kleinstadt Yadouda nahe der jordanischen Grenze Damaskus und die Oppositionskräfte auf ein Abkommen einigten. Wer sich dem Geheimdienst stellt und seine Waffen abgibt, erhält im Gegenzug einen Personalausweis und kann sich frei bewegen. Nach einem halben Jahr müssen die ehemaligen Kämpfer der syrischen Armee beitreten.

 

Deraa steht sinnbildlich für den Süden Syriens: Wer nicht getötet wurde, ist entweder nach Idlib geflohen oder zum Regime übergelaufen, dem Assad-Regime gegenüber loyale Beduinen aus dem Osten des Landes wurden an die jordanische Grenze umgesiedelt und mit Waffen und Hoheitsrechten ausgestattet. Iranische Militärbasen durchziehen die Region: Deportation und Zwangsumsiedlung, Flucht und die ständige Präsenz iranisch-russischer Patrouillen haben den Süden Syriens in einen Flickenteppich verwandelt. Hier entscheiden die Waffen darüber, wer das Sagen hat.

 

Der Drogenhandel blüht in der Region. Mit einer Strategie aus Zermürbung, Kooptation und finanziellen Anreizen hat Damaskus die Opposition untergraben, der nach der Kapitulation eine Beteiligung am Einkommen aus dem Drogenhandel in Aussicht gestellt wurde. Laut Caroline Rose wurden hier auch aus strategischen Gründen Warenhäuser zu Captagon- Lagern umfunktioniert, um eine verstärkte Sicherheitspräsenz nahe der jordanischen Grenze rechtfertigen zu können.

 

»Oh Baschar, du Lügner. Verdammt seien du und deine Worte. Die Freiheit steht vor der Tür, verpiss dich.« So schallt es im Spätsommer 2023 durch die Straßen von Suweida. Grün-rot gelb-blau-weiß weht die Fahne der Drusen über den Demonstranten, die kleine Religionsgemeinschaft stellt hier die Mehrheit. Vor dem Krieg lebten rund 700.000 Drusen in Syrien, davon 400.000 in Suweida, schätzt der französische Geograf Fabrice Balanche von der Universität Lyon II. Anstelle der syrischen Armee sorgten drusische Milizen im Auftrag von Damaskus für die Sicherheit der Provinz. Eine Liebesheirat war diese Zusammenarbeit jedoch nie.

 

Ein Großteil der Drusen schloss sich anfangs den Protesten an, nur wenige hielten dem Regime die Treue. Dann stellten Dschihadisten, allen voran die Jabhat Al-Nusra, in den ersten Kriegsjahren das drusische Kalkül auf den Kopf. In der Überzeugung, die Drusen seien regimetreue Ungläubige, verwüstete die Miliz im August 2013 das gebirgige Kernland der Gemeinschaft, den Jabal Al-Duruz.

 

Heute ist die Gemeinschaft gespalten in Fraktionen, die das Assad-Regime als einzig glaubwürdigen Sicherheitsgaranten erachten, in solche, die in einer neutraHaltung die besten Überlebenschancen sehen, und schließlich in Regimegegner, die die drusische Gemeinschaft für stark genug halten, um eigenständig zu agieren. Die Einheit der Drusen ist jedenfalls zerbrochen, und so haben die Menschen in Suweida heute nur die Wahl, sich von iranischen Milizen anheuern zu lassen und in den Captagon-Handel einzusteigen – oder auf der Straße zu leben.

 

Jordanien auf der anderen Seite der Grenze hat indes die Geduld mit dem Regime in Damaskus verloren. Verhandlungen über eine Eindämmung des Captagon-Handelsgelten in Amman als wenig zielführend. Amer Al-Sabaileh, Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaft an der Universität von Jordanien, erkennt in dem Konflikt ein Muster: »Schafe, Tabak und Waren des täglichen Bedarfs wurden schon immer nach Jordanien geschmuggelt, deshalb ist die Grenze von Zäunen durchzogen«. Mit der Zunahme des Captagon-Schmuggels sei die Lage aber eskaliert. Kaum eine Woche vergeht, in der die jordanische Grenzpolizei nicht auf Lieferdrohnen oder Schmuggler im Niemandsland schießt.

 

Doch vor allem im flachen Ostteil des Grenzstreifens finden die Drogenkuriere immer wieder Schlupflöcher. Und das, obwohl die Freie Syrische Armee gemeinsam mit den USA den Stützpunkt Tanf betreibt und von dort aus nach eigenen Angaben ebenfalls versucht, den Drogenschmuggel einzudämmen. Doch selbst hier gelingt es Schmugglern, die Grenze mit Lastwagen zu überqueren. Die Sicherheitskräfte auf beiden Seiten sind offensichtlich überfordert. Ein Grund mehr für Jordanien, das Gespräch mit Damaskus zu suchen.

 

Seit der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga verfügt Jordanien über direkte Kanäle zum Regime – und hat sogar ein syrisch-jordanisches Komitee zur gemeinsamen Drogenbekämpfung gegründet. Politologe Amer Al-Sabaileh erkennt darin eine Doppelstrategie Jordaniens. »Die direkte Kommunikation mit Damaskus hält das Regime nicht davon ab, Sicherheitsoperationen auf syrischem Boden durchzuführen.« Die bisherige Bilanz der Verhandlungen fällt jedenfalls enttäuschend aus: Wie der jordanische Außenminister Ayman Safadi auf einer Konferenz in Saudi-Arabien Ende September feststellte, nimmt der Drogenschmuggel sogar an Fahrt auf.

 

Die Verhandlungen mit Syrien hat die Arabische Liga im Herbst 2023 ausgesetzt. Ernüchtert erklärte Jordaniens König Abdullah II. auf dem »Middle East Global Summit« in New York am Rande der UN-Generalversammlung: »Ich weiß nicht, wie sehr Baschar Al-Assad die Situation unter Kontrolle hat.« Doch warum die Nachfrage nach Captagon im Haschemitischen Königreich weiter steigt, darüber spricht kein Offizieller gern.

 

Al-Sabaileh glaubt, dass vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit ein Grund dafür ist. Die Perspektivlosigkeit vieler jungen Jordanier habe das Land zu einem Drogenmarkt gemacht – und trägt so dazu bei, dass Assad-Regime finanziell über Wasser zu halten.

Von: 
Pascal Bernhard

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