Bislang hat sich der 2018 in Stockholm ausgehandelte Friedensplan für den Jemen als brüchig erwiesen. Ein Gefangenenaustausch macht nun Hoffnung, dass Frieden im Land doch möglich sein könnte.
Am 17. Oktober wurden nach einem Gefangenenaustausch zwischen der Regierung von Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi und den Huthi-Rebellen über 1.000 Inhaftierte freigelassen und zurück in ihre Heimat gebracht. Damit setzen die Konfliktparteien einen der drei Hauptaspekte des Stockholm-Abkommens um, das im Dezember 2018 mit Hilfe der Vereinten Nationen unterzeichnet worden war.
Noch im September hatten Delegierte beider Seiten die Einzelheiten des Vertrags in von der UN moderierten Gesprächen in der Schweiz ausgehandelt. Abdel-Qader Al-Mortada, ein Abgeordneter der Huthis, gab bekannt, dass auch der nächste Gefangenenaustausch schon vorbereitet wäre und nur noch in einem Treffen der Konfliktparteien mit den Vereinten Nationen final besprochen werden müsse.
Medienbeobachter und auch die UN bewerten den bislang umfangreichsten Gefangenenaustausch seit Ausbruch des Krieges 2015 als wichtigen Erfolg für Jemens Friedensprozess. Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, sprach von einem »wichtigen Schritt« für die weitere Umsetzung der Stockholm-Vereinbarung. Auch der Sonderbeauftragte für Jemen, Martin Griffith, erklärte gegenüber dem UN-Sicherheitsrat, dass Hoffnung für künftige positive Entwicklungen im Jemen bestehe.
Doch wie realistisch sind solche Erwartungen?
Klar ist: Nach dem Scheitern früherer Verhandlungen in Kuwait und Genf galt der Vertrag von Stockholm lange Zeit als potenzieller Durchbruch. Dabei dauerte es nicht lang, bis die ersten Komplikationen deutlich machten, das der Weg zu Deeskalation und Frieden weit sein würde.
Die britische Jemen-Expertin Helen Lackner jedenfalls ist skeptisch: »Das einzige Element des Vertrags, das ansatzweise implementiert wurde, ist die Einigung zu Hodeida. Doch seither ist sehr wenig passiert«, bilanziert die Forscherin von der SOAS University of London. »Es wurden zwar ein paar Leben im Gebiet der Hafenstadt gerettet, doch auf lange Sicht gesehen wurde nichts erreicht – das Abkommen ist quasi nutzlos.«
Fast zehn Millionen Menschen droht der Hungertod
Lackner spielt damit auf eine weitere Kernkomponente des Vertrags von Stockholm an, der sich mit der strategisch wichtigen Hafenstadt Hodeida befasst. Die war 2014 von Huthi-Rebellen eingenommen worden und seitdem regelmäßig Angriffen der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz ausgesetzt. Hodeida ist der wichtigste Hafen des Landes. Täglich kommen dort Güter an, ohne die ein Großteil der Einwohner nicht überleben kann, schließlich ist der Jemen abhängig von Importen nahezu aller Güter der Grundversorgung.
Laut UN herrscht im Jemen seit 2017 die größte humanitäre Krise der Welt: Über 70 Prozent der Bevölkerung leiden unter Nahrungsunsicherheit, fast zehn Millionen Menschen droht der Hungertod. Sowohl für die Zustellung humanitäre Hilfspakete von Organisationen wie dem World Food Programme (WFP) als auch für kommerzielle Importe ist der Betrieb des Hafens von Hodeida unerlässlich. Der Waffenstillstand und die Entmilitarisierung des Gebiets sollten dies eigentlich gewährleisten.
Doch selbst die Einigung über Hodeida und den Hafen, von Lackner noch als Erfolg gewertet, konnte nicht vollkommen umgesetzt werden. Und das, obwohl sie als Hauptfokus des Stockholm-Vertrags gilt und die meiste Aufmerksamkeit der zuständigen UN-Sonderkommission erhielt.
Im ersten Jahr nach Unterzeichnung des Abkommens meldeten die Streitkräfte der Hadi-Regierung über 13.000 Verstöße seitens der Huthi-Milizen gegen die in Stockholm vereinbarten Bedingungen, darunter mehrere hundert kriegerische Handlungen. Dennoch galt der Waffenstillstand zunächst als Erfolg, denn zum Zeitpunkt der Unterzeichnung wendete er eine potenziell katastrophale Angriffswelle ab und trug so zum Schutz der Zivilbevölkerung bei. Laut UN-Angaben konnten 150.000 Binnenflüchtlinge dank des Waffenstillstands nach Hodeida zurückkehren, humanitäre Hilfeleistungen erreichten wieder vermehrt Bedürftige.
Doch die größte Baustelle des Stockholm-Abkommens bleibt Taiz, nach dem Gefangenenaustausch und der Entmilitarisierung von Hodeida die dritte wichtige Komponente des Stockholm-Vertrags. Vorgesehen war die Gründung eines Komitees, das über die Zukunft von Taiz beraten soll – das gibt es mittlerweile zwar, doch getroffen haben sich seine Mitglieder noch nie.
Die gemeinsame Kommission mit Vertretern der Konfliktparteien, der Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft sollte auf die Deeskalation des Distrikts Taiz hinarbeiten und regelmäßig über Fortschritte berichten. Doch seit der Unterzeichnung des Stockholm-Vertrags wurde weder über Erfolge bezüglich der Kommissionsarbeit berichtet, noch verbesserte sich die Konfliktsituation in der Region.
»Bis heute hat sich das Komitee nicht einmal getroffen« schreibt Olifat Al-Dubei in einem Artikel. Die aus Taiz stammende Universitätsprofessorin und ehemalige Forscherin für Übergangsjustiz bei der Nationalen Dialogkonferenz (NDC) ist überzeugt, dass die fehlende Präzision der Vereinbarung und mangelnder Druck seitens der UN dazu führten, dass die Bemühungen im Sand verliefen.
Auch die UN selbst erkannten In ihrem Jemen-Jahresbericht 2019 die Schwächen des Stockholmer Abkommens bezüglich Taiz und kündigten an, sich in Zukunft mehr der Umsetzung widmen zu wollen, um das Leid der Einwohner zu mindern. Nun hat sich, auch aufgrund der Corona-Pandemie, die Lage im Land seit Veröffentlichung des Berichts jedoch noch weiter verschlechtert.
Bevor es Frieden geben kann, muss Vertrauen aufgebaut werden
Ist der Jemen also genauso weit von Frieden entfernt wie noch vor der Unterzeichnung des Stockholm-Abkommens?
Ursprünglich hatten die Hadi-Regierung und die Huthi-Vertreter vereinbart, innerhalb eines Monats mehr als 15.000 Gefangene auszutauschen, sogar Namenslisten waren bereits vorbereitet. Doch weder wurde die Frist eingehalten, noch die erhoffte Zahl der Freilassungen erreicht. Innerhalb des ersten Jahres nach Unterzeichnung wurden laut einer Analyse des »Middle East Institute« weniger als fünf Prozent aus den Gefängnissen der Konfliktparteien entlassen. Selbst nach dem kürzlich erfolgten Austausch wartet ein Großteil der Gefangenen auf beiden Seiten weiterhin auf Freilassung.
Im Oktober 2020 nahmen außerdem die Konfrontationen in der Provinz Hodeida wieder an Intensität zu. Mehrere dutzend Soldaten und Zivilisten sind trotz des eigentlich vereinbarten Waffenstillstands ums Leben gekommen. Die ohnehin unsichere Versorgung mit Grundnahrungsmitteln ist weiter stark gefährdet und auch der weitere Gefangenenaustausch scheint mittlerweile unsicher.
Dass es heute kaum vorangeht, daran ist laut der Jemen-Expertin Lackner auch die Tatsache schuld, dass die Huthis weiterhin vom Krieg profitieren, während die gegnerischen Fraktionen zu zersplittert sind, um sich gemeinsam gegen die Rebellengruppe zu stellen. »Solange es keine annähernd zusammenhängende Allianz gegen die Huthis gibt, können die Verhandlungen keine Fortschritte erzielen.«
Trotz offensichtlicher Umsetzungsschwierigkeiten sehen andere Experten den Vertrag von Stockholm weiterhin als wichtigen Teil des Friedensprozesses. »Der Vertrag hat sicherlich seine Schwächen, aber es geht um Konfliktmanagement«, erklärt Raiman Al-Hamdani. »Im Jemen herrscht jene Art von Konflikt, in dem beide Seiten noch nicht bereit sind, sich zu einigen«, sagt der Experte für Sicherheit und Friedensförderung am Thinktank Yemen Policy Center.
Bevor eine dauerhafte Friedensregelung erreicht werden kann, muss also Vertrauen aufgebaut werden. Das Stockholm-Abkommen ist laut Hamdani nur eine von vielen noch nötigen Maßnahmen, um die Konfliktparteien langsam zu mehr Kompromissbereitschaft zu bringen.
»Obwohl der Gefangenenaustausch zu gering ausfällt und zu spät kommt, ist er trotzdem ein wichtiger Durchbruch für den Friedensprozess«, glaubt auch Abdulghani Al-Iryani, Forschungsgruppenleiter des Sana’a Center for Strategic Studies. Allerdings nur unter einer Bedingung: »Wenn weitere Taten folgen.«