Der Friedensnobelpreis für den äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed hat viel mit der neuen Rolle der Golfstaaten in der internationalen Politik zu tun; und einer neuen Strategie, auf die wir eine Antwort finden müssen.
Als der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed jüngst in Oslo den Nobelpreis entgegennahm, war die Begeisterung auf deutscher Seite groß. Er wünsche sich, dass Ahmeds »großer Mut zu Reformen in vielen Ländern Schule macht. Auf Deutschlands Unterstützung kann Äthiopien zählen«, erklärte beispielsweise Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Kurz zuvor hatte er den Start einer vertieften Reformpartnerschaft zwischen Deutschland und Äthiopien verkündet.
Ahmed hat die Aussöhnung zwischen den bisher verfeindeten ostafrikanischen Staaten Äthiopien und Eritrea angestoßen. Das eint Familien und senkt die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen. Auch wenn die aktuelle Lage durchaus Anlass zu Skepsis bietet. Seit einiger Zeit ist die Grenze zwischen beiden Ländern schon wieder geschlossen. Die Annäherung war keineswegs nur die Folge eines friedlichen Sinneswandels, denn sie fand maßgeblich auf Vermittlung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate statt. Dass es beiden Staaten dabei ausschließlich um humanitäre Gründe ging, ist indes nicht anzunehmen.
Das Interesse der Emirate am Horn von Afrika mag auf den ersten Blick überraschen. Es folgt aber einer tieferen Logik, welche die internationale Politik schon umfassend verändert hat. Nicht nur in Ostafrika, sondern auch in Zentralasien, Südostasien oder gar in Pakistan. Es ist die Logik der Lieferketten. Der Hintergrund des Friedensvertrags zwischen Eritrea und Äthiopien zeigt: Wer die Lieferketten regiert, regiert die Welt.
It´s a Supply Chain World
Lieferketten sind Organisationssysteme, um Ressourcen von A nach B zu bekommen. Und die Bedeutung globaler Lieferketten steigt. Der Anteil von Exporten an der Weltwirtschaft ist heute um 25 Prozent höher als im Jahr 2000, mehr als doppelt so hoch wie 1970 und sechs Mal höher als 1945. Zunehmender Export treibt die Weltwirtschaft an. Die Basis des Wachstums: Riesige Infrastrukturinvestitionen, die Wege verkürzen, Wissen zugänglich machen, Menschen zusammenbringen, Handel erleichtern. Der indische Globalisierungsvordenker Parag Khanna hält es für möglich, dass in den nächsten 40 Jahren mehr Infrastruktur wie Kabel, Straßennetze, Tunnel, und Eisenbahntrassen geschaffen werden, als in den letzten 4000 Jahren zusammen.
Und gerade außerhalb des sogenannten Westens sind es mittlerweile wieder Staaten, und nicht mehr nur die Privatwirtschaft, die die Bedeutung globaler Lieferketten und digitaler Plattformen erkannt haben und deren Entwicklung mit Nachdruck vorantreiben. Im Rahmen von Chinas Entwicklungsvorhaben »Belt and Road Initiative« werden in mehr als 125 Ländern Infrastrukturprojekte in Billionenhöhe umgesetzt. Die Initiative wird aufgrund ihres gigantischen Umfangs – und der naiv klingenden Zielsetzung eine »strahlende Zukunft herbeizuführen« – hierzulande oft verlacht. Die Weltpolitik prägt das Projekt derweil schon heute.
Etwa in Laos, wo eine arme Regierung allein für den Bau der Laos-China Bahn Verbindlichkeiten in Höhe von über 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angehäuft hat und sich für die Hoffnung auf einen bevorstehenden Wirtschaftsboom, wie viele andere südostasiatische Staaten, in eine gefährliche Abhängigkeit zu China begeben hat. Oder in Sri Lanka: Chinesische Einflussnahme rund um ein Hafenprojekt im Rahmen der Maritime Silk Road Initiative hat das Land in eine tiefe politische Krise gestürzt, weil viele das Land in einer Schuldenfalle gegenüber China sehen, und anti-chinesische Ausschreitungen befeuert. In Sambia und zahlreichen anderen afrikanischen Staaten werden mit chinesischen Investitionen Wasserwerke, Autobahnen und Flughäfen gebaut. Anti-chinesische Zwischenfälle häufen sich mittlerweile auch hier, doch die Wirtschaft wächst kräftig.
In Pakistan, einem der engsten Verbündeten Chinas, können Investitionen in Höhe von über 60 Milliarden US-Dollar in Verkehrswege – wie den Ausbau des Karakoram Highway, Eisenbahntrassen und das Tiefwasserhafenprojekt Gwadar – nach Hoffnung pakistanischer Behörden über zwei Millionen Jobs schaffen. Auch die Sicherheitsarchitektur des Landes verändert das. Viele Investitionen fließen in Landesteile mit angespannter Sicherheitslage, wie die Provinz Belutschistan. Der Druck auf die pakistanische Regierung, für nachhaltige Stabilität im eigenen Land zu sorgen, und einen Ausgleich mit Islamisten und Separatisten zu finden, ist dadurch so hoch wie nie zuvor. Immerhin ist die pakistanische Armee ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und profitiert selbst stark von chinesischen Infrastrukturinvestitionen.
Die Golf-Formel und das Horn von Afrika
Was das alles mit dem Friedensnobelpreis für Abiy Ahmed zu tun hat? Womöglich eine ganze Menge. Denn wie China hat auch die emiratische Führung die außenpolitische Bedeutung der Supply Chain verstanden. Dubai und – in geringerem Umfang – Abu Dhabi verdanken ihren Aufstieg zu internationalen Wirtschaftszentren nicht nur dem Öl, sondern vielmehr der Logik globaler Lieferketten. Menschen, Ideen, Waren aus aller Welt strömen angetrieben von Häfen, Freihandelszonen und den weltumspannenden Flugnetzen von Etihad und Emirates an den Golf. Ob man will oder nicht: Die Golf-Formel basierend auf autoritärem Staatsverständnis, effizienter Transportinfrastruktur und hohem Wirtschaftswachstum ist das Entwicklungsmodell der Stunde.
Und wie China stellen die Emirate den Schutz globaler Handelswege und Wirtschaftsplattformen als Wahrung eigener Kerninteressen immer konsequenter in den Mittelpunkt ihrer Außenpolitik. Abu Dhabi spielt die strategische Überlappung emiratischer Außenpolitik und gezielter weltweiter Wirtschaftsinvestitionen zwar offiziell gerne herunter und verweist darauf, dass emiratische Unternehmen wie die Hafengesellschaft Dubai Port World formal in Privatbesitz seien. Doch Experten wie der Analyst Rohan Advani gehen davon aus, dass Staat und Privatwirtschaft tatsächlich eng miteinander verquickt sind. Folglich würden neben geostrategischen auch wirtschaftliche Interessen die emiratische Außenpolitik prägen, wie Advani in einem Report für die progressive amerikanische Denkfabrik Century Foundation schlussfolgert.
Das Horn von Afrika ist dabei – neben der Nähe zum Krisenherd Jemen – aus zwei Gründen besonders interessant. Zum einen fließt ein großer Teil des Welthandels auf dem Weg zum Suezkanal durch die Meerenge Bab Al-Mandab vor der eritreischen Küste. In der Welt der Interkonnektivität ist das Horn eines der wichtigsten neuralgischen Punkte. Zum anderen ist Äthiopien mit seiner Bevölkerung von 105 Millionen Menschen und kräftigen Wirtschaftswachstumsraten gerade der weltweit heißeste Zukunftsmarkt, dessen weiterer Anschluss an die globale Supply Chain eine hohe Investitionsdividende verspricht. Gerade die Textilindustrie könnte sich in den nächsten Jahren zunehmend aus Südasien nach Äthiopien verlagern.
Mit der Unabhängigkeit Eritreas 1993 wurde Äthiopien aber zum Binnenstaat und hat durch die bisher geschlossene Grenze zu Eritrea nur über Umwege – etwa Djibouti – Zugang zum Horn von Afrika und damit zu den Weltmärkten. Und die Emirate könnten davon doppelt profitieren. In der eritreischen Hafenstadt Assab betreiben sie bereits eine Militärbasis. Und Assab is keinesfalls das einzige Projekt der Emiratis am Horn. Die Dubai Port World hat dort nicht weniger als 13 Hafenprojekte in Planung oder bereits umgesetzt; so zum Beispiel in Kismayo in Somalia oder in der Stadt Berbera in der separatistischen Provinz Somaliland. Aus dem benachbarten Djibouti ist die Dubai Port World nach einem Korruptionsskandal unterdessen vorerst rausgeflogen.
In Djibouti sind wiederum die Chinesen besonders präsent. Sie unterhalten hier eine Militärbasis und haben zahlreiche weitere Infrastrukturprojekte realisiert. Kein anderes Land schuldet China im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt so viel Geld wie Djibouti. Doch die Golfstaaten haben am Horn im Supply-Chain-Wettstreit mit China nicht nur geographisch einige Vorteile. Handels- und Migrationsnetzwerke zwischen der Region und den Golfstaaten bestehen schon seit Jahrhunderten. Eritrea ist Beobachterstaat in der Arabischen Liga.
Kein Wunder also, dass dem Friedensvertrag zwischen Eritrea und Äthiopien laut Annette Weber von der Stiftung für Wissenschaft und Politik lange diplomatische Vorverhandlungen unter Schirmherrschaft der Emiratis und dem eng verbündeten Saudi-Arabien vorangingen. Eine Einschätzung, die von anderen Beobachtern wie der International Crisis Group geteilt wird. Auch ein hochrangiger Vertreter der äthiopischen Regierung räumte gegenüber Reuters Treffen mit emiratischen Emissären in Vorfeld des Friedensabkommens ein.
Zudem schlossen Eritrea und Äthiopien neben dem bekannteren Friedens- und Freundschaftsvertrag von Asmara nur wenige Wochen später in der saudischen Stadt Dschiddah in Beisein des saudischen Königs Salman noch ein weiteres Abkommen. Über den Inhalt ist wenig bekannt. Es wurde jedoch von Investitionsversprechen in Milliardenhöhe flankiert. Allein die Emirate versprachen Äthiopien drei Milliarden US-Dollar. Frieden sei der Schlüssel zu nachhaltiger Entwicklung gab Kronprinz Mohamed bin Zayed kurz zuvor passend zu Protokoll.
Wo bleibt die europäische Supply-Chain-Politik?
Angesichts dieser fundamentalen Verschiebungen hin zu etwas, das in Bezug auf die Rolle der Emirate und Chinas »Belt and Road Initiative« als Lieferketten- und Plattformdiplomatie bezeichnet werden könnte, müsste es eigentlich eine definierende Frage deutscher Außenpolitik sein, welchen Umgang man gegenüber der zunehmenden politischen Bedeutung der globalen Supply Chains findet. Außerhalb der halbherzig geführten Debatte um Huawei und das 5G-Netz spielen Data Flow Management und Lieferkettenpolitik hierzulande bisher aber keine Rolle und fristen ein Nischendasein als abstrakte digitale Zukunftsthemen. Dabei ist die Beschäftigung mit Supply Chains schon lange keine Frage hipper digitaler Arbeitskreise mehr. Denn in Zeiten von weltumspannenden Handelsnetzwerken ist die Kontrolle der digitalen und analogen Konnektivität der Schlüssel zur Macht. Kein Wunder, dass mittlerweile beispielsweise die meisten mobilen Endgeräte in Afrika über chinesische Anbieter laufen.
Um eine eigene politische Antwort auf diese Verschiebung zu entwickeln, müsste man sich zuerst über die Konsequenzen der eigenen Position im Klaren sein. Verspricht der Siegeszug der globalen Lieferkettenpolitik nicht weniger Grenzen, mehr Frieden und mehr Wohlstand für alle und wäre deswegen in jedem Fall zu begrüßen, ganz egal von wem sie vorangetrieben wird? Oder sind Lieferketten in der Hand autoritärer Regime wie China oder den Emiraten langfristig vor allem eine Gefahr für den (sozialen) Frieden hierzulande und anderswo? Denn über Lieferketten und Plattformen werden seit jeher nicht nur Güter sondern auch politische Ideen, wie aktuell zum Beispiel das chinesische Social-Scoring-System, ausgetauscht. Eine durchdachte und ehrliche Abwägung dieser Fragen geht weit über kurzfristiges Profitdenken der deutschen Wirtschaft hinaus.
Alleine kann Deutschland indes nicht viel bewirken. Es braucht europäische Lösungen für den Umgang mit internationalen Akteuren, die eine aggressive Lieferkettenpolitik betreiben und den Ausbau und Schutz globaler Handelswege und Wirtschaftsplattformen für den eigenen Vorteil in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Als Exportland wäre Deutschland besonders geeignet, sich in Brüssel mit Nachdruck für einen einheitlichen Umgang mit der Lieferkettendiplomatie einzusetzen.
So gerechtfertigt der Friedensnobelpreis für Abiy Ahmed sein mag, er zeigt aller Beteuerungen und Staatsbesuche zum Trotz: Akteure wie China und die Golfstaaten haben Europa außenpolitisch schon heute vielerorts den Rang abgelaufen. China, die Emirate oder auch Indien verfolgen mit ihrer Lieferkettenpolitik einen klaren Plan. Man kann das ignorieren und bestenfalls Symbolpolitik betreiben, wie der jüngste Antrittsbesuch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in Addis Abeba. Doch spätestens, wenn die analogen und digitalen Supply Chains vollständig in der Hand Chinas und seiner internationalen Kontrahenten sind, ist das Fenster für proaktive Außenpolitik im Zeitalter der Plattformökonomie erst einmal geschlossen.