Alle befürworten Reformen im Libanon, doch in welchen Bereichen sollte man konkret ansetzen und was steht der Umsetzung im Weg? Eine Bestandsaufnahme.
Die Explosion in Beirut vom 4. August wirft einmal mehr die Frage nach einem radikalen Systemwechsel auf, welche die libanesische Protestbewegung lautstark einfordert. Natürlich bieten Krisen auch immer Chancen, festgefahrene hierarchische Strukturen aufzubrechen. Der internationale Druck und der Druck der Straße, Strukturreformen anzugehen, kann die Führung des Landes nicht mehr ignorieren. Zudem scheint ihre eigene Basis zu bröckeln, schließlich sind von der Finanz- und Wirtschaftskrise fast alle betroffen, auch die politisch gut Vernetzten.
Zu befürchten ist, dass sich die internationalen Geldgeber wie der IWF mit kosmetischen Reformen im Banken- und Finanzbereich zufriedengeben, ohne dass die ursächlichen Missstände behoben werden. Seit Jahren unterstützen EU und UNDP den Reformprozess im Hinblick auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung in technischer und finanzieller Hinsicht, doch die Ergebnisse sind mehr als ernüchternd. Kritiker bemängeln, dass die finanzielle Unterstützung letztlich zu einer Stabilisierung des Herrschaftssystems beigetragen hat.
Ein weiteres Herumwerkeln an den formalen Verwaltungsprozessen wird das Land jedenfalls nicht aus der Krise führen. Ziel von Reformen muss es sein, einen nachhaltig funktionierenden Rechtsstaat aufzubauen, der demokratisch kontrolliert und mit einem Gewaltmonopol ausgestattet ist. Das setzt voraus, dass drei miteinander verflochtene Übel wirksam bekämpft werden:
1. Der Parteien-Klientelismus,
2. Die Korruption und Verschwendung in der öffentlichen Verwaltung,
3. Die Parallelstrukturen, die keiner staatlichen Kontrolle unterliegen.
Weitgehend unkontrolliert können die Parteiführer ihren Günstlingen alle möglichen Vorteile verschaffen.
Der Parteienklientelismus ist das zentrale Korruptionsnetzwerk des Libanon. Die alteingesessenen Parteiführer besitzen exklusiven Zugang zu Staatsressourcen und verteilen diese Mittel an loyale Anhänger, von denen sie im Gegenzug immer wieder gewählt werden.
Unabhängig von der Gesetzeslage und weitgehend unkontrolliert können die Parteiführer ihren Günstlingen alle möglichen Vorteile verschaffen, wie zum Beispiel Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor, Beförderungen, Steuererleichterungen, Rechtsbeistand und Lizenzen aller Art. Jede Partei hat eine konfessionelle Ausrichtung und begünstig daher meist nur Angehörige der eigenen Religionsgemeinschaft, deren Interessen sie vorgibt als Kollektiv zu vertreten. Das konfessionelle Machtteilungssystem des Libanon ist der Logik dieses Herrschaftsmodells dienlich.
Die Folgen dieses Parteienklientelismus sind verheerend. So finden sich in der öffentlichen Verwaltung vorwiegend inkompetente und oftmals bestechliche Angestellte. Einstellungskriterien sind nämlich nicht Qualifikation und Eignung der Bewerber, sondern die Einhaltung konfessioneller Proporze und die Loyalität gegenüber den jeweiligen Gönnern an den Parteispitzen.
Der Libanon leistet sich ganze Behörden, die keinerlei Funktion haben.
Selbst in den wichtigsten Ministerien sind Menschen angestellt, die rein gar nichts tun. Der Libanon leistet sich sogar ganze Behörden, die keinerlei Funktion haben, wie etwa die Eisenbahnbehörde, die immer noch Hunderte Mitarbeiter beschäftigt, obwohl der Eisenbahnbetrieb bereits im Bürgerkrieg eingestellt worden ist. Außerdem sind zahlreiche Busfahrer angestellt, die schon seit Jahren keinen Bus mehr gefahren sind.
Proporzdenken und Klientelismus verhindern die Abwicklung überflüssiger Behörden, denn jede Partei, die eine solche Behörde unter ihrer Kontrolle weiß, wird die Schließung anderer Behörden als Bedingung fordern, weil ansonsten das Gleichgewicht der Konfessionen im öffentlichen Bereich ins Ungleichgewicht geriete.
Der Sektor, der am stärksten zur ausufernden Staatsverschuldung beiträgt, ist ausgerechnet der Elektrizitätssektor. Die Stromversorgung ist seit Jahrzehnten unzureichend, tägliche Stromausfälle gehören zum libanesischen Alltag. Der Stromsektor verursacht dennoch Milliardenkosten, nicht nur, weil der Strom großzügig subventioniert wird, sondern auch, weil viele Libanesen überhaupt keine Stromrechnungen bezahlen. Das trifft vor allem auf Gebiete im Südlibanon zu, wo die Hizbullah und die Amal-Partei sich als Anwalt der schiitischen Bevölkerung geben und sie vor Stromabrechnungen schützt.
Die Verschwendung im System Libanon ist enorm, sie erklärt aber nur zum Teil die Verschuldungsquote, die weltweit zu den höchsten zählt und schließlich zum Staatsbankrott führte. Eine wesentliche Rolle spielt auch der Umstand, dass die Parteiführer die privaten Banken des Landes als Miteigner oder Aufsichtsräte kontrollieren. Das heißt, je mehr Kredite der Staat im Auftrag der die Regierung kontrollierenden Parteioberen bei diesen Banken aufnimmt, desto mehr Zinserträge fließen in deren eigene Taschen. Insofern bestehen in der politischen Führung wenig Anreize, den Staatshaushalt zu konsolidieren.
Mit den gut organisierten Generatorenkartellen will es sich keine Partei verscherzen.
Verheerend ist auch der Umstand, dass nicht nur die rivalisierenden Parteien, die normalerweise alle an einer großen Koalitionsregierung beteiligt sind, sich gegenseitig misstrauen und kaum Kooperationswillen zeigen, sondern dass die ihnen unterstehenden Behörden ebenfalls nicht zusammenarbeiten, kaum Informationen untereinander austauschen, und sich Verantwortlichkeiten hin- und herschieben. Im öffentlichen Sektor weiß die eine Hand oft nicht, was die andere tut.
Eine weitere Besonderheit des libanesischen Staatswesens ist die Existenz zahlreicher informeller Parallelstrukturen, welche keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. So hat sich parallel zum staatlichen Stromversorger Électricité du Liban eine Dieselgeneratoren-Mafia etabliert, die unter dem Schutz der Parteiführer die Versorgungslücken schließt.
Eine allumfassende Lösung der Stromversorgung würde sehr wahrscheinlich gewaltsame Proteste der gut organisierten Generatorenkartelle zur Folge haben, mit denen es sich keine Partei verscherzen will. Ähnliches gilt für die Wasserversorgung, die die Wassermafia mit aus illegalen Brunnen gepumpten Wasser in den Sommermonaten aufrechterhält, während die Wasserleitungen der staatlichen Versorger marode und an vielen Stellen undicht sind.
Parallelstrukturen finden sich auch im Sicherheitsbereich: Zusätzlich zu den regulären Streitkräften unterhält die an der Regierung beteiligte Hizbullah eine von Iran finanzierte Privatmiliz, die im benachbarten Syrien militärisch auf Seiten des Baath-Regimes interveniert und sich das Recht auf einen Angriffskrieg gegen Israel vorbehält. Auch der private Waffenbesitz ist im Libanon weit verbreitet, wenn auch eigentlich verboten.
Viele Verordnungen und Gesetze können eher als unverbindliche Empfehlungen ausgelegt werden.
Im Sozialbereich sind die konfessionellen Parteien engagierter als der Staat. Viele unterhalten Kliniken, Schulen und karitative Einrichtungen. Im Gegensatz zu rechtsbasierten staatlichen Sozialleistungen profitieren von diesen privaten Dienstleistungen vor allem loyale Bürger. Rechtlich einklagbar ist diese Unterstützung nicht.
Die Hindernisse zu grundlegenden Reformen dieses Systems sind riesig: Erstens wird die politische und wirtschaftliche Elite alles daran setzen, ihr Herrschaftskartell in seiner Grundform aufrechtzuerhalten. Stützen kann sie sich auf die Loyalität des Verwaltungsapparats, wozu auch Richter, Generäle und Polizeipräsidenten gehören, die alle ihre Ernennungen und Beförderungen ihren politischen Führern zu verdanken haben.
Zweitens darf nicht unterschätzt werden, dass sich viele Libanesen daran gewöhnt haben, mit Beziehungen an Sonderrechte zu gelangen und viele Verordnungen und Gesetze eher als unverbindliche Empfehlungen ausgelegt werden können. Verkehrsregeln, Rauchverbote, Anschnallpflicht in Autos stehen zwar alle in Gesetzesbüchern, werden aber nicht polizeilich durchgesetzt und demzufolge ignoriert.
Sogar der designierte Ministerpräsident und bisherige libanesische Botschafter in Berlin, Mustapha Adib, von dem Reformen erwartet werden, machte ganz selbstverständlich von seinen Beziehungen Gebrauch, um den obligatorischen Corona-Test vor Abflug in den Libanon zu umgehen.
Wer etwas auf sich hält, kennt einen Cousin von Nabih Berri oder Saad Hariri.
So wie Adib sind viele Libanesen stolz auf ihre nützlichen Beziehungen nach ganz Oben. Und es gibt nicht wenige Libanesen, die darin auch kein Problem erkennen, sondern im Gegenteil politische Beziehungen als Erfolgsmaßstab erachten und würdigen. Wer etwas auf sich hält, kennt einen Cousin von Nabih Berri oder Saad Hariri und kommt dadurch in fast allen Lebenslagen gut zurecht.
Den Reformprozess leiten soll nun Adib, der von den Parteiführern mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Adib ist wie sein Vorgänger, Hassan Diab, ein unbeschriebenes Blatt, gehört keiner Partei an und hat keine besonderen Verdienste vorzuweisen. Im Gegenteil, die von ihm geleitete Botschaft in Berlin hat bei Libanesen in Deutschland keinen guten Ruf.
Adib ist im Grunde eine Marionette der Parteiführer und von deren Wohlwollen vollkommen abhängig. Trotz des Drucks Frankreichs, zügig eine reformorientierte Regierung zu bilden, muss Adib nicht nur die konfessionellen Proporze, sondern auch das Gleichgewicht der politischen Lager sowie die Sonderwünsche einzelner Parteiführer berücksichtigen. Eigenen Spielraum hat er kaum.
Das Herrschaftskartell wird sich mit allen Mitteln gegen Strukturreformen wehren. Mächtige Parteiführer wie Nabih Berri, Walid Jumblatt, Hassan Nasrallah und Samir Geagea sind schon für ihre Kriegsverbrechen während des libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) nicht zur Verantwortung gezogen worden. Ein Ende ihres Herrschaftskartells würde sie nicht nur die Macht kosten, sondern könnte dazu führen, dass sie sich zumindest für Korruption und Selbstbereicherung vor Gericht verantworten müssen – gegenwärtig ein unvorstellbares Szenario.
Eine Schlüsselrolle im Reformprozess kommt Frankreich und den USA zu.
Eine Schlüsselrolle im Reformprozess kommt Frankreich und den USA zu, die beide mit sehr unterschiedlichen Ansätzen versuchen, die Entwicklungen im Libanon zu beeinflussen. Der französische Präsident Emmanuel Macron gibt sich als Anwalt der Protestbewegung. Er dringt auf Reformen, setzt Ultimaten und legt konkrete Forderungskataloge vor.
Jedoch verhandelt er den Reformprozess mit den von den Demonstranten verhassten Parteiführern. Das schließt auch Vertreter der Hizbullah ein, die Frankreich damit als demokratisch legitimierten Akteur aufwertet. Dieser realpolitische Ansatz erklärt sich auch aus dem Umstand, dass die Protestbewegung keine eigene Führung hervorgebracht hat, die an den Verhandlungen teilnehmen könnte.
Die USA erachten die Hizbullah hingegen als illegitime Terrororganisation und Handlanger Irans. Sie erhöhen gegenwärtig mit immer neuen Sanktionen den Druck auf die »Partei Gottes« sowie auf ihre christlichen Verbündeten und die Amal-Partei und torpedieren damit die Vermittlungsbemühungen Frankreichs.
Es sieht also so aus, als würde sich an den Machtverhältnissen im Libanon trotz des enormen Staatsversagens der Herrschaftselite so bald nichts ändern.
Maximilian Felsch ist Associate Professor an der Haigazian-Universität in Beirut und leitet dort das Institut für Politikwissenschaft.