Volk, Territorium und Staatsgewalt? Der Nahost-Forscher Volker Perthes plädiert dafür, über den IS als »dschihadistisches Staatsbildungsprojekt« zu sprechen. Aber diese Wortschöpfung kann noch viel größere Verwirrung stiften.
Diplomaten, Politiker und Journalisten diskutieren seit Monaten über ein sprachliches Detail: Wie soll man die Organisation bezeichnen, die sich selbst seit Juni 2014 »Dawlah Islamiyya – Islamischer Staat« nennt? Geht man ihrer Propaganda auf den Leim, wenn man diesen Begriff übernimmt? Der Nahost-Forscher Volker Perthes, Direktor der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, warnte in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung Ende September: Den »IS« nur als »Terrormiliz« zu bezeichnen, sei eine Verharmlosung dieses Problems. Stattdessen müsse die internationale Gemeinschaft das Phänomen IS als ein »dschihadistisches Staatsbildungsprojekt« begreifen.
Die Sache ist in jedem Fall verzwickt. Vergleiche heutiger politischer Problem mit dem Nationalsozialismus sind grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Allerdings fühlt man sich durchaus an den Begriff vom »Dritten Reich« erinnert. Heute verwenden viele Menschen ihn synonym für jenen Staat, den die Nationalsozialisten aus der Gleichschaltung und damit Abschaffung der Weimarer Republik hervorbrachten. Einst handelte es sich beim »Dritten Reich« um einen diffus-romantischen Erweckungsbegriff des 19. Jahrhunderts, der erst in den 1920er Jahren öffentlichen Widerhall fand. Weniger bekannt ist, dass selbst Hitler mit der Wortschöpfung wenig anzufangen wusste und ihre Verwendung schon 1939 den Behörden untersagte.
In jedem Fall gilt es vielen Sprachkritikern heute als unzulässige Aufwertung der NS-Herrschaft, wenn man vom »Dritten Reich« spricht – oder schreibt – ohne sich durch Anführungszeichen davon zu distanzieren. Wie also verhält es sich da mit dem »IS«?
Die Konsequenz darf nicht sein, dass man den »IS« relativiert und die Staatlichkeit zuspricht. Man muss sich im Gegenzug eher fragen, ob es nicht folgerichtig wäre, den in Sachen Grundrechte versagenden Staaten der arabisch-islamischen Welt ihre Staatlichkeit einfach abzusprechen.
In seinem Essay nennt Perthes diesen »totalitär, expansiv und hegemonial«. Das ist zweifelsfrei zutreffend. Wer allerdings im selben Atemzug von einem »Staatsbildungsprojekt« spricht, muss sich fragen, ob damit nicht nur eine Aufwertung der Dschihadisten, sondern auch eine gewisse Herabwürdigung des Begriffs »Staat« einhergeht. Denn darunter verstehen wir ja nichts anderes als die moderne Entwicklung der menschlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Die Staatstheorie beinhaltet seit geraumer Zeit eine materiell-rechtliche Komponente, die mit der Anerkennung eines gewissen Standards von Grundrechten zusammenhängt. Unter »IS« kann davon allerdings nicht die Rede sein.
Nun könnte man einwenden: Diese Standards werden in den meisten Staaten der arabischen Welt gar nicht oder nicht vollumfänglich eingehalten. Diese Beurteilung sollte aber nicht dazu führen, ein Gebilde wie »IS« nun als eine weitere Spielart eines solchen arabisch-islamischen Staates zu betrachten – etwa einen, in dem die Menschenrechte noch etwas nachdrücklicher mit Füßen getreten werden als in anderen »Staaten« der Region. So mancher Unrechtsstaat auf der Welt bekennt sich zumindest nominell zu diesen Standards. Das vorgebliche IS-Kalifat in Syrien und im Irak geniert sich hingegen nicht, diese in Bausch und Bogen abzulehnen und in diesem Sinne konsequent zu handeln.
Kurzum: Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis darf nicht sein, dass man den »IS« relativiert und die Staatlichkeit zuspricht. Man muss sich im Gegenzug eher fragen, ob es nicht folgerichtig wäre, den in Sachen Grundrechte versagenden Staaten der arabisch-islamischen Welt ihre Staatlichkeit einfach abzusprechen – sofern man der materiellen Entwicklung der Staatstheorie gerecht werden möchte.
Volker Perthes argumentiert in seinem Essay zudem, der »IS« übe »quasistaatliche Funktionen aus. Er betreibt seine eigene Justiz, die sich an den extremistischsten islamischen Rechtsvorstellungen orientiert, er erhebt Steuern, rekrutiert Soldaten, fördert und exportiert Öl.« Außerdem halte er die Versorgung von Märkten und die Stromversorgung aufrecht. Aus der Innenperspektive der IS-Kader betrachtet sind auch diese Punkte zutreffend – abgesehen vielleicht von dem Detail, dass die Stromversorgung in der angeblichen IS-Hauptstadt Raqqa bislang von den Nationalen Energiegesellschaft des syrischen Regimes besorgt wurde.
Zu den »staatlichen Aufgaben«, die der »IS« ausfüllt, könnte man getrost noch die äußerst effiziente und gut ausgestattete »Staatssicherheit« gesellen. Sie bespitzelt die Menschen, meldet verdächtige Aufrührer oder Verstöße gegen die Sitten und liquidiert zum Teil erbarmungslos.
Wenn man diese als Charakteristika eines Staatsbildungsprojektes ansieht, setzt man voraus, dass daraus einmal ein wirklicher Staat werden soll: Damit klammert man allerdings die Drei-Elementen-Lehre unsers Verfassungsrechtes (Gebiet, Volk, Staatsgewalt) ebenso aus wie die Staatstheorie im Völkerrecht.
In den Organisationsstrukturen des »IS« mag es zahlreiche Iraker und auch einige Syrer geben – von einer Bewegung der lokalen Bevölkerung kann allerdings kaum die Rede sein, wenn tausende Kämpfer aus Tschetschenien, Algerien, Tunesien oder europäischen Ländern in ein Land einfallen, um es nach ihrer Vorstellung von einem »islamischen Staat« umzuformen.
Jede Anerkennung des IS als möglichen, als zukünftigen Staat und damit Folge eines erfolgreichen Staatsbildungsprojekts bedeutet, die dauerhafte Souveränität Syriens und Iraks über die Gebiete am Euphrat in Frage zu stellen. Syrien und Irak müssen aber das permanente Recht in der Theorie zugesprochen bekommen, die von »IS« kontrollierten Gebiete zurückzuerobern.
Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: Die beiden georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien werden heute von Separatisten kontrolliert. Die internationale Gemeinschaft hat nicht anerkannt, dass diese auch Staatsgewalt ausüben. Russland hingegen erkennt sie an, verweigert aber die Anerkennung dem von Jugoslawien abgespaltenen Kosovo. In diesen Fällen kann man immerhin noch der politischen Argumentation folgen, dass sich die jeweiligen Bewohner der Sezessionsgebiete nicht von der Staatsgewalt vertreten oder sogar unterdrückt fühlten und deshalb eigene Staaten gründen.
Nur: In den Organisationsstrukturen des »IS« mag es zahlreiche Iraker und auch einige Syrer geben – von einer Bewegung der lokalen Bevölkerung kann allerdings kaum die Rede sein, wenn tausende Kämpfer aus Tschetschenien, Algerien, Tunesien oder europäischen Ländern in ein Land einfallen, um es nach ihrer Vorstellung von einem »islamischen Staat« umzuformen.
Nicht von der völkerrechtlichen Problematik zu trennen ist auch die verfassungsrechtliche: Der Drei-Elementen-Lehre nach müsste ein IS-Staat auch ein »IS-Volk«, ein »IS-Territorium« und eine »IS-Staatsgewalt« aufweisen. Mit der Ausrufung des Kalifats – die womöglich eine taktische Reaktion auf die Ereignisse und kein langfristig geplantes Ziel darstellte – erhebt der »IS«, wie auch Perthes in seinem Essay für die Süddeutsche zutreffend feststellt, die Herrschaft über alle Muslime. In dieser Logik werden sie als ein nicht territorial gebundenes, einheitliches, sunnitisches Volk betrachtet. Dafür sprechen deutlich die Rekrutierungspolitik der Kämpfer in allen Teilen der Welt und der propagierte Dschihad-Export. Selbst wenn man das IS-Staatsbildungsprojekt ganz nüchtern und unvoreingenommen betrachten will, muss man zu dem Schluss kommen: Der »Islamische Staat« erfüllt nicht die Bewerbungskriterien für einen solchen, denn seine Gebiete und sein Volk haben keinen permanenten, sondern nur provisorischen Charakter.
Das dritte Element, die Gewalt, ist etwas, auf das der »IS« sich zweifelsfrei versteht – allerdings nicht im Sinne der Staatstheorie. Wer die Art und Weise, wie die Dschihadisten mit Angst und Schrecken ein Gewaltmonopol durchsetzen, als Staatsgewalt betrachtet, könnte einer Täuschung auferlegen sein: Der »IS« ist allenfalls eine kriegerische und permanent Krieg führende Besatzungsmacht.
Die Wurzel des Wortes »Da’ish« assoziiert man in der arabischen Welt mit einem Verb, das »auf etwas herumtrampeln« bedeutet, aber auch mit einem archaischen Beduinenstamm.
Aus diesen Gründen ist es kategorisch abzulehnen, dass »IS« und »Staatlichkeit« miteinander in Verbindung gebracht und verbrämt werden. Gibt es also eine angemessenere Bezeichnung? Man könnte beispielsweise von einem terroristischen Gebilde oder terroristischen Regime sprechen. Verschiedene Medien, einige Politiker, darunter die französische Regierung, haben nun begonnen, das arabische Akronym »Da’ish« zu übernehmen. Das wird noch für einige Verwirrung sorgen – ist aber keine ganz schlechte Idee.
Die Araber lieben Akronyme – auch die Worte »Hamas« oder »Fatah« sind eigentlich solche Wortschöpfungen. »Da’ish« steht für »Al-Dawla al-Islamiyya fi-l-Iraq wa-l-Sham«, also den »Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien«. Im Übrigen gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Herrschaftsanspruch dieses Gebildes und dem Akronym: Die Wurzel des Wortes »Da’ish« assoziiert man in der arabischen Welt mit einem Verb, das »auf etwas herumtrampeln« bedeutet, aber auch mit einem archaischen Beduinenstamm. Wer unter der Herrschaft von »IS« dieses Akronym benutzt, riskiert dafür 80 Peitschenhiebe, denn das Reich des angeblichen Kalifen fühlt sich dadurch beleidigt.
Auch hier ergibt sich eine Analogie zum »Dritten Reich«. Dieses Wort wurde nämlich schon früh zu einem Spottbegriff unter den Kritikern Hitlers und seiner endzeitvisionären Träume. Womöglich war auch das ein Grund dafür, dass die Reichspropaganda es 1939 zum Unwort erklären ließ. Hoffen wir, dass die Geschichte sich nicht allzu langfristig an »IS« oder »Da’ish« erinnert.
Dr. Naseef Naeem, geboren 1974 bei Homs (Syrien) ist Staats- und Verfassungsrechtler. Gemeinsam mit zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach leitet er die unabhängige Forschungsgruppe zenithCouncil.