Lesezeit: 6 Minuten
Die afghanischen Taliban und der schiitische Milizenführer Mawlawi Mahdi

Der Taliban-Shuffle

Analyse
Maulana Mahdi arbeitet und kämpft nun für die Taliban.
Maulana Mahdi arbeitet und kämpft nun für die Taliban. Screenshot

Die Taliban ernennen erstmals einen schiitischen Hazara zum Gouverneur. Steckt dahinter strategisches Kalkül oder deutet sich eine Öffnung der bislang paschtunisch dominierten Gruppe an?

Was ist passiert?

Die afghanischen Taliban haben die Ernennung von Mawlawi Mahdi* zum Gouverneur des Distrikts Balkhab in der nordafghanischen Provinz Sar-i Pul bekanntgegeben. Die Besonderheit: Der Milizenführer Mahdi ist der erste schiitische Hazara, der ein solches Amt bei den Taliban bekleidet. Eine am 24. April auf der Taliban-Plattform Al-Amara veröffentlichte Videobotschaft des erstmalig prominent in Erscheinung tretenden Gouverneurs sorgte in den sozialen Medien für einige Aufmerksamkeit.

 

Denn obwohl schon unter dem 2013 verstorbenen Taliban-Führer Mullah Mansur einige Tadschiken und Usbeken in die Führungsriege der Gruppe aufgestiegen waren, wird sie von sunnitische Paschtunen dominiert – Hazara wie Mahdi wurden während der Taliban-Herrschaft bis 2001 zumeist unterdrückt, mehrere Massaker an der mehrheitlich schiitischen Ethnie sind dokumentiert. Auch die Zerstörung der weltberühmten Buddha-Statuen in der Provinz Bamyian fand im kompakten Siedlungsgebiet der Hazara in Nord- und Zentralafghanistan statt, zu dem auch der Distrikt Balkhab gehört, den Mawlawi Mahdi nun für die Islamisten verwalten soll.

 

Aktuell wird der Bevölkerungsanteil der Hazara mit etwa neun Prozent der afghanischen Bevölkerung von etwa 37 Millionen angegeben. In dem von sunnitischen Paschtunen geprägten Vielvölkerstaat standen die Hazara über Jahrhunderte am unteren Ende der Hierarchie und sind erst seit der Verabschiedung der afghanischen Verfassung von 2004 rechtlich gleichgestellt. In Mahdis Videobotschaft werden nun laut der Nachrichtenseite The National versöhnliche Töne angeschlagen: Die Taliban seien »allen Menschen gegenüber aufgeschlossen (...) und Schiiten sind (..) Teil ihrer göttlichen Strategie«, so Mahdi laut einem Bericht der Website.

 

Was steckt hinter der Meldung?

Über die Beweggründe der Taliban lässt sich bislang nur spekulieren. Die Informationslage ist ohnehin dürftig und aktuell kommt hinzu, dass auch Afghanistan von der COVID-19-Pandemie betroffen ist. In Kabul gilt eine Ausgangssperre und selbst Experten vor Ort fällt es schwer, sich einen Überblick zu verschaffen. Klar ist: Die Bekanntgabe der Personalie in Form einer so ausführlichen Videobotschaft ist - gemessen an der politischen Bedeutung des Amtes- auch für Talibanverhältnisse unüblich.

 

»Die eigentliche Ernennung liegt zudem bereits einige Jahre zurück«, wie Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN) im Gespräch mit zenith erzählt. Doch erst jetzt werde sie offensiv vermarktet.  Das ist auch auffällig, weil die politische und strategische Relevanz der Ernennung fraglich ist. »Der Bezirk ist von geringer strategischer Bedeutung und ohnehin überwiegend von Hazara bewohnt – wir reden hier also über niemanden, der besonders weit oben in der Hierarchie steht«, sagt Ashley Jackson vom Londoner King’s College.

 

Zwar konnten die Taliban ihren Einfluss zuletzt auch in Nordafghanistan ausbauen, insbesondere das Gebiet Kohistanat gilt als regionales Machtzentrum. Doch der benachbarte Distrikt Balkhab, in dem die Ernennung nun stattfand, steht bisher gar nicht unter der Kontrolle der Taliban, sondern wird dem Einflussbereich des schiitischen Milizenführers Hadschi Mohamed Mohaqiq zugerechnet. Der wiederum ist mit den Taliban verfeindet.

 

Mawlawi Mahdi galt lange als Mohaqiqs loyaler Statthalter in dem kupferreichen, aber politischen marginalisierten Distrikt. Dann überwarf er sich aber mit Mohaqiq, schloss sich den Taliban an und musste nach Angaben von AAN aus dem Bezirk fliehen. Ob es Mahdi also gelingt, eine Machtbasis in dem Distrikt zu etablieren, ist mehr als unklar. Dies legt nahe, dass es der Talibanführung – neben der Befeuerung lokaler Ränkespiele - vor allem um etwas anderes gegangen sein dürfte.

 

»Die Ernennung eines Talibanchefs in einem schiitschen Hazara-Distrikt hat Symbolwirkung«, sagt der Wissenschaftler Jan Koehler von der SOAS - Universität London, der seit langem zu der Situation in dem Land am Hindukusch forscht. »Die Taliban wollen im Zuge einer wahrscheinlichen Umverteilung der Macht in Afghanistan zeigen, dass sie andere ethnischen Gruppen und auch den Schiiten gegenüber aufgeschlossen sind«, so Koehler im Gespräch mit zenith.

 

Eine Botschaft, so Ashley Jackson vom King’s College in London, die sowohl an das afghanische Volk, als auch die internationale Gemeinschaft gerichtet ist. Sie fügt jedoch hinzu: »Das ist vermutlich kein reines PR-Manöver, denn die Besetzung solcher Posten ist für die Taliban aus militärischer Sicht zu wichtig.« Jackson ist deshalb überzeugt, dass die Ethnie des neuen Gouverneurs nicht der alleinige Grund für seine Ernennung ist.

 

Wie geht es weiter?

Die aktuelle Gemengelage ist selbst für afghanische Verhältnisse komplex. Vor dem Hintergrund des geplanten Abzugs der US-Truppen buhlen zwei offen miteinander konkurrierende Kandidaten um das Amt des Präsidenten, bezüglich der Wahlen im Herbst bleiben viele Fragen offen, und nun hat auch die Corona-Pandemie Afghanistan, auch ob seiner Nähe zu Iran, mit Wucht erfasst. Klar ist, dass die Bekanntgabe der Ernennung eines schiitischen Hazara im Vorfeld innerafghanischer Friedensgespräche eine Botschaft sendet: Wir haben uns geändert, wir kümmern uns um Afghanen aller Herkunft und Abstammung.

 

Eine Botschaft, die die Taliban außerdem vom sogenannten Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) abhebt, der Schiiten – wie zuvor im Nahen Osten – zu Ungläubigen erklärt und mit Dutzenden Anschlägen in den letzten Jahren verfolgt hat. Ashley Jackson gibt aber auch zu bedenken, dass das Verhältnis zwischen den überwiegend paschtunischen Taliban zu anderen Bevölkerungsgruppen schon immer komplizierter war, als vielfach angenommen: »In Ghazni etwa haben Taliban politische Abkommen mit lokalen Hazara-Gemeinden geschlossen, selbst Mädchen durften in deren Herrschaftsbereich die Schule besuchen.«

 

Und auch vereinzelte Hazara-Taliban-Gruppen gebe es durchaus, weiß Koehler. Fraglich ist, wie dieser Versuch einer inklusiveren Rekrutierung von religiösen und ethnischen Minderheiten im Land aufgenommen wird. Thomas Ruttig glaubt indes nicht, dass die Strategie vor Ort verfangen wird. »Unter den schiitischen Hazara herrscht nach wie vor große Ablehnung der Taliban und Angst vor ihnen. Die meisten Hazara würden im Leben nicht darauf kommen, sich den Taliban anzuschließen«, so der Analyst.  

 

Zu tief sitzen die Wunden. Zuletzt kehrten - auch wegen der Corona-Pandemie - immer mehr kampferprobte schiitische Milizionäre aus dem Nahen Osten nach Afghanistan zurück. Das Verhältnis der Taliban zu den Minderheiten des Landes dürfte also auch weiterhin einer der neuralgischen Punkte auf dem Weg zu nachhaltigem Frieden bleiben.

 

*Anm. d. Red.: In einer früheren Fassung des Artikels haben wir von Maulana Mahdi gesprochen. Das war missverständlich. Er trägt den eigentlich sunnitischen Ehrentitel Mawlawi. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

 

Sie wollen mehr über die Hazara erfahren? Für die aktuelle zenith-Ausgabe ist unser Reporter Florian Guckelsberger nach Afghanistan gereist und hat recherchiert, wie der lokale Ableger des Islamischen Staats deren Gemeinden terrorisiert – und was sie sich von einem neuen Afghanistan erhoffen. Sollten Sie das Heft noch nicht daheim haben, hören Sie doch bei unserem Podcast rein (Spotify, Apple Music, Deezer). In der neuen Folge liest der Autor aus seiner Reportage.

Von: 
Florian Guckelsberger, Leo Wigger

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.