Offiziell herrscht seit drei Monaten diplomatische Funkstille zwischen Marokko und der Bundesrepublik. Rabat listet drei Knackpunkte in den bilateralen Beziehungen auf – doch es geht auch um Grundsätzliches.
Das Schweigen reicht bis in die zenith-Redaktion: Die meisten Interview-Anfragen für diesen Text blieben unbeantwortet. Regierungskreise, Thinktanks, marokkanische Journalisten, Stiftungsmitglieder und Reiseanbieter können oder dürfen sich zur aktuellen Situation nicht äußern. Involvierte Akteure wirken spürbar angespannt und wollen keinen Fehler machen. In der öffentlichen Wahrnehmung, zumindest in Deutschland, schlägt das diplomatische Zerwürfnis zwischen Rabat und Berlin dagegen kaum Wellen.
Im Mai zog Marokko Botschafterin Zohour Alaoui aus Deutschland ab. Schon seit März ist eine Kontaktsperre in Kraft, die die deutsche Botschaft in Rabat und deutsche Institutionen in Marokko betrifft. Zwar stelle die diplomatische Vertretung der Bundesrepublik weiter Reisepässe aus, Aufenthaltsverlängerungen und Unterstützung bei Rechtsangelegenheiten könne man aber derzeit nicht gewährleisten, heißt es auf einer Info-Seite der Botschaft.
Marokkos Außenminister Nasser Bourita hatte die Kontaktsperre angeordnet, das bezeugt ein Anfang März geleaktes Schreiben. Bemerkenswert: Das Kommuniqué mit den Anweisungen an marokkanische Dienststellen ist an seinen Vorgesetzten, Premierminister Saadeddine el-Othmani, adressiert. Das passt ins Bild: Seit seinem Amtsantritt 2017 verfolgt Bourita Marokkos außenpolitische Interessen viel aktiver als seine Vorgänger.
Die Biden-Administration zeigt wenig Interesse, Trumps Westsahara-Entscheidung zu revidieren
Offiziell nannte Rabat am 6. Mai drei Gründe für die Funkstille. Erstens sei man über Deutschlands Haltung in Bezug auf die Westsahara enttäuscht. Zweitens beschuldigt man Deutschland, einem vermeintlichen Terroristen zu helfen, und drittens beklagt die Erklärung, dass Berlin Marokko bei der Gestaltung der Libyen-Politik außen vor lasse.
Der wohl sensibelste dieser Punkte betrifft die Westsahara, denn er berührt mithin Marokkos Staatsräson. Mit dem »Grünen Marsch« untermauerte Marokko 1975 nach Ende der spanischen Kolonialherrschaft seinen Anspruch auf die Westsahara. Der lange auf kleiner Flamme köchelnde Konflikt nahm im November 2020 wieder Fahrt auf, als die Westsahara-Befreiungsfront Frente Polisario den Waffenstillstand mit Marokko aufkündigte.
Nachdem Ex-US-Präsident Donald Trump im Dezember 2020 die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkannt hatte, hoffte Marokko darauf, dass Deutschland Washingtons Beispiel folgen würde – zumal die Biden-Administration wenig Interesse durchscheinen lässt, Trumps Entscheidung zu revidieren.
Einer der Auslöser für den Unmut in Rabat ist womöglich weder in Brüssel, noch in Berlin zu finden – sondern in Bremen
Dass die Bundesregierung nicht nachzog, »empfand Marokko als einen Schritt, der den eigenen Interessen entgegensteht«, erklärt Abderrahmane Ammar, der für den arabischsprachigen Dienst der Deutschen Welle arbeitet, im Gespräch mit zenith. Für Deutschland bleibt »der Status der Westsahara ungeklärt«, verkündete Maria Adebahr, Sprecherin des Auswärtigen Amts, im Rahmen einer Pressekonferenz am 7. Mai.
Obwohl die Europäische Union die Herrschaft Marokkos über die Westsahara nicht anerkennt und auf eine diplomatische Lösung des Konflikts drängt, schließt sie weiterhin Verträge mit Marokko, die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Verstoß gegen internationales Recht gewertet wurden.
Einer der Auslöser für den derzeitigen Unmut in Rabat ist aber womöglich weder zuerst in Brüssel, noch in Berlin zu finden – sondern in Bremen. Die Bremische Bürgerschaft hisste im Februar die Fahne der selbsternannten »Demokratischen Arabischen Republik Sahara« – der begleitende Tweet rief wütende Reaktionen der Diaspora hervor und blieb auch in Marokko nicht unbemerkt.
»Gegenüber Deutschland herrscht ein tiefes Misstrauen«, schildert Journalist Ammar die Gemütslage in marokkanischen Regierungskreisen. Gewachsen ist es auch durch die jüngsten Entwicklungen im Fall Mohammed Hajib. Auch wenn dessen Name in der Erklärung vom Mai nicht explizit genannt wird, kann es sich nur um den Deutsch-Marokkaner aus Duisburg handeln, der seit Jahren um Anerkennung von und Entschädigung für Folterschäden kämpft. »Ein deutscher Staatsbürger, gefoltert in einem marokkanischen Gefängnis, weil deutsche Behörden ihn loswerden wollten?«, beginnt der Beitrag des SWR-Magazins Report Mainz vom September 2020.
Aus Sicht der marokkanischen Sicherheitsbehörden kommt die Aussicht auf Schmerzensgeld für Mohammed Hajib einer finanziellen Unterstützung gleich
Nach Rückkehr von einer Pilgerreise nach Pakistan 2010 hätten ihn deutsche Sicherheitsbehörden noch am Frankfurter Flughafen angewiesen, umgehend nach Marokko weiterzureisen. Dort sei er als Gefährder eingestuft, sieben Jahre inhaftiert und immer wieder gefoltert worden, so sein Vorwurf. Hajib kehrte 2017 nach Deutschland zurück und verklagte den deutschen Staat auf 1,5 Millionen Euro Schmerzensgeld. Auf die Absage der Prozesskostenhilfe des Berliner Kammergerichts folgte im Mai die Aufhebung des Beschlusses durch den Verfassungsgerichtshof. Nun wird der Antrag für Prozesskostenhilfe erneut geprüft.
Aus Sicht der marokkanischen Sicherheitsbehörden kommt die Aussicht auf Schmerzensgeld einer finanziellen Unterstützung gleich – zudem werfen sie in der Erklärung vom Mai ihren deutschen Kollegen vor, in dem Fall »sensible Informationen« weitergegeben zu haben, ohne diesen Vorwurf zu präzisieren oder zu untermauern.
Daneben stört man sich in Marokko wohl auch an Mohammed Hajibs medialer Präsenz: Denn von Deutschland aus betreibt der 40-Jährige einen populären YouTube-Kanal, auf dem er regelmäßig gegen Marokkos Behörden, aber auch regierungsnahe Medien wettert und etwa auch die Fehlinformationen in der Berichterstattung über die von ihm in Deutschland angestrengten Verfahren bemängelt.
Hat die diplomatische Verstimmung in Rabat vielleicht weniger mit dem konkreten Fall Libyen zu tun?
Vergleichsweise einfach stellt sich dagegen der Sachverhalt im dritten Punkt dar, den Marokkos Außenministerium im Verhältnis zu Deutschland beklagt: Die Bundesrepublik würde Marokko als Regionalmacht zurückhalten, das zeige der Ausschluss Marokkos von der ersten Berliner Libyen-Konferenz 2020. So direkt der Vorwurf, so groß die Ratlosigkeit auf deutscher Seite. Die Bundesregierung könne die von Marokko genannten Vorwürfe nicht nachvollziehen, da sie »jeder Grundlage entbehren«, erklärte Maria Adebahr auf der Pressekonferenz vom 7. Mai, betonte zugleich aber: »Die Bundesregierung bleibt jedoch jederzeit gesprächsbereit.«
Hat die diplomatische Verstimmung in Rabat vielleicht weniger mit dem konkreten Fall Libyen zu tun, sondern eher mit einer allgemeinen Erwartungshaltung, auf Augenhöhe behandelt zu werden? »Marokko erwartet von Deutschland mehr, als nur als Partner bei der Bekämpfung illegaler Einwanderung und bei der Förderung erneuerbarer Energien gesehen zu werden. Man will, dass die eigenen Interessen anerkannt werden«, befindet Journalist Ammar.
Marokkos gestiegenem Selbstbewusstsein liegen sowohl wirtschaftliche Erfolge als auch der Ausbau des eigenen Beziehungsnetzwerks zugrunde – etwa die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, die allerdings im eigenen Land höchst umstritten bleibt.
Ulla Jelpke ist überzeugt, dass Deutschland auch über die derzeitige diplomatische Krise hinaus mit Marokko weiterhin kooperieren wird, »denn die Bundesregierung ist auf den nordafrikanischen Türsteher der EU angewiesen«, meint die Bundestagsabgeordnete der Linken. »Die Ereignisse in Ceuta vor wenigen Wochen haben erneut gezeigt, wie erpressbar sich die EU mit ihrer menschenverachtenden Abschottungspolitik macht«, sagt die stellvertretende Vorsitzende der Parlamentariergruppe Maghreb-Staaten.
Der Zahlungsstopp macht sich auch bei einer der wichtigsten Umsetzungsagenturen bemerkbar
Dazu kommen wirtschaftliche Interessen und die Entwicklungszusammenarbeit ins Spiel. Deutschland ist ein wichtiger Geldgeber und investiert insbesondere in wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Projekte. »Im letzten Jahr wurden 420 Millionen Euro zugesagt, ein Großteil davon Kredite«, schlüsselt eine Sprecherin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) auf Anfrage von zenith auf.
»Zusätzlich wurden 2020 wegen der Corona-Krise überwiegend Kredite in Höhe von 717 Millionen Euro über die KfW zur Verfügung gestellt, unter anderem für Kreditgarantieprogramme zur Absicherung von Unternehmen. Insgesamt wurden 2020 also 1,137 Milliarden Euro zugesagt.«
Und eben jene Gelder sind nun vorerst eingefroren. »Mit Blick auf die fortdauernde Krise passt das BMZ das bestehende Portfolio und geplante Mittelauszahlungen an die veränderten Umstände an«, heißt es in der Antwort des Ministeriums.
Der Zahlungsstopp macht sich auch bei einer der wichtigsten Umsetzungsagenturen bemerkbar. »Der fehlende Austausch zu den marokkanischen Partnern hat zur Folge, dass die Arbeit an den etwa 50 Projekten, die die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Marokko umsetzt, nur in einem begrenzten Umfang durchgeführt werden kann«, erklärt ein Sprecher der GIZ gegenüber zenith.