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Indiens Muslime und der Weg an den Golf

Offene Beziehung

Reportage
Keralas Muslime und die Arbeitsmigration am Golf
Der Mahatma-Gandhi-Strand in der alten Hafenstadt Kochi ist ein beliebtes Ausflugsziel für Familien in Kerala. Foto: Sebastian Castelier

Muslime aus dem indischen Bundesstaat Kerala haben die Golfstaaten mitaufgebaut. Jugendliche träumen heute nicht mehr von einem Leben als Gastarbeiter, sondern von einer modernen Ehe.

Umgeben von Koranen und Gebetsmatten steht der 18-jährige Mohammad Hisham im Gang eines islamischen Supermarkts, den sein Vater in Mampuram betreibt. Von hier, im Norden des indischen Bundesstaats Kerala, sind unzählige Menschen an den Persischen Golf gezogen. »Ich möchte das Geschäft ausbauen, warum sollte ich denn da wegziehen?«, fragt Mohammad. Seine Zukunft sieht er in der Heimat, nicht mehr in der Ferne.

 

Mit dem sinkenden Ölpreis veränderte sich entlang der indischen Küste des Arabischen Meers auch die Migration. Die Zahl der im Ausland arbeitenden Inder aus Kerala sank in den Jahren seit 2013 um zwölf Prozent, 300.000 Menschen kehrten im Zuge der Wirtschaftsflaute am Golf zurück. Ein Trend, der durch die Verschärfung des Arbeitsrechts in einigen der Zielländer noch verstärkt wird.

 

Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass zwischen Anfang 2017 und dem dritten Quartal 2018 mehr als 1,1 Millionen Ausländer Saudi-Arabien verlassen haben, immerhin das Land mit der höchsten Zahl von Gastarbeitern aus Kerala. In den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), wo heute 830.000 Inder aus dem Bundesstaat im Südwesten leben, haben private Unternehmen, die nicht im Ölgeschäft arbeiten, zuletzt so viele Jobs gestrichen wie seit zehn Jahren nicht, meldete das Wirtschaftsportal Bloomberg im Frühjahr 2019.

 

Keralas Muslime und die Arbeitsmigration am Golf
»Wie viele kostbare Jahre deines Lebens wirst du am Golf verbringen, weit weg von deiner Familie? Was ist das für ein Leben?« Hashim Karadan hat stattdessen 2004 sein eigenes Tonstudio in seiner Heimatstadt Mampuram hochgezogen. Foto: Sebastian Castelier

 

»Der Traum vom Golf verblasst«, glaubt Irudaya Rajan, Experte in Migrationsfragen, der in Trivandrum, Kerala, am Centre for Development Studies (CDS) forscht. Shibinu Shahul, Wirtschaftsprofessor am PSMO College in Malappuram, unterstreicht diese Einschätzung. Shahul untersucht Keralas muslimische Migranten-Communities, und die Zahl seiner Studenten, die sich vorstellen könnten, am Golf zu arbeiten, ist nur noch ein Drittel so hoch wie vor zehn Jahren.

 

Hinzu kommt, dass die Bevölkerung altert und die Zahl der überhaupt für Arbeitsmigration in Frage kommenden Inder sinkt. Laut »Kerala Migration Survey 2018«, der mittlerweile achten Ausgabe der vom CDS durchgeführte Umfrage, sank der Bevölkerungsanteil der 15- bis 29-Jährigen, die besonders oft auswandern, von 53 (1981) auf 37 Prozent (2011).

 

Doch nicht nur wirtschaftliche Überlegungen spielen eine Rolle, auch der Wunsch nach persönlicher Entwicklung gewinnt zunehmend an Bedeutung. »Wie viele kostbare Jahre deines Lebens wirst du am Golf verbringen, weit weg von deiner Familie? Zu viele! Was ist das für ein Leben?«, fragt sich Hashim Karadan, Besitzer eines Tonstudios in Mampuram.

 

Keralas Muslime und die Arbeitsmigration am Golf
Zwischen Anfang 2017 und dem dritten Quartal 2018 haben mehr als 1,1 Millionen Ausländer Saudi-Arabien verlassen, immerhin das Land mit der höchsten Zahl von Gastarbeitern aus Kerala. Foto: Sebastian Castelier

 

Als Karadan seine Firma Soundex gründete, schüttelten seine Freunde nur mit dem Kopf. »Aber seit sich die wirtschaftliche Situation am Golf verschlechtert, bewundern sie mich dafür, dass ich hier ein funktionierendes Geschäft hochgezogen habe«, sagt er und fügt hinzu, dass selbst ein Job in der Verwaltung viel gefragter sei, statt für Arbeit an den Golf zu ziehen. Dafür gibt es gute Gründe.

 

So sind die rohstoffreichen Länder am Golf dafür bekannt, Migranten nur für die Dauer des Arbeitsverhältnisses zu dulden – mit keiner Chance auf den Erwerb der Staatsbürgerschaft. »Viele Keraliten können heute aber auch in Ländern arbeiten, in denen genau das möglich ist«, sagt Rajan und verweist auf die USA, Kanada, Großbritannien und Australien. Glaubt man ihm, dann hat »der Golf seine Anziehungskraft verloren«.

 

Rund 1,9 Millionen Menschen aus Kerala arbeiten in einem der sechs Länder des Golf-Kooperationsrats (GCC).

 

Doch noch ist Kerala einer der größten Lieferanten von Arbeitskraft an den Golf, mit rund 1,9 Millionen Migranten, die in einem der sechs Länder des Golf-Kooperationsrats (GCC) arbeiten. Was sie an Geld nach Hause schicken, summiert sich zu einem Drittel der Einnahmen des Bundesstaats und hat dazu beigetragen, dass sich der Lebensstandard in den letzten 50 Jahren dramatisch verbessert hat. »Man stelle sich vor, diese Form der Migration hätte nie stattgefunden, Keralas Muslime würden verhungern. Die Arbeit dort ist ein Geschenk des Himmels«, glaubt Irudaya Rajan.

 

Doch auch wenn Arbeitsmigration oft zu einer Win-win-Situation führt, ist Ausbeutung Teil des Systems, etwa wenn Gehälter nicht gezahlt werden, Arbeitsbedingungen miserabel sind, die Gastarbeiter körperlicher und psychisch missbraucht werden oder der Zugang zu medizinischer Versorgung und juristischem Beistand nicht gewährleistet sind. Am Golf sind laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) zudem rund 600.000 Migranten Opfer von Zwangsarbeit.

 

»Die Arbeiter aus Kerala stehen dort unter hohem Stress«, meint Rajan. Und jetzt, da in der Gesellschaft offen über die Probleme der Arbeitsmigration gesprochen wird, änderten sich auch andere soziale Übereinkünfte, etwa die Ehe. Die besseren Lebensbedingungen kämen auch Frauen zugute, die sich mit einem Leben als einsame, auf die Rückkehr ihres Gatten wartende Ehefrau nicht mehr abfinden wollten. »Der moderne Ehemann sollte so etwas wie ein bester Freund sein, der physisch und emotional anwesend ist«, meint etwa Shibila Fayiza. »In arrangierten Ehen spielen die Gefühle der Frauen keine Rolle«, findet die 19-jährige Studentin aus Kannur. »Aber die Dinge ändern sich, wir sind jetzt viel besser ausgebildet.«

 

Keralas Muslime und die Arbeitsmigration am Golf
Seit offen über die Probleme der Arbeitsmigration gesprochen wird, änderten sich auch andere soziale Übereinkünfte, etwa die Ehe. »In arrangierten Ehen spielen die Gefühle der Frauen keine Rolle«, findet die 19-jährige Shibila Fayiza.Foto: Sebastian Castelier

 

Immer mehr Frauen können lesen, waren es 1951 nur 36 Prozent aller Inderinnen, sind es 2011 bereits 92 Prozent. Sie profitieren davon, dass vergangene Generationen als einfache Gastarbeiter genug Geld sparen konnten, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen. In Zeiten schwindender finanzieller Stabilität am Golf sind solche Jobs im Ausland mit Blick auf den Heiratsmarkt weniger attraktiv. »Ich würde nie den Antrag eines Gastarbeiters annehmen. Ich suche einen Mann, der in der Verwaltung arbeitet«, sagt Fayiza.

 

Gleichzeitig hat es Kerala in den letzten 50 Jahren versäumt, die Rücküberweisungen seiner Migranten in die Wirtschaft vor Ort zu investieren, analysiert Rony Thomas Rajan, Wirtschaftsprofessor an der Universität Kerala. Stattdessen sei lediglich das Privatvermögen der Menschen gewachsen. »Das war der größte wirtschaftspolitische Fehler überhaupt«, urteilt er und fordert einen langfristigen Entwicklungsplan. Doch daran glaubt er selber nicht – auch wenn die Behörden behaupten, mittweile ein Kredit-Programm auf die Beine gestellt zu haben, das Rückkehrern vom Golf dabei helfen soll, sich eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen.

 

Weil Keraliten am Golf im Laufe der Jahrzehnte aber langsam die Karriereleiter erklommen haben und heute mehr Geld als früher verdienen, konnten sie 2018 fast elf Milliarden Euro nach Hause überweisen – zwei Milliarden mehr als noch 2013. Und doch sind die Behörden besorgt, bedeutet ein Rückgang der an den Golf auswandernden jungen Menschen doch auch eine erhöhte Nachfrage nach Jobs in Kerala selbst – und von denen gibt es nicht genug.

 

Weniger Jugendliche, die es für die Arbeit an den Golf zieht, und eine lokale Wirtschaft, die den Daheimbleibenden kaum Jobs bietet: ein Horrorszenario für Kerala. »Die hohe Arbeitslosigkeit wurde hier lange durch das Geld vom Golf übertüncht«, sagt Thomas Rajan. 2018 berichteten lokale Medien, dass die Arbeitslosigkeit in dem Bundesstaat doppelt so hoch wie im Rest von Indien sei.

 

Afeefa Rasheed studiert Handel und will einen Beitrag dafür leisten, dass »Kerala Lösungen findet«. Sie baut eine Online-Plattform auf, über die lokale Künstler ihre selbst gemachte Ware verkaufen können, damit sie im Land bleiben. »Wenn ich hier wegziehe, dann hilft das den Ländern am Golf, aber nicht Indien. Es ist besser, wir denken jetzt um«, glaubt die Studentin. Als ihr ein Freund von seinem Plan berichtete, an den Golf zu ziehen, fragte Rasheed ihn, wie er sich das denn vorstelle. »Wenn jemand eine klare Vorstellung davon hat, wie sein Weggang zur wirtschaftlichen Entwicklung Indiens beitragen kann, dann geht das in Ordnung. Wer die Frage nicht beantworten kann, sollte aber besser bleiben«, ist sie überzeugt.

Von: 
Sebastian Castelier

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