Fast zehn Jahre an der Spitze der irakischen Regierung: Nuri Al-Maliki galt als ebenso verhasster wie gewiefter Machtpolitiker. Dann wurde er abserviert. Im Gespräch mit zenith will er einiges geraderücken.
zenith: Man wirft Ihnen vor, dass Sie als Schiit eine Politik der Spaltung der Sunniten durch Schiiten betrieben und deshalb für das Chaos im Irak maßgeblich verantwortlich sind.
Nuri Al-Maliki: Ich und konfessionalistisch? Ich, Maliki? Die erste Militäroperation, die ich in meiner Amtszeit anordnete, richte sich gegen die Mahdi-Armee von Muqtada Al-Sadr, die folgenden Einsätze fanden in Kerbela und Nadschaf statt – in schiitischen Städten. Wenn ich gegen schiitische Aufständische zu den Waffen greife, sagt keiner was. Aber wenn es Sunniten sind, werde ich als konfessionalistischer Politiker abgestempelt. Dieser Vorwurf ist konstruiert – und daran sind Saudi-Arabien auf der einen und Masud Barzani auf der anderen Seite nicht ganz unschuldig.
Was werfen Sie den Saudis und dem Kurdenpräsidenten vor?
Saudi-Arabien lebt im Glauben, dass Iran die Kontrolle im Irak übernommen hat. Schon König Abdullah ließ verlautbaren: Bagdad ist das Land der Abbasiden-Kalifen, es kann nicht von einem Schiiten regiert werden. Deswegen muss Maliki entfernt werden. Zu der Zeit schwirrten unzählige takfiristische Fatwas herum, und der König lobte sogar eine Belohnung in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar aus, um meine Regierung zu stürzen. Das hat den Konfessionalismus im Irak in Gang gesetzt. Leider haben viele Sunniten dem Glauben geschenkt und diese Slogans aus Saudi-Arabien dann aufgegriffen.
»Die Saudis wollen Israel für einen Angriff auf Iran gewinnen. Ich glaube aber nicht, dass Israel sich darauf einlassen wird.«
Der saudische Kronprinz hat angekündigt, sowohl seine Streitkräfte stärker im Antiterror-Kampf einzusetzen als auch die Terrorfinanzierung saudischer Staatsangehöriger einzuhegen. Trauen Sie der Ankündigung von Muhammad Bin Salman (MBS)?
MBS führt nur Befehle aus. Die USA und Europa wollen das schlechte Image Saudi-Arabiens aufpolieren, das mit Terrorismus und Hass auf religiöse Minderheiten in Verbindung gebracht wird, und sind natürlich auch an dem Geld interessiert, dass MBS dafür zu zahlen bereit ist. Wenn ihm dieser PR-Coup gelingt, steht Saudi-Arabien in der öffentlichen Wahrnehmung nämlich auf einer Stufe mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).
Hegen Sie Zweifel an den Motiven oder der Eignung des saudischen Thronfolgers?
MBS soll die alte Führungsriege in Saudi-Arabien aus dem Weg räumen und die saudische Gesellschaft reformieren. Doch ist er dieser Aufgabe wirklich gewachsen? Ich bezweifle es. Schließlich scheint sein Hauptaugenmerk darauf zu liegen, sein Land in eine direkte militärische Konfrontation mit Iran zu steuern und der Schia entgegenzutreten. MBS stellt aus meiner Sicht ein Risiko für die Stabilität der gesamten Region dar – aber auch für Saudi-Arabien. Überdies denke ich nicht, dass Saudi-Arabien allein stark genug ist, einer Regionalmacht wie Iran die Stirn zu bieten oder gar in ihrer Stabilität zu gefährden. Aus diesem Grund versucht Riad, Israel für einen Angriff auf Iran zu gewinnen. Ich glaube aber nicht, dass Israel sich darauf einlassen wird, schließlich stünden dann die Hizbullah-Raketen an seiner Grenze zur Vergeltung bereit.
Und Masud Barzani hatte Ihrer Meinung nach auch seine Hände im Spiel?
Das sehe nicht nur ich so. Der 2016 verstorbene ägyptische Intellektuelle Mohammad Hassanein Heikal hat schon vor drei Jahren gesagt, dass Barzani die konfessionalistische Spaltung im Irak angefeuert hat. Er hat solange daran gearbeitet, bis er sein Ziel erreichte: Denn der Verlust zentralstaatlicher Kontrolle über Mosul diente dazu, die Einverleibung von sunnitischen Provinzen voranzutreiben. Iraks Sunniten durchschauten das Spiel nicht, während Saudi-Arabien zwischen den Stühlen saß: Sollte man die sunnitischen Provinzen Mosul und Kirkuk vor dem Vormarsch der Kurden schützen oder dem Vorstoß der Schiiten Einhalt gebieten? Die Saudis entschieden sich für Letzteres und fachten so die konfessionalistische Abspaltungsbewegung in den Provinzen Anbar und Saladin an.
Sie glauben, dass Iraks Sunniten sich ohne Unterstützung von außen nicht erhoben hätten.
Die Proteste der Sunniten 2013/14 wurden von Saudi-Arabien angestachelt und ermöglichten es dem IS, sich im Irak einzunisten. Einige irakische Politiker bekundeten öffentlich ihre Unterstützung für die Demonstrationen, obwohl dadurch einige unserer wichtigsten Verbindungsstraßen und Handelsrouten für fast ein Jahr blockiert wurden. Gegen Ende der Konfrontation gewann der sogenannte Islamische Staat (IS) an militärischer Stärke – unsere Streitkräfte mussten ja schließlich mit Waffen aus Polen, Bulgarien und Iran auskommen. Ich habe die Sunniten schon damals gewarnt, sich nicht instrumentalisieren zu lassen, weil dieser Weg nur zu weiterer Zerstörung führt. Leider kam es aber so: Die Sunniten kämpften im Auftrag Saudi-Arabiens und die Schiiten im Auftrag Irans. Als irakische Sunniten und Schiiten müssen wir uns wieder zusammentun, um die nationale Einheit zu schützen, damit Masud Barzani den Irak nicht aufspaltet. Hoffentlich bekommen wir das hin.
»Die Iraner waren an meiner Absetzung nicht beteiligt, aber sie blieben stumm und setzten sich nicht für meinen Verbleib ein.«
Was hat Masud Barzani im Herbst 2017 veranlasst, das Unabhängigkeitsreferendum auszurufen?
Die Kurden wollen einen eigenen Staat. Da sie über vier Länder – Irak, Syrien, Türkei und Iran – verteilt leben, wird das schwer. Barzani hat also paar amerikanische Politiker und Generäle als Berater angeheuert und auch in Washington in die Lobbyarbeit investiert. Diese Berater ermutigten ihn, das Referendum voranzutreiben, um die Amerikaner dazu zu drängen, sich auf seine Seite zu stellen. Und sie überzeugten ihn, dass die Europäer ihre Position zu seinen Gunsten ändern würden, nachdem die USA ihre Ablehnung gegenüber solch einem Schritt signalisierten. Außerdem war er sich von Anfang der Unterstützung Israels sicher. Barzani glaubte, dass das Referendum Fakten schaffen und so den Widerstand gegen die Ausrufung eines Staates überwinden würde. Barzani lässt in der Sache weder mit sich reden, noch kann er von seinem Kurs abgehalten werden – so hat er Kurdistan zerstört.
Hat Barzani nicht mit der Reaktion der irakischen Zentralregierung gerechnet?
Exakt. Er hat darauf gebaut, dass die Amerikaner der Zentralregierung die Daumenschrauben anlegen würde. Stattdessen haben sie Barzani zur Ordnung gerufen, weil er sich gegen die Linie der US-Regierung gestellt hatte. Aus diesem Grund gaben die Amerikaner Bagdad grünes Licht, Truppen an die Grenze zur Kurdischen Autonomieregion zu schicken, ohne sich jedoch in Kämpfe verwickeln zu lassen.
Der algerische Diplomat Lakhdar Brahimi hat 2017 im Gespräch mit zenith den irakischen Schiiten vorgeworfen, sich immer noch wie eine unterdrückte Minderheit zu benehmen, obwohl sie die Mehrheit sind und die politische Macht haben.
Die Schiiten hatten lange keine Teilhabe an der Regierung – das änderte sich nach dem Fall des Baath-Regimes. Seitdem ist der Irak eine Demokratie und die Schiiten üben auch Regierungsverantwortung aus. Die Sunniten lehnten das ab: nicht nur Schiiten an der Macht, sondern Wahlen und die Schia insgesamt. Sie boykottierten die Wahlen und schlossen sich stattdessen zu terroristischen Organisationen zusammen. Und die verfolgten zwei Ziele: die Regierung stürzen und Schiiten töten. Dabei konnten sie auf die Unterstützung aus Riad bauen, weil die Saudis Angst hatten, dass das irakische Beispiel auch in ihrem Land Schule machen würde. Die Schiiten sind über demokratische Prozesse in die Regierung gekommen. Sie haben nicht einfach die Macht übernommen – wir reden hier ja von einem Verwaltungsapparat. Die Sunniten haben diese Kräfteverhältnisse nicht akzeptiert, und die Schiiten haben auf diese Ablehnung nun mal reagiert – wie sie es meistens in solchen Situationen tun. Aber ihr Widerstand resultierte nicht aus dem Glauben, in der Minderheit zu sein, sondern aus der Notwendigkeit, das irakische Demokratie-Experiment sowie Leib und Leben zu verteidigen.
Ich war kürzlich in Samarra - eine mehrheitlich sunnitische und bis vor Kurzem von Aufständischen kontrollierte Stadt. Auf den Straßen, wo man hinschaut, schiitische Fahnen und Hussein-Porträts. Fühlen sich Sunniten dadurch nicht provoziert?
Nein, denn diese Porträts richten sich doch nicht gegen sie, sondern sind Ausdruck schiitischer Religiosität. Die Sunniten und überhaupt jede Religionsgemeinschaft pflegen doch auch ihre eigenen Riten. Die Banner, die Sie in Samarra zu Gesicht bekommen haben, hingen dort anlässlich der alljährlichen Wallfahrt im Gedenken an den zehnten Imam der Schiiten, Ali Al-Hadi, dessen Schrein in Samarra steht.
Im Frühsommer 2014, als Mosul fiel, mussten Sie als Premierminister den Hut nehmen, Haidar Al-Abadi folgte Ihnen im Amt. Wie haben Sie diese turbulenten Wochen erlebt?
Es war wirklich traurig. Die Ereignisse nahmen schon im Jahr zuvor ihren Lauf. Damals wollte die US-Regierung mithilfe der Arabischen Liga und Saudi-Arabiens Baschar Al-Assad zu Fall bringen. Ich hielt mich damals sogar in den Vereinigten Staaten auf – dort haben die Amerikaner mit mir auch die Szenarien für Assads Absetzung diskutiert. Sie glaubten, dass er in zwei, drei Wochen zu Fall gebracht werden könnte. Ich teilte diese Einschätzung nicht und warnte meine Gesprächspartner, dass Syrien wegen seiner sensiblen geostrategischen Lage unter keinen Umständen in die Hände von Terroristen fallen dürfe.
Das Assad-Regime hatte in der Vergangenheit ein ambivalentes Verhältnis zu dschihadistischen Gruppen.
Schon bevor der Konflikt in Syrien startete, hatte ich mich beim UN-Sicherheitsrat über Baschar Al-Assad beschwert, weil Terroristen aus Syrien in den Irak eingesickert waren – darunter auch saudische, libysche und jemenitische Staatsbürger. Keines der Herkunftsländer dieser Terroristen gab mir Rückendeckung – und auch die Amerikaner blieben stumm. Bei der folgenden Pressekonferenz im Weißen Haus verurteilte dann Barack Obama den syrischen Präsidenten, während ich in die Rolle gedrängt wurde, Baschar Al-Assad in Schutz zu nehmen. Denn niemand hat das Recht, ein Staatsoberhaupt zum Rücktritt aufzufordern, mit Ausnahme von dessen Volk.
»Nach einem Sturz Assads in Syrien wäre auch Bagdad gefallen!«
Hielten Sie Assad für das kleinere Übel?
Ich rechnete damit, dass im Falle von Assads Sturz das Regime in die Hände der Terroristen fallen würde. Ob der geografischen Lage würde der Terror vor der Grenze nicht Halt machen und darauf zielen, die Regierung in Bagdad ebenfalls zu Fall zu bringen. Aus diesem Grund lehnte ich eine Handelsblockade gegen Syrien ab, weil es den Staat noch weiter geschwächt hätte und damit auch den Irak in Gefahr gebracht hätte. Diese Entscheidung brachte mich auf Kollisionskurs mit den Amerikanern.
Sie vertrauen den Vereinigten Staaten nicht?
Bevor sich Daish im Irak breitmachte, machten die Amerikaner die Stützpunkte der Terroristen in der Wüste entlang der 600 Kilometer langen Grenze per Drohnenüberwachung aus. Ich habe sie mehrmals gebeten, diese IS-Stützpunkte gemäß unseren Vereinbarungen anzugreifen, aber ich wurde immer wieder vertröstet. Stattdessen haben sie mir vorgeschlagen, mich an die Vereinten Nationen und den US-Kongress zu wenden, um dort für Zustimmung für einen Militärschlag gegen den IS zu werben.
Fanden Sie Gehör?
Mitte August 2013 richteten wir eine solche Anfrage an Washington, aber erhielten keine Antwort. Letztlich empfahlen uns die Amerikaner, Jordanien um Hilfe zu ersuchen. Der Vorschlag war wenig sinnvoll, schließlich haben wir mit Jordanien kein vergleichbares Abkommen geschlossen wie mit den USA. Bei einem späteren Staatsbesuch habe ich Obama um Waffenlieferungen gebeten, damit unsere Streitkräfte dem IS begegnen können. Er gab sein Einverständnis, aber diese Zusage wurde nie eingehalten.
Sie geben den Amerikanern die Schuld für die militärische Eskalation ab 2014?
Als der IS die Gebiete unter seiner Kontrolle in Syrien und dem Irak zu einem Territorium zusammenzog, stoppten die Amerikaner die Lieferung von Panzern, Helikoptern und F16-Kampfjets. Aus diesem Grund mache ich die USA für die Gründung des IS verantwortlich. Ich bekam damals Wind von Gesprächen zweier amerikanischer Offiziere in Erbil: Anwesend waren neben Masud Barzani und seinen beiden Söhnen auch eine Reihe ehemaliger Baath-Kader und Mitglieder des Naqschbandi-Ordens, darunter etwa der untergetauchte Saddam-Vertraute Izzat Ibrahim Al-Duri und der flüchtige und rechtskräftig verurteilte ehemalige Vizepremier Tarek Al-Haschemi. Als ich bei den Amerikanern nachfragte, leugneten sie jedes Wissen über eine offizielle Mission der beiden.
Sie sehen eine Verschwörung am Werk?
Ganz ehrlich? Ich glaube, die Amerikaner haben im schlimmsten Fall bei der Gründung des IS ihre Hände im Spiel gehabt und im besten Fall dessen Aufstieg wissentlich ignoriert. Nach allem, was ich weiß, habe ich Grund zu Annahme, dass das IS-Szenario im Irak jenem der Taliban in Afghanistan gleicht: Die wurden gegründet, um die Sowjets zu verscheuchen, so wie der IS geformt wurde, um mich aus dem Amt zu treiben, weil ich das amerikanische Projekt in Syrien durchkreuzt habe.
Wie hat sich Iran während dieses Zeitraums verhalten?
Die Iraner stehen an unserer Seite, weil sie die Gefahr erkennen, die vom IS für Libanon, Syrien und auch ihr eigenes Land ausgeht. Denn fällt der Irak in die Hände des IS, ist Iran als nächstes dran. Und der Plan, mich aus dem Amt zu entfernen? Damit hatten die Iraner nichts zu tun. Das war im Wesentlichen das Ergebnis einer amerikanisch-britisch-saudischen Verschwörung. Die Iraner waren nicht beteiligt, aber sie blieben stumm und setzten sich nicht für meinen Verbleib ein.
Wird Baschar Al-Assad jemals einem Machtwechsel zustimmen?
Nein, unmöglich. Die Baathisten glauben, dass sie auf ewig an der Macht bleiben. Wenn Assad den IS, die Nusra-Front und Al-Qaida besiegt, werden ihn die Syrer als Nationalhelden verehren. Wenn es tatsächlich zum Machtwechsel kommen und das neue Staatsoberhaupt kein Alawit sein sollte, steht der nächste Bürgerkrieg schon vor der Tür. Denn das neue Regime würde alle Alawiten abschlachten. Schon aus diesem Grund sieht sich Assad gezwungen, an der Macht zu bleiben. Er wird eine Verfassungsreform einleiten und weiter an Wahlen teilnehmen. Wenn er an der Urne den Kürzeren zieht, müsste er die Macht abgeben. Allerdings bin ich sicher, dass er aus Wahlen auch künftig siegreich hervorgehen wird.
Halten Sie es für möglich, dass Russland die Geduld mit Assad verliert und mit den USA übereinkommt, ihn aus dem Amt zu drängen?
Das könnte so kommen, wenn Assad einem Rückzug zustimmen würde. Ich halte ein solches Szenario aber nicht für realistisch.
Sie haben sechzehn Jahre in Syrien gelebt. Sind die friedliche Koexistenz der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen und der Minderheitenschutz dem Regime wirklich wichtig?
Syrien war damals ein sicheres Land. Als Iraker im Exil empfand ich die wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage als sehr stabil. Im politischen System nimmt die Baath-Partei eine dominante Stellung ein. Doch mit Ausnahme des Präsidentenpostens, des Informationsministers und des Armeegeheimdienstes besetzten Sunniten die wichtigsten Ämter. Im Gegensatz zum Irak unter Saddam Hussain waren die Sunniten in Syrien also in der Regierung vertreten. Die Baath-Partei hat dort keinen konfessionalistischen Kurs verfolgt, weil das die Balance zwischen den verschiedenen Gruppen gefährdet hätte. Dennoch haben die Alawiten gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften eine herausgehobene Stellung.
Welche Position vertritt Iraks Regierung im Syrien-Konflikt? Spielt sie eine Rolle dabei, eine Lösung zu finden?
Irakische Freiwillige und Parteien sind bereits in Syrien aktiv, aber als Regierung sind wir nicht involviert. Ich denke, dass sich das ändern sollte. Iraks Regierung wird sich an einer Lösung beteiligen, sobald die Amerikaner auf sie zugeht und Vorschläge präsentiert. Allerdings ist der Syrien-Konflikt viel zu komplex, als dass die Frage einer irakischen Intervention allein ausschlaggebend wäre. Entscheidend ist das Verhalten der Regionalmächte Iran, Türkei und Saudi-Arabien. Der Irak kann da wenig ausrichten.
Wenn diese Regional- sowie die Großmächte bei den Verhandlungen zu einem Kompromiss fänden, würden die irakischen Milizen dann aus Syrien abziehen?
Ja. Vorausgesetzt, die Lage beruhigt sich und Regierung und Verfassung werden reformiert. Dann gäbe es keine Argumente mehr für den Verbleib auswärtiger Truppen – auch nicht der irakischen.
Der Haschd Al-Scha’bi wurde teils in die irakischen Streitkräfte integriert und sitzt auch in der Regierung mit am Tisch – sehr zum Missfallen westlicher Diplomaten. Haben die Milizen Iraks Regierung in der Hand?
Ich war maßgeblich an der Gründung des Haschd Al-Scha’bi beteiligt – und habe dafür Sorge getragen, dass die zugrundeliegende Fatwa keine konfessionalistischen Züge trägt. Und obwohl uns die Amerikaner nur mit unzureichender Ausrüstung ausgestattet hatten, lehnte der Haschd Al-Scha’bi es ab, Waffen aus Iran zu beziehen. Der Haschd Al-Scha’bi im Irak ist vergleichbar mit der Volksmobilisierung in den Revolutionen in Russland, Algerien und Iran. Wenn eine Armee einen solchen Aderlass erleidet, muss die Bevölkerung mobilisiert werden. Seit Beginn des Konflikts in Syrien hatte ich meine Regierungskollegen in der Irakischen Nationalallianz gewarnt, dass der Krieg in den Irak hinüberziehen und die Welle des Konfessionalismus auch über unsere Streitkräfte hinwegfegen wird. In Iraks Armee dienen zwar sowohl Sunniten als auch Schiiten. Aber die Sunniten hätten nicht mitgezogen, und wir hätten mitansehen müssen, wie unsere Städte eine nach dem anderen dem Gegner in die Hände fallen. Eines der Ziele war der Schutz der heiligen Stätten in Kerbela vor Anschlägen – wir wollten also konfessionelle Konflikte verhindern. Zugleich verteidigten sie und jagten die Terroristen aus Bagdad und Samarra und anderen konfessionell gemischten Städten.
Mosul hatten die Soldaten im Juni 2014 fluchtartig verlassen, sodass der IS ohne Widerstand Iraks zweitgrößte Stadt einnehmen konnte.
In Mosul hat die Armee nicht versagt – sie wurde Opfer des sunnitisch-kurdischen Plans. Masud Barzani persönlich ließ zwei kurdische Offziere in der irakischen Armee aus Mosul und auch Tikrit zurückbeordern.
Entwertet der Erfolg des Haschd Al-Scha’bi nicht den Stellenwert der Armee?
Der Haschd Al-Scha’bi war aus zwei Gründen so entscheidend: Er hat an vorderster Front viele Schlachten gegen den IS geschlagen und so die Befreiung unserer Städte ermöglicht. Und er gab der Armee neuen Mut, den Krieg zu gewinnen. Zu Beginn setzte sich der Haschd Al-Scha’bi ausschließlich aus schiitischen Milizen zusammen. Später aber schlossen sich sunnitische, kurdische und christliche Einheiten an – eine Art irakischer Reservearmee.
Verstehen Sie das Unbehagen über den Machtzuwachs der Milizen?
Das Parlament hat den Haschd Al- Scha’bi in die Streitkräfte per Gesetz integriert – die Auflösung der Milizen müsste aber ebenfalls vom Parlament beschlossen werden. Darauf werden sich weder die Abgeordneten einigen können, noch würde die Bevölkerung solch einen Schritt unterstützen.
»Ich persönlich habe keinen blassen Schimmer, wie die amerikanische Nahost-Strategie aussieht.«
Teile der Bevölkerung sind aber auch Opfer von Gräueltaten seitens des Haschd Al-Scha’bi geworden.
Ja, es gab eine Reihe von Regelverstößen in den Reihen des Haschd Al-Scha’bi: Einige haben sich des Mordes und Entführung schuldig gemacht. Bei einigen dieser Vorfälle gaben die Milizen nur vor, zum Haschd Al-Scha’bi zu gehören, und wurden später dingfest gemacht. Warum sollen wir den Haschd Al-Scha’bi auflösen, solange wir ihn unter Kontrolle haben? Wir wollen die Milizen auf Recht und Gesetz verpflichten – das bindet sie dann ja auch an Rechte und Pflichten.
Welche Rolle soll der Haschd Al-Scha’bi künftig in der Sicherheitsarchitektur des irakischen Staates einnehmen?
Der Haschd Al-Scha’bi wird Einheiten bilden, deren Aufgabe es sein wird, die Grenzen zu schützen und die Sicherheitslage zu stabilisieren. Die Angst vor einer Übernahme der Regierungsgewalt ist unbegründet. Der Haschd Al-Scha’bi soll als Teil des Militärs ja gerade nicht mit bestimmten politischen Parteien oder gesellschaftlichen Gruppen verbunden sein. Stattdessen soll er als nationale Institution denselben Status und dieselben Rechte innehaben wie die reguläre Armee oder die Polizei. So stellen wir auch sicher, dass er sich an die Spielregeln hält.
Könnte ein Staatenbund die Konfliktparteien in der Region zueinander führen und langfristig Stabilität erreichen?
Europa hat nach zwei verheerenden Weltkriegen solch ein System angestrebt. Die Politiker handelten verantwortungsvoll und konnten sich zudem der Unterstützung der Bevölkerung sicher sein. So gelang es den Europäern, erst die EU, später die OSZE zu gründen und Europa zu stabilisieren. Der Nahe Osten ist eine rohstoffreiche Region von geostrategischer Bedeutung. Die auswärtige Einmischung hat den Nahen Osten verwüstet. Aus diesem Grund konnten Führer der arabischen Welt nie so die Kräfte bündeln wie die Europäer. Die Notwendigkeit, eine Friedensordnung zu schaffen, könnte der Erschöpfung der militärischen Schlagkraft folgen – wie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Voraussetzungen für eine vergleichbare Ordnung sind in unserer Region nicht gegeben. Wir brauchen herausragende Führungspersönlichkeiten – und die Einmischung von außen muss ein Ende finden.
Trumps Außenpolitik steht unter anderem in der Kritik, weil anscheinend ausschließlich Israel, Saudi-Arabien und Waffenlieferungen auf der Agenda der US-Regierung stehen. In der Region selber zeigen die USA dagegen kaum Präsenz.
Ich habe neulich zwei amerikanische Offizielle getroffen und sie nach dem außenpolitischen Kurs gefragt. Ihre Antwort: Der müsse erst noch definiert werden nach dem Regierungswechsel und der Neubesetzung im State Department. Ich persönlich habe keinen blassen Schimmer, wie die amerikanische Nahost-Strategie aussieht.
Nuri Al-Maliki wurde 1950 in Hindiya in der Provinz Kerbela geboren. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft an der Universität Bagdad engagierte sich der Schiit immer stärker in der verbotenen Dawa-Partei und wurde 1980 zum Tode verurteilt. Maliki floh 1979 ins Exil nach Syrien und baute von dort aus enge Verbindungen zur libanesischen Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden auf. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes kehrte er in den Irak zurück und wurde 2006 Premierminister. Im August 2014 trat Maliki zurück, bekleidet seitdem aber offiziell den Posten des Vizepräsidenten. Maliki stand während seiner Amtszeit immer wieder in der Kritik, für ausufernde Korruption im Staatsdienst und eskalierenden Konfessionalismus in der Gesellschaft die Verantwortung zu tragen. Gegner werfen ihm außerdem vor, den politischen Prozess zu sabotieren und ein Comeback vorzubereiten. zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach traf Nuri Al-Maliki in Bagdad.