Auftakt zur neuen, dreiteiligen zenith-Reihe »decrypt«. Teil 1: Die geopolitischen Folgen der israelischen Feldzüge in Gaza und im Libanon.
Nicht nur das Ausmaß der durch den 7. Oktober 2023 ausgelösten Kriege in Gaza und Libanon lässt Beobachter von einer neuen Qualität der Eskalation sprechen. Auch der geopolitische Kontext unterscheidet sich erheblich von dem vergangener Feldzüge der israelischen Armee. Das gilt insbesondere für einen Akteur, dessen Rolle gewichtig und zugleich ambivalent ist, der in der öffentlichen, insbesondere der deutschen Wahrnehmung kaum durchdrungen wird: Iran. Man begnügt sich tendenziell mit der Annahme, wonach Iran nicht nur die als Staatsdoktrin propagierte Feindschaft mit Israel kultiviert, sondern auf die Gelegenheit wartet, den jüdischen Staat anzugreifen: mit Milizen, konventionellen Raketen und perspektivisch auch nuklearen Waffen.
Angesichts dieser Konfrontation zwischen zwei mächtigen Gegnern treten die ungelöste Palästinafrage und die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete als Grundkonflikt in den Hintergrund, was im Interesse der israelischen Führung ist, während die iranische versucht, ihre Politik in den Augen der Weltöffentlichkeit – insbesondere der nicht-westlichen Welt des Nahen Ostens oder des Globalen Südens – genau damit zu legitimieren.
Die strategische Feindschaft zu Israel ist – trotz vielfältiger gemeinsamer Interessen beider Länder – eine Grundkonstante für Iran seit 1979. Sie überlagert allerdings nicht andere, vitalere Interessen der Islamischen Republik beziehungsweise des iranischen Regimes. Will man die Haltung und das Verhalten Teherans herleiten und Rückschlüsse auf die Motivation ziehen, muss man daher nicht nur die islamistisch-revolutionäre Feiertagsrhetorik des Regimes in die Analyse einbeziehen, sondern auch, dass klassisches geostrategisches Denken des 20. Jahrhunderts in der iranischen Entscheidungsfindung heute eine weitaus größere Rolle spielt als in westlichen Staaten und Gesellschaften.
Teherans politische Klasse hält sich zugute, dass sie das »Great Game« der Machtpolitik nicht nur durchschaut; man glaubt auch, dass diesem Spiel historische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen und man dessen Regeln und Dynamiken gezielt zur Anwendung bringen kann. Insgeheim, so die Denke der einflussreichen Geostrategen der Islamischen Republik, würden alle mächtigen Spieler auf der Welt diese Regeln kennen. Sie verstünden daher – ungeachtet öffentlicher Debatten und Polemiken – auch die Zeichen und Signale, die aus Iran gesendet werden wie eine Art Geheimsprache der Eingeweihten, die das Geschick der Welt bestimmen.
Das iranische System ist zwar getrieben von Ideologie, aber keineswegs ein Zusammenschluss von endzeitgläubigen Fanatikern
Das mag mit einer gewissen romantischen Neigung zur Überschätzung der Rationalität zu tun haben. Man überschätzt einerseits die strategische Weitsicht der Gegner, andererseits die eigene Rolle, die eigene weltpolitische Bedeutung und die eigenen Kapazitäten. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass einige der führenden Figuren, allen voran Revolutionsführer Ali Khamenei, bereits seit Jahrzehnten an der Macht sind. Das Regime selbst wird – mit Ausnahme des Präsidenten – nicht alle paar Jahre neu gewählt. Besetzungen und Fehlbesetzungen von Ministern aufgrund politischer Koalitionskompromisse sind ihm, anders als in parlamentarischen Systemen, fremd. Man ist schon deshalb von der eigenen historischen Bedeutung überzeugt und kann sämtliche Energie für Machterhalt und Machtvergrößerung einsetzen.
Wer aber seine Macht erhalten will, kalkuliert und ist mitunter weitaus risikoscheuer als jemand, der noch keine Macht hat, aber an sie gelangen will. Das iranische System ist zwar getrieben von Ideologie, aber keineswegs ein Zusammenschluss von endzeitgläubigen Fanatikern, wie der in deutschen Medien gern verwendete Begriff »Mullah-Regime« suggeriert.
Nur, welche Ziele verfolgt das Regime über diesen Selbsterhalt hinaus, und wo ergeben sich Konvergenzen zwischen innerer und auswärtiger Politik? Zu den Interessen, welche in Iran über einige politische Lager hinweg als konsensfähig gelten, gehört zum Beispiel die Eindämmung des US-amerikanischen Einflusses im Nahen Osten. Diese als historisch propagierte Aufgabe soll vor allem zugunsten Irans selbst erfüllt werden – die damit möglicherweise verbundene Aufwertung anderer, geopolitischer Akteure wie Russland oder China ist diesem Selbstverständnis nach lediglich Mittel zum Zweck.
Die Führung in Teheran will, trotz zahlreicher interner Differenzen, an dem Ziel festhalten, den nicht endemischen und daher auch nicht legitimen Akteur USA aus der Region zu verdrängen. Es mehrten sich zuletzt die Anzeichen für einen amerikanischen Machtverlust, der zum Teil auch von Washington selbst gewählt war. Darüber hinaus scheint die iranische Führung zu erwägen, dass Spannungen und Konfrontation mit den USA, solange sie noch vor Ort sind, mitunter kontraproduktiv, gewiss aber kostspielig sind.
Diese Verhandlungen mit dem »großen Satan« sind im eigenen Land über jegliche Kritik erhaben
Bisher konnte man sich im asymmetrischen Machtverhältnis zu den USA darauf berufen, dass es nicht nur auf die größere Schlagkraft ankommt, sondern auch auf die Bereitschaft, Verluste hinzunehmen. Die fällt auf Seiten der USA gering aus, was ihr Abschreckungspotenzial schwächt. Im Unterschied zu Israel mit seinem geografisch begrenzten, dicht geflochtenen Raketenabwehrschirm sind die US-Truppen in der Golfregion verwundbar durch das iranische Arsenal.
Früher, als die Beziehungen zu den Golfstaaten überwiegend schlecht waren und die Konkurrenz mit Saudi-Arabien einer offenen Feindschaft gleichkam, wäre Teheran bereit gewesen, die Sicherheit und Prosperität des Golfs dafür zu opfern. Man nahm die Golfanrainer zumindest teilweise mit in Haftung für das Verhalten ihrer amerikanischen Beschützer. Heute überwiegt das Interesse der politischen und wirtschaftlichen Kooperation mit den Nachbarn; derzeit sieht man darin auch das bessere Rezept, das Klientelverhältnis zwischen den USA und den Golfanrainern aufzuweichen.
Aufgrund eines gewissen historischen Determinismus geht man in den geschlossenen Machtzirkeln der Islamischen Republik wohl davon aus, dass die Ära des amerikanischen Imperiums ohnehin zu Ende geht. Diese Haltung steht zwar im Widerspruch zum iranischen Großmachtdenken, demzufolge nur die Supermacht Amerika ein würdiges Gegenüber auf Augenhöhe ist. Dem steht jedoch nicht im Wege, dass Iran den USA seit einiger Zeit eine Rolle zuweist, die man als »konstruktiv« bezeichnen kann. Washington soll Druck auf Israel ausüben. Gelingt es den USA, Israel zu einem Ende des Kriegs in Gaza zu bewegen, würde man dies als iranischen Erfolg und ein Ergebnis seiner standhaften strategischen Geduld verbuchen. Scheitern die USA, wie es derzeit den Anschein hat, stünden sie gegenüber der Weltöffentlichkeit und der nahöstlichen Region als schwach dar.
Die neue, vergleichsweise friedfertige Rhetorik des iranischen Präsidenten Masud Pezeshkian ist Ausdruck dieses neuen strategischen Experiments. Sie genießt Rückhalt in der Bevölkerung – unabhängig von deren Haltung gegenüber dem politischen System der Islamischen Republik, welches sie vermutlich mehrheitlich ablehnt. Beachtlich ist auch die Regelmäßigkeit, mit welcher hochrangige iranische Funktionäre inzwischen direkte Gespräche mit US-amerikanischen Counterparts führen und dafür meist auf die Vermittlung der Golfstaaten zurückgreifen. Diese Verhandlungen mit dem »großen Satan« sind im eigenen Land über jegliche Kritik erhaben und folgen den eingangs beschriebenen Ansprüchen, ein berechenbarer und gewissermaßen satisfaktionsfähiger geostrategischer Akteur sein zu wollen.
In der ihm eigenen Logik des Regimes waren die Raketenangriffe auf Israel das Ergebnis eines Kompromisses
In Wahrheit verspürt das iranische Regime in dieser Frage keinen »Druck der Straße«, da sich die Solidarität mit Palästina insgesamt, insbesondere aber mit Gruppen wie Hamas oder Hizbullah, in Grenzen hält. Letztere ist auf bestimmte gesellschaftliche Kreise beschränkt, wenngleich diese sichtbar sind und jederzeit zu PR-Zwecken aufgeboten werden können. Ein Großteil der Bevölkerung scheint zu verstehen, dass eine militärische Auseinandersetzung mit Israel oder gar den USA nicht im iranischen Interesse ist, was dem Regime wiederum Beinfreiheit verleiht und es von der Pflicht entbindet, Worten immer auch Taten folgen zu lassen. Zumal die Opportunitätskosten eines jeden Angriffs steigen, wenn dadurch Zweifel an der Schlagkraft der eigenen Waffen aufkommen könnten, wie zuletzt geschehen. Man emanzipiert sich, wenn es opportun erscheint, also von den Zwängen der eigenen Propaganda.
In der ihm eigenen Logik des Regimes waren die Raketenangriffe auf Israel das Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem Interesse an taktisch motivierter Deeskalation und der gleichfalls noch vorhandenen Abschreckungsdoktrin, wonach Iran auf Angriffe durch Israel reagieren muss, um das bestehende System zu schützen. Daher rührt die befremdliche Kaltschnäuzigkeit, mit welcher man hunderte Flugkörper auf ein Land abfeuert, um dann umgehend danach zur Tagesordnung überzugehen und mitzuteilen, man habe seine Schuldigkeit getan und halte die Angelegenheit nun für erledigt.
In der Regel achtet Iran dabei darauf, eine mehr oder weniger stringente Argumentation vorzutragen, und seine Handlung zu begründen. Im Fall des Raketenangriffs auf Israel im April war dies der israelische Luftschlag gegen eine diplomatische Vertretung Irans in Damaskus. Auf zahlreiche, dem vorausgegangene Angriffe Israels gegen Mitglieder der iranischen Revolutionsgarde in Syrien hatte man nicht vergleichbar reagiert, sondern lediglich den verbündeten Milizen grünes Licht für Beschuss auf Israel erteilt.
Nimmt man diese iranische Logik beim Wort, so war der letzte schwere Angriff Israels auf das Hauptquartier der Hizbullah, bei dem unter anderem Generalsekretär Hassan Nasrallah getötet wurde, zwar ein Schlag gegen iranische Interessen, aber keine Verletzung iranischer Souveränität. Ayatollah Khamenei hatte zwar den Verlust des gemeinsam mit Nasrallah getöteten iranischen Generals Abbas Nilforoushan als »Verbrechen des zionistischen Regimes« beklagt, den Raketenangriff auf Israel aber nicht explizit damit begründet. Die Kommunikation des Regimes lässt darauf schließen, dass man sich der Widersprüche zur Logik »wir greifen nur an, wenn wir angegriffen werden« bewusst war. Zumal man an anderer Stelle ja nicht müde wird zu betonen, die Hizbullah sei zwar ein Partner, aber keineswegs eine Zweigstelle des iranischen Regimes.
Die Milizen in Syrien und Irak, die teilweise nach dem Vorbild der Hizbullah aufgebaut wurden, entstanden nach dem Prinzip der Mitose
Der iranischen Sicht zufolge wollte man nun dem durch Israel mit Bodentruppen angegriffenen Libanon zur Seite stehen. Den eigenen Klienten, die Hizbullah, betrachtet man demnach als militärischen Verteidiger der libanesischen Souveränität (Dass die Hizbullah in der Vergangenheit die staatliche Souveränität des Libanons nicht gestärkt, sondern nach allen Regeln der Kunst ausgehöhlt hat, spielt in diesem Kalkül wohlgemerkt keine Rolle).
Zuletzt schien es sogar, als durchlaufe die bisherige iranische Strategie der »Achse des Widerstands« durch verbündete Milizen eine Revision. Nicht nur hatte Iran sich merklich von der Planung und Durchführung des 7. Oktobers durch Hamas und mit ihr verbündeter Gruppen aus Gaza distanziert. Auch die Huthi-Miliz im Jemen schien aufgrund der Zurückhaltung Irans vor dem April 2024 bemüht, sich der Unterstützung Teherans dadurch zu versichern, dass man auf israelische Ziele schoss, den Schiffsverkehr im südlichen Roten Meer lahmlegte und so die iranische Führung unter Zugzwang setzen wollte. Im Umfeld der Hizbullah mehrten sich zuletzt sogar Gerüchte, wonach Iran die »Partei Gottes« fallen lassen würde. Man kann das als Resultat von Desinformation als Mittel psychologischer Kriegführung seitens der Gegner der Hizbullah werten, oder aber als Zeichen wachsender Verunsicherung der Mitglieder der »Achse des Widerstands«.
Zweifelsfrei hat Iran seine Ressourcen überdehnt. Schiitische, revolutionär mobilisierte Kräfte waren über Jahre ein vergleichsweise kostengünstiges System für Iran, strategische Tiefe zu gewinnen. »Vorwärtsverteidigung« wurde dieses System euphemistisch genannt. Die Milizen in Syrien und Irak, die teilweise nach dem Vorbild der Hizbullah aufgebaut wurden, entstanden nach dem Prinzip der Mitose: Um eine fertig ausgebildete, charismatische Figur scharten sich neue Anhänger. Die Gruppen gaben sich eine eigene Identität, folgten aber rhetorisch, methodisch und ästhetisch der schiitisch-revolutionären Mustervorlage. In der Zeit des sogenannten Islamischen Staates erreichten diese Gruppen den Höhepunkt der Legitimation als angebliche Speerspitze gegen sunnitische extremistische Kräfte. Sie sorgten zugleich dafür, dass von den Nachbarstaaten Irans keine Gefahr für die Islamische Republik ausgeht und – als willkommener, aber propagandistisch wertvoller Nebeneffekt – man den Druck auf Israel erhöhen konnte.
Das System Achse des Widerstands mit seinem Premium-Partner und Brückenkopf Hizbullah im Libanon brachte allerdings Probleme mit sich, sodass auch ideologische gestählte Angehörige des Regimes nicht umhinkommen, Kosten und Nutzen aufzurechnen. Vor allem offenbarte sich insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 ein Geburtsfehler dieses Systems, oder, um im Bild der Zellteilung zu bleiben, eine Mutation, welche die Kontrolle zunehmend erschwert und sich sogar gegen die Machtinteressen der Islamischen Republik wenden könnte ....
Teil 2 folgt in der kommenden Woche. Erfahren Sie mehr in der nächsten Folge des zenith-Podcast am Freitag, dem 11. Oktober.